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PROPAGANDA/1442: Peitsche satt, doch wenig Zuckerbrot - Hiobsbotschaften zum Jahreswechsel (SB)



Entgegen aller Gepflogenheit, den Bürgern zum neuen Jahr mit rosigen Perspektiven den Sinn zu vernebeln, um sie in fortgesetzter Umnachtung desto reibungsloser über den Tisch zu ziehen, spart die politische Führung diesmal nicht mit düsteren Prognosen. Das Tal der Tränen werde 2012 noch tiefer werden, und es erfolgreich zu durchqueren verlange beispiellose Opfer, die den letztendlichen Triumph um so süßer und nachhaltiger machten. Daß die Leidtragenden dieses Prozesses forcierter Ausbeutung und Zurichtung nicht identisch mit den Profiteuren der bis an ihre Grenzen getriebenen kapitalistischen Verwertung sein können, liegt auf der Hand. Wie also die Getretenen dazu anspornen, den Stiefel in ihrem Genick nicht nur klaglos zu dulden, sondern als einzig vorstellbare Rettung anzubeten? Die Antwort kennt jeder, dem die Konkurrenz in Fleisch und Blut übergegangen ist: Der eigene Vorteil definiert sich über den Schaden des andern, den zu betreiben und im substanzlosen Hochgefühl eigener Überlegenheit abzufeiern zur Ultima ratio des beherrschten Menschen gerinnt. So beschwören die Regierungschefs in ihren Neujahrsansprachen den Konsens fiktiver Gemeinsamkeit, wohl wissend, daß die Sortierung nach vermeintlichen Siegern und Verlierern bei den Bürgern in besten Händen ist.

US-Präsident Barack Obama kündigte seinen Landsleuten in der letzten wöchentlichen Radioansprache des abgelaufenen Jahres "einige schwierige Debatten und einige harte Kämpfe" an. "In vielerlei Hinsicht werden die Schritte der nächsten Monate mitbestimmen, welche Art Land wir sein wollen", betonte er. Die USA befänden sich an einem entscheidenden Punkt für das Schicksal der Mittelschicht. Es gebe "keinen Zweifel", daß 2012 noch mehr an Veränderungen mit sich bringen werde als das zu Ende gehende Jahr. 2011 sei ein Jahr "großer Herausforderungen und großer Fortschritte" gewesen. Seine Regierung habe den Irakkrieg beendet und sei dabei, den Waffengang in Afghanistan ebenfalls zum Abschluß zu bringen. Mit dem Tod Osama bin Ladens sei Al Kaida ein "lähmender Schlag" versetzt worden. Es gebe Anzeichen des Wirtschaftsaufschwungs, obwohl viel zu viele Amerikaner weiterhin unter der Lage zu leiden hätten. [1]

Was Obama euphemistisch als "harte Kämpfe" umschreibt, signalisiert außenpolitisch den keineswegs aus dem imperialistischen Würgegriff entlassenen Irakern und Afghanen fortgesetzte Drangsalierung dauerhafter US-Präsenz in dieser Weltregion. Darüber hinaus drohen diese Worte insbesondere dem Iran und Syrien über kriegsvorbereitende Sanktionen hinaus den gewaltsamen Sturz der Regierungen und die Installierung eines prowestlichen Marionettenregimes an. Nicht zu vergessen der asiatisch-pazifische Raum, der nach modifizierter Doktrin zum künftigen Schwerpunkt US-amerikanischen Hegemonialstrebens erklärt worden ist, um die Einkreisung Chinas voranzutreiben.

Welche Art Land zu sein sich die Amerikaner wünschen rekurriert innenpolitisch auf die Einvernahme der durch massenhaften sozialen Abstieg heimgesuchten Mittelschicht, der Obama keineswegs Rettung durch ein staatlicherseits garantiertes Ende der Verelendung in Aussicht stellt. Ganz im Gegenteil sieht er für sie Veränderungen vor, die weit über die in der Vergangenheit erlittenen Einbußen hinausgehen, und konfrontiert sie im Wahljahr mit dem Dilemma, zwischen Szylla und Charybdis in Gestalt der beiden großen politischen Lager unterzugehen.

Daß Ministerpräsident Lucas Papademos den Griechen zum Jahreswechsel Hoffnung auf Besserung vorgaukeln könnte, hatte niemand erwartet. Seine Botschaft läßt sich mit der unverhohlenen Drohung zusammenfassen, daß sie alles verlören, folgten sie nicht widerstandslos dem unter seiner sozialtechnokratischen Mediation höherer Zugriffsinteressen verordneten Zwangsdiktat, ihr letztes Hemd für die Besitzstandswahrung nationaler und europäischer Führungszirkel preiszugeben. Seine Landsleute müßten sich auf ein "sehr schwieriges Jahr" einstellen. Nur mit "Solidarität und Entschlossenheit" könne das erhalten bleiben, was die Griechen in den vergangenen Jahrzehnten erreicht hätten, erklärte Papademos in seiner Neujahrsansprache.

Alle Bemühungen seien fortzusetzen, damit die Krise nicht zu einer "unkontrollierbaren katastrophalen Zahlungsunfähigkeit" führe. "Die nächsten drei Monate werden kritisch sein und den Kurs Griechenlands in den nächsten Jahrzehnten definieren." Der Staat müsse saniert, seine Wirtschaft auf gesunden Fundamenten aufgebaut und wieder konkurrenzfähig werden. "Wir erleben die schlimmste internationale und einheimische Krise der Nachkriegszeit. Wir können sie überwinden. Es gibt aber keine Wunderlösungen. Wir müssen wieder an uns glauben", befahl Papademos den Griechen, jedem Aufbegehren zu entsagen und mit der Staatsführung zu kooperieren. [2]

Widerstand sei zwecklos, lauert doch im Versagensfall die nächste Militärdiktatur einheimischer oder gesamteuropäischer Provenienz zur Unterwerfung der rebellischen Griechen. Natürlich spricht Papademos nicht vom längst herrschenden Elendsregime, wenn er Zahlungsunfähigkeit im Munde führt, wie sie für Millionen Menschen längst bitterste Realität geworden ist. Er will die Statthalterschaft und Handlangerdienste nationaler Eliten fortschreiben, indem diese das Geschäft ausländischer Dienstherren zufriedenstellend betreiben.

Auf seinen Schultern sitzt insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel, die den Deutschen in ihrer Neujahrsansprache etwas mehr zu bieten hat als er den Griechen. "Deutschland geht es gut, auch wenn das nächste Jahr ohne Zweifel schwieriger wird als dieses", kontrastiert sie weitere Nackenschläge für die Bundesbürger mit der vagen Hoffnung, daß