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PROPAGANDA/1403: Palästina-Solidarität als Erlebnistourismus für gelangweilte Jugendliche? (SB)



Als eine Art Abenteuertourismus stellt Zeit Online das Engagement jugendlicher Aktivistinnen und Aktivisten des International Solidarity Movement (ISM) für die Sache der Palästinenser dar. "Mal ein bisschen Krieg mitmachen" [1] lautet die Überschrift eines Artikels von Viktoria Kleber vom 1. Juli, als ob es eine launige Spielerei sei, sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen. "Internationale Palästina-Aktivisten verbringen ihren Urlaub gern im Westjordanland - um Teil des Nahostkonflikts zu werden. Doch den Palästinensern hilft das nicht immer" - der fett gesetzte Vorspann des Artikels entwirft das Bild erlebnishungriger Jugendlicher aus der sicheren Komfortzone westlicher Gesellschaften, die im Urlaub einmal nicht zur Techno-Sause nach Thailand, sondern zur antiisraelischen Provokation ins Westjordanland reisen.

Wer sich ein wenig mit der Arbeit dieser vom großen Strom linker sozialer Bewegungen aus ideologischen Gründen nur bedingt unterstützten Organisation befaßt hat, kann den Auftakt des Artikels nur als bösartigen Versuch verstehen, politisches Engagement für die Sache unterdrückter Menschen zu diskreditieren. Wird an anderer Stelle gerne über die selbstbezogene und apolitische Haltung der Jugend lamentiert, geht es den Bedenkenträgern schnell zu weit, wenn junge Menschen mit entschiedenem Einsatz einem offenkundigen Mißstand entgegentreten. Allein die Parteilichkeit, die ISM-Aktivistinnen und -Aktivisten damit bekunden, sich in lebensgefährliche Situationen zu bringen, um etwa das Niederreißen palästinensischer Häuser oder Olivenbäume zu verhindern, scheint den pluralistischen Konsens, daß der Bürger sich über weitgehend folgenlose Meinungsbildung hinaus nicht in die Angelegenheiten der Herrschenden einzumischen hat, zu brechen.

Als Kronzeuge für die These eines evasiven, aus Langeweile geborenen Erlebnisaktivismus bietet die Zeit-Autorin mit Professor Meir Litvak einen Experten für arabischen Antisemitismus vom Moshe Dayan Center for Middle Eastern and African Studies an der Universität Tel Aviv auf. Seiner Ansicht nach kommen die ISM-Aktivistinnen und -Aktivisten "auch um ein bisschen Krieg zu spielen". Es sei "ein großer Konflikt, den man hautnah erleben kann, ohne dabei in Gefahr zu sein". Litvaks Behauptung, im Westjordanland könne man als Ausländer Weltpolitik im Unterschied zu Darfur oder dem Irak, wo man sich in Lebensgefahr begebe, so sicher wie in einem Erlebnispark anfassen, stimmt keineswegs. Schon die Beschränkung der von Litvak attestierten Unbedenklichkeit auf Ausländer sollte den Leser stutzig machen, drückt er damit doch aus, daß palästinensische ISM-Aktivistinnen und -Aktivisten unterschiedslos zu ihren Mitbürgern aufgrund der Kultur der Straflosigkeit, die in den israelischen Streitkräften bei Angriffen auf palästinensische Zivilisten vorherrscht, sehr stark gefährdet sind, wenn sie dem Interesse der Besatzungsmacht zuwiderhandeln.

Allerdings wurden auch Bürgerinnnen und Bürger europäischer und nordamerikanischer Staaten bei diesem angeblich risikolosen Nervenkitzel verletzt oder verloren ihr Leben. Gerade weil ihre Solidaritätsarbeit zum Teil darin besteht, Palästinenser mit ihrer Anwesenheit vor Übergriffen zu schützen, weil sie als Ausländer zumindest theoretisch von ihren jeweiligen Regierungen gedeckt und daher nicht so leicht zum Ziel tödlicher Angriffe werden, stellen sie für die Besatzer ein besonderes Ärgernis dar. Es liegt durchaus nahe, daß hin und wieder ein abschreckendes Exempel statuiert oder zumindest billigend in Kauf genommen wird, um den Zustrom der Palästina-Solidarität zu begrenzen.

