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PROPAGANDA/1315: Am Beispiel Gaza mediale Widersprüche entwickeln ... (SB)



Es wird sich wohl nicht mit letzter Gewißheit klären lassen, ob das für die ARD-Sendung "Anne Will" am letzten Sonntag geplante Thema des Kriegs in Gaza aus opportunistischen oder anderen Gründen kurzfristig aus dem Programm genommen und durch das Thema Freitod ersetzt wurde. Wenn bereits eingeladenen Disputanten kurzfristig abgesagt wird, obwohl sich die Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser bereits auf einer mehrtägigen und komplizierten Reise nach Deutschland befand und obwohl das an den Palästinensern im Gazastreifen verübte Massaker allen Menschen, die ihrer Umgebung nicht gänzlich ignorant gegenüberstehen, unter den Nägel brennen müßte, dann erlaubt das schon die Vermutung, daß hier politische Empfindlichkeiten eine Rolle gespielt haben, die im Falle Israels von besonders schwerwiegender Konsequenz sein können.

Was viele Bürger vermuten und der NDR dementiert, stellt den Normalfall einer Medienlandschaft dar, deren Betreiber nicht nur in dieser Hinsicht voreingenommen sind. Antikommunistische Ausfälle tragen auch noch 20 Jahre nach dem Ende der DDR zur Legitimation sozialfeindlicher Politik bei, sozialrassistische Kampagnen gegen die Verlierer der kapitalistischen Globalisierung werden von einem Großteil der Journaille bereitwillig unterstützt, und wie gleichgeschaltet die deutschen Medien im Kriegsfall sein können, war vor und während des Überfalls der NATO auf Jugoslawien zu studieren. Daß das Rezitieren neoliberaler Glaubenssätze zur Zeit nicht mehr en vogue ist, ist lediglich ihrer Widerlegung durch die Kraft des Faktischen, keineswegs jedoch der Einsicht in den irreführenden Charakter dieser gesellschaftspolitischen Doktrin geschuldet.

Das Gros der Medien, ob privatwirtschaftlich oder öffentlich-rechtlich organisiert, tanzt nach der Pfeife des Kartells aus Staat und Kapital. Wo die Verlagskonzerne ihren Anzeigenkunden und Eignern verpflichtet sind, sorgen bei ARD und ZDF die Vertreter der Parteien und anderer gesellschaftlicher Gruppen dafür, daß die Staatsräson die erste Geige spielt.

Diese ist im Falle Israels nicht erst seit dem Auftritt der Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset auf die Unterstützung des jüdischen Staats verpflichtet, und das nicht zuletzt aufgrund der Subordination der Bundesrepublik unter die globale Führungsrolle der USA. All dies stände zur Disposition, wenn mit der gebotenen demokratischen Freiheit und Offenheit über diese Form angeblicher Solidarität im Fernsehen gestritten würde. Selbst bei einer Runde wie der für den letzten Sonntag geplanten, deren Teilnehmer allesamt moderate Positionen vertreten, bestände das Risiko, daß Fragen auf den Tisch kämen, die den subalternen wie imperialistischen Charakter der deutschen Außenpolitik und die Unvereinbarkeit der dabei in Anspruch genommenen Werte mit der machtpolitischen Praxis herausstrichen.

Als übergeordnete Leitlinien des Umgangs mit dem Thema gilt für deutsche Konzern- und Staatsmedien, das Wort "Besatzung" möglichst nicht zu verwenden und, wenn man Israel nicht ohnehin attestiert, einen gerechten Krieg zu führen, die krasse Asymmetrie des konstitutiven Gewaltverhältnisses mit strikt eingehaltener Äquidistanz zu beiden Konfliktparteien zu überspielen. Anstatt den Terroranschlag auf die Bevölkerung des Gazastreifens bei diesem Namen zu nennen und von einem Krieg gegen die Palästinenser zu sprechen, muß stets hervorgehoben werden, daß Israel gegen die "radikalislamische" Hamas kämpft, die sich mit dem Bruch des Waffenstillstands, dem Insistieren auf die Zerstörung Israels und die Unterstützung durch den Iran so sehr ins Unrecht gesetzt hat, daß jedes Mittel recht ist, sie zu zerschlagen.

