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PROPAGANDA/1336: DDR-Bürger mit dem Grundgesetz versöhnen ... (SB)



Man war sich einig, daran änderten auch kritische Zwischentöne zum Stand der Bürgerrechte oder der sozialen Lage vieler Bundesbürger nichts. Das Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte, um die die Deutschen von der Welt beneidet werden. Dieser Tenor durchzog die Debatte zum 60-jährigen Jubiläum dieses konstitutiven Akts im Bundestag, und er setzte sich in den Pressestimmen zu dieser Aussprache fort. Vor allem jedoch, und das verleiht dieser Feierstunde ihre besondere Note, hat sich das Grundgesetz so sehr bei der Abwehr des Kommunismus bewährt, daß man es beim Beitritt der DDR zu seinem Gültigkeitsbereich nicht, wie im Text vorgesehen, von einem Provisorium in eine reguläre Verfassung verwandeln wollte. Das hätte die zumindest partielle Anerkennung eigenständiger Errungenschaften eines Staates bedeutet, der fortan als "Unrechtsstaat" dafür sorgen sollte, daß der Abbau bürgerlicher Freiheiten und sozialer Privilegien vor dem Hintergrund des schlechthin Verwerflichen freiheitlich moderiert und rechtsstaatlich relativiert werden konnte.

Daß man sich heute auch in den Regierungsparteien bemüht, die Lebensleistung der DDR-Bürger nicht mehr als unkompensierbaren biografischen Verlust niederzumachen, sondern zwischen persönlicher Lebenswirklichkeit und ideologischem Überbau zu unterscheiden, ist dem Niedergang ihrer Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik geschuldet. Die um sich greifende Enttäuschung über die falschen Erwartungen, mit denen man den Verheißungen der bunten Warenwelt und der liberalen Freiheiten erlegen ist, soll nicht durch weitere Schmähungen, wie sie DDR-Bürger jahrelang erdulden mußten, bis zum Zorn auf diesen Staat geschürt werden. Dies war auch die Absicht des SPD-Chefs Franz Müntefering, als er nun, da die Option, mit einem anderen Sozialismus an das Vermächtnis der DDR anzuknüpfen, in der zeitlichen Distanz zweier Jahrzehnte Wiedervereinigung verschwunden ist, daran erinnerte, daß man es damals versäumt hätte, eine gemeinsame Verfassung zu beraten.

Tatsächlich hätte es dazu allen Anlaß gegeben, wie die seitdem erfolgte Entwicklung der Bundesrepublik zu einem Staat zeigt, der sich an imperialistischen Kriegen beteiligt, der seine Erwerbslosen entrechtet und der die Ausbildung streitbaren Klassenbewußtsein mit der Atomisierung der flexibilisierten und prekären Jobkultur verhindert. Eine Verfassungsdebatte zum damaligen Zeitpunkt hätte bedeutet, sich den Forderungen einer Linken zu stellen, die in ihren Zielen noch nicht so bescheiden war, weniger als die Abschaffung des Kapitalismus zu verlangen. Zur Disposition gestanden hätte die Mitgliedschaft der neuen Republik im Kriegsbündnis der NATO sowie ihre Integration in eine Europäische Union, deren neoliberale Ausrichtung mit dem Ende des Systemwettkampfs einen erheblichen Schub erfuhr und deren demokratische Entwicklung auch ohne einen sich 1990 erstmals formierenden verfassungsgebenden Volkssouverän auskommt. Schließlich hätte eine Grundsatzdebatte über die gesellschaftliche Zukunft auch dann, wenn sie nicht in eine sozialistische Republik gemündet wäre, der seitdem praktizierten Geschichtspolitik die Spitze und der Legitimation kapitalistischer Herrschaft einen wesentlichen Aktivposten genommen.

Also befleißigt man sich heute eines weniger verletzenden Tonfalls gegenüber der schwindenden Zahl von Menschen, die einen Teil ihres erwachsenen Lebens in der DDR verbracht haben. Man schmeichelt ihnen lieber damit, daß sie sich schließlich aus eigener Kraft vom unterdrückerischen SED-Regime befreit hätten, als wäre das Scheitern realsozialistischer Vergesellschaftung nicht wesentlich auf die Strategien des sogenannten Kalten Krieges zurückzuführen gewesen. In dieser Sicht der Dinge wird staatliche Gewalt stets ideologisch begründet, um ökonomische Gewalt keinesfalls auf den Begriff ihrer staatlichen Ermächtigung zu bringen. Indem fein säuberlich zwischen Mensch und System unterschieden wird, suggeriert man auch der alten BRD-Bevölkerung, daß der ihnen verordnete Liberalismus keine Ideologie, sondern der gesellschaftliche Naturzustand sei. Daß dieser in sozialdarwinistischen Praktiken Urständ feiert, mit denen der Mensch auf den Leisten seiner Verwertbarkeit geschlagen wird, soll als Errungenschaft einer sozialen Marktwirtschaft begriffen werden, deren Freiheiten überall dort, wo ihre Einforderung repressive Verhältnisse aufheben könnte, die Gestalt von Sachzwängen annehmen.

15. Mai 2009