So wurde ISM-Aktivist Tom Hurndall am 11. April 2003 von der Kugel eines israelischen Soldaten in den Kopf getroffen. Er hatte im Flüchtlingslager Rafah, wo kurz zuvor die US-amerikanische ISM-Aktivistin Rachel Corrie von einem israelischen Bulldozer überrollt worden war, was keinerlei strafrechtliche Konsequenzen nach sich zog, obwohl alle umstehenden Personen bezeugten, daß dies mit Absicht geschah, drei Kinder in Sicherheit gebracht, die durch das von einem israelischen Wachturm kommende Gewehrfeuer bedroht waren. Obwohl Hurndall wie alle ISM-Aktivisten an seiner orangeroten Jacke eindeutig als internationaler Helfer zu erkennen war und keine Waffe trug, wurde er mit einem Kopfschuß niedergestreckt. Zuvor hatte das ISM die Botschaften ihrer Mitglieder darüber informiert, daß sich Bürger ihres Landes in diesem Teil Rafahs zu diesem Zeitpunkt im Einsatz befänden, was diese an das israelische Militär weitergeleitet hatten. Seit diesem Tag lag Tom Hurndall im Koma, am 13. Januar 2004 erlag er den Folgen der Schußverletzung.

In diesem Fall gelang es aufgrund hartnäckiger Bemühungen der Eltern des Opfers, eine Bestrafung des Täters zu erwirken. Das erforderte allerdings den Einsatz der ganzen Familie. So bewirkten mehrere Wochen privater Ermittlungsarbeit im Gazastreifen durch Toms Vater, den Anwalt Anthony Hurndall, sowie das intensive Nachhaken beim britischen Außenministerium, das sich nur widerwillig in die Angelegenheit einschaltete, durch die Mutter Toms, Jocelyn Hurndall, und seine Geschwister, daß der Schütze verhaftet wurde. Er hatte behauptet, Hurndall habe eine Waffe getragen, was durch einen zweiten Soldaten bestätigt worden war. Ohne die intensiven Nachforschungen der Eltern wäre es niemals dazu gekommen, daß diese und andere Lügen, die von den israelischen Streitkräften lange Zeit mit Nachdruck als wahrheitsgemäße Aussagen dargestellt wurden, widerlegt worden wären.

Einem offenen Brief, den Jocelyn Hurndall an den damaligen britischen Premierminister Tony Blair schickte und der am 20. Oktober 2004 in der Tageszeitung The Guardian veröffentlicht wurde, ist zu entnehmen, daß die britische Staatsangehörigkeit keinesfalls ein Schutz ist, auf den sich die Bürger der ehemaligen Mandatsmacht für Palästina verlassen können:

"(...) Nach unserem siebenwöchigen traumatischen Aufenthalt in Israel, bei dem wir unseren Sohn am Rande des Todes erlebten, stellten wir dem israelischen Generalstaatsanwalt über das britische Außenministerium einen Bericht zu und verlangten eine vollkommen transparente Untersuchung von ihm. Wir fügten 13 Erklärungen von Augenzeugen und beträchtliches fotografisches Beweismaterial bei, das Tom kurz vor und nach dem Zeitpunkt zeigt, zu dem er erschossen wurde. Es ist nun sechs Monate her, seit Tom erschossen wurde, und dreieinhalb Monate, seit sein Fall dem israelischen Generalstaatsanwalt vorgelegt wurde. Dennoch haben wir bisher nichts als eine Sammlung unausprechlich hohler Entschuldigungen vernommen. (...)