Wer sich herausnähme, Israel als einen Aggressor darzustellen, der sich, von "rechtszionistischen" Motiven getrieben, willkürlich über Menschen- und Völkerrecht hinwegsetzt, um die Ergebnisse seiner Besatzungspolitik unumkehrbar zu machen, der hätte als Journalist keine Zukunft und käme für Anne Will nicht in Frage. Doch selbst schlichte Fakten wie der primäre Bruch des Waffenstillstands durch Israel, die Einhaltung des Waffenstillstands durch die Hamas, lediglich unterbrochen durch einige Raketen, die ihr nicht zugeschrieben werden können, der bereits vor der Wahl im Januar 2006 von ihr eingehaltene Modus vivendi mit Israel, die Aufrechterhaltung der Blockade des Gazastreifens und die daraus resultierende Nichtverlängerung des Waffenstillstands durch die Hamas bleiben dem großen Publikum in der Bundesrepublik meist vorenthalten.

Daß die Palästinenser über das völkerrechtlich verankerte Recht verfügen, sich gegen Okkupation und Annexion zu wehren, gehört ebenso zu den Tabus deutscher Berichterstattung wie der antidemokratische Umgang, den USA und EU mit den Palästinensern pflegen, indem sie ihre Wahlentscheidung mit einem Boykott des Wahlsiegers quittiert und den Wahlverlierer bis hin zum versuchten Sturz der gewählten Regierung unterstützt haben. Völlig undenkbar wäre, daß ein Vertreter der Hamas in der ARD die Sicht der Angegriffenen erläuterte. Was eine so renommierte Tageszeitung wie der britische Guardian bei aller Vorsicht im Umgang mit Israel zuläßt, ist für deutsche Medien trotz ihres Grundsatzes auf diskriminierungsfreie und ausgeglichene Berichterstattung tabu.

Ständig wird behauptet, der Krieg richte sich gegen die Hamas und nicht die Bevölkerung, zu der die Mitglieder dieser Organisation im übrigen gehören. Gleichzeitig wird dem Feind Israels die Stimme genommen, so daß seine Vernichtung nach Art der Schädlingsbekämpfung erfolgen kann. Indem man sich der Sprachregelung Israels anschließt, bei der Hamas und alle mit ihr kooperierenden Palästinenser handle es sich um Terroristen, erklärt man die Angegriffenen de facto zu Unpersonen, die, wie im Terrorkrieg üblich, durch keine völkerrechtliche Konvention geschützt sind. Während Israel sich nur verteidigt, begeht die Hamas von Haß und Vernichtungsabsichten getriebene Anschläge auf die israelische Bevölkerung - diese irreführende Lesart klammert das Elend der Palästinenser in seiner historischen und juridischen Dimension aus, als ob es sich nicht um Menschen handelte.

Wenn diese und andere Widersprüche in einer demokratisch ausgewogenen Runde auf den Tisch kämen, dann droht mehr ins Rutschen zu kommen als die übliche Propagandaschlagseite. So käme eine grundsätzliche Diskussion zu diesem Thema nicht an der Frage vorbei, wie sich die aus der Judenvernichtung durch den NS-Staat hervorgehende Verpflichtung mit dem Eintreten für eine Regierung verträgt, die die nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs gefaßten Grundsätze des Menschen- und Völkerrechts mit den Füßen tritt. Hätte die gegen Krieg und Besatzungspolitik protestierende Opposition innerhalb Israels nicht viel mehr Unterstützung seitens der Bundesrepublik verdient als die den globalhegemonialen Plänen Washingtons verpflichtete Regierung? Inwiefern lassen sich die bündnispolitischen Leitlinien der Bundesregierung mit dem Gründungskonsens der BRD wie DDR verbinden, dem Faschismus niemals wieder einen Fußbreit Raum zu geben?

Wenn aus dem Konglomerat dieser Fragen einmal ein Faden hervorsteht und an ihm gezogen wird, dann könnte sich das ganze Knäuel lösen und die Forderung nach einem außenpolitischen Paradigmenwechsel laut werden lassen. Aus diesem Grund werden relevante politische Fragen in der Bundesrepublik mit autoritären und doktrinären Mitteln in Wahrheiten transformiert, die jedes ergebnisoffene Fragen unterbinden. Das Beispiel Gaza eignet sich besonders gut dafür, dieses Klima der dogmatischen Voreingenommenheit zu analysieren, weil die dabei an die Oberfläche tretenden Unvereinbarkeiten von besonders eklatanter Art sind. Dies kann man zum Anlaß nehmen, sich von der systematischen Verblendung freizumachen und mit der Formierung einer Gegenöffentlichkeit die Belastbarkeit der systemischen Grenzen auszuforschen.

16. Januar 2009