Wir wissen um die Dringlichkeit, mit der Britannien sich für den mit britischem Paß versehenen Selbstmordattentäter entschuldigt und ihn verurteilt hat; wir haben auch das Tempo zur Kenntnis genommen, mit dem Amerika FBI-Agenten in Reaktion auf den Anschlag vor einer Woche, bei dem drei amerikanische Sicherheitsbeamte am Checkpoint Erez ums Leben kamen, in den Gazastreifen entsandt hat. In Toms Fall wie in dem Rachel Corries und anderer hat es nicht die geringste Dringlichkeit gegeben, dennoch ist die Gewährleistung dessen, daß Beweismaterial sorgfältig gesammelt und begutachtet wird, sicherlich nicht weniger notwendig und dringend.

Warum sollte es Sache der trauernden Eltern sein, Interviews mit den 13 Augenzeugen des Beschusses zu arrangieren oder fotografisches, ballistisches, forensisches und medizinisches Beweismaterial zu sammeln? Die britische Regierung hätte beim Sammeln und Schützen der Beweise proaktiv vorgehen müssen. Aber während sie die Sache schleifen ließ, riß die israelische Armee den Turm ab, von dem aus Tom erschossen wurde, um ihn einige Meter weiter die Grenze hinunter wieder aufzubauen. Dies allein macht es beinahe unmöglich, die Behauptung in Frage zu stellen, der Scharfschütze, der Tom erschossen hat, habe keine klare Sicht auf ihn gehabt. Nach sechs Monaten haben sich die Augenzeugen zerstreut, und einige mußten sogar hinnehmen, zu Unrecht verhaftet und abgeschoben zu werden.

Die Tragödie, die Tom und unsere Familie heimgesucht hat, ist ein Mikrokosmos des viel umfassenderen Terrors, den tausende anderer Familien in den besetzten Gebieten erfahren. Ich bin in einem Zustand unaussprechlicher Verzweiflung nach dem Verlust eines Sohnes. Aber ich habe ein regelmäßiges Einkommen, Nahrung, fließendes Wasser, Elektrizität, ein heiles Dach über dem Kopf, Zugang zu einem Krankenhaus; ich bin mir bewußt, daß es unwahrscheinlich ist, daß meine Kinder auf ihrem Schulweg von Gewehrfeuer bedroht werden und daß mein Schlaf durch Schießereien oder das Geräusch von Panzern gestört wird. Ich führe ein gutes Leben.

Letzte Woche wurden bei dem Einfall der israelischen Armee nach Rafah - der größte seit dem Beginn der Intifada vor drei Jahren - 120 Häuser zerstört, 1500 Zivilisten obdachlos, acht getötet und 60 verletzt. Anschließend erhielt ich eine E-Mail von Anees, einem der Freund Toms in der Stadt, in der er mir berichtete, daß sein Haus zerstört wurde. Er und 26 Mitglieder seiner großen Familie wurden obdachlos und haben große Angst, weil die israelische Armee jeden Augenblick zurückkehren kann.

Es war dieser junge Mann, der Tom voller Schmerz vom Boden aufhob, nachdem er erschossen wurde. Warum vertritt Tony Blair nicht die Interessen seiner Bürger und übt unmißverständlichen Druck auf Ariel Sharon aus, um eine vollständige und transparente Untersuchung des Todes Toms zu veranlassen? Höfliche Anfragen bewirken nichts. Und warum stellt er nicht Herrn Bushs Unterstützung Israels, ein Regime von nach menschlichem Ermessen unfassbarer Grausamkeit, in Frage? Ich habe es selbst gesehen: Das Niederreißen von Häusern, die Zerstörung von Olivenhainen, der immer mehr um sich greifende Zustand, den Menschen die Möglichkeit vorzuenthalten, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, das Schließen von Checkpoints, die Zerstörung der Versorgung mit Wasser und Elektrizität, mit tödlicher Gewalt durchgesetzte Ausgangssperren, Erniedrigung, Terror. Kurz gesagt, die Entmenschlichung eines Volkes. (...)

Ich muß mich einfach an Herrn Blairs Begründung erinnern, als er sich entschloß, Krieg gegen den Irak zu führen. Er wollte nicht wegen Untätigkeit angeklagt werden oder in Kauf nehmen, daß dies zu einem späteren Zeitpunkt auf seinem Gewissen laste. Wo befindet sich sein Gewissen nun hinsichtlich der Untätigkeit Britanniens im Falle Palästinas?" [2]
(Übersetzung aus dem Englischen: Schattenblick)

Was weiß Zeit Online, das als elektronischer Ableger der renommierten Wochenzeitung Die Zeit über ein erstklassiges journalistisches Renommee verfügt, überhaupt über die Arbeit des International Solidarity Movement? Kann eine Journalistin wie Viktoria Kleber ermessen, daß es für Palästinenser fast unmöglich ist, vor einem israelischen Gericht gegen die Zerstörung ihres Hauses oder die Tötung von Angehörigen erfolgreich zu klagen, wenn es schon für einen britischen Anwalt mit Unterstützung seiner Regierung so schwierig ist? Wie mag sich ein derart entrechteter, militärischer Gewalt ohnmächtig gegenüberstehender Mensch fühlen, wenn Jugendliche, denen alle Möglichkeiten eines angenehmen Lebens offenstehen, sich tatkräftig mit ihm solidarisieren?

Fragen wie diese sollen ein Publikum, das den Nahostkonflikt vor allem im ideologischen Schützengraben rezipiert, nicht aus der Deckung locken. Im deutschen Sprachraum wurde wenig über den Tod Rachel Corries und Tom Hurndalls sowie die politischen Nachwirkungen dieser beiden alles andere als versehentlich erfolgten Todesfälle berichtet. Nur vor dem Hintergrund ohnehin dürftiger Informiertheit kann eine große Publikation den Eindruck erwecken, daß Jugendliche, die das Unrecht in der Welt nicht tatenlos hinnehmen wollen, nichts anderes als verzogene Partykids seien, die, um einmal etwas anderes als das Wohlleben der Jeunesse dorée am Strand Tel Avivs zu erleben, die größere Dosis Adrenalin im Infight mit israelischen Soldaten suchen. Das Eintreten für so offenkundige Verlierer wie die Palästinenser erfreut sich keineswegs des Rufs, besonders schick oder cool zu sein. Das gilt eher für die jugendliche Israel-Begeisterung, deren Sachwalter schon äußerlich als eher in den oberen Etagen der Gesellschaft beheimatet zu erkennen sind.

Wäre es anders, dann müßten die Farben und Symbole der Palästinenser in den schicken Clubs und Restaurants von Hollywood bis Ibiza mindestens so häufig wie die der Tibeter anzutreffen sein. Ganz offensichtlich halten es die Celebrities gerade nicht für eine gute Idee, sich mit dem Radical Chic der Fatah oder Hamas zu schmücken. Die Zeiten, in denen man als Black Panther auf den Parties der Kunst- und Kulturelite New Yorks herumgereicht wurde, sind seit 40 Jahren vorüber. Wer das streitbare Eintreten für die Sache der Palästinenser als für Jugendliche aus anderen als politisch-moralischen Gründen attraktive Angelegenheit versteht, muß schon recht ignorant sein. Diesen Eindruck vor dem Hintergrund des für neun Aktivisten tödlich verlaufenden Angriffs auf die Free Gaza-Flottille zu erwecken läßt vermuten, daß mit allen Kräften gegengesteuert werden soll.

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-07/Nahost-Aktivisten?page=all&print=true

[2]http://www.guardian.co.uk/politics/2003/oct/20/foreignpolicy.world

Siehe auch die Stellungnahme des International Solidarity Movement (ISM) in der heutigen Ausgabe des Schattenblick.

7. Juli 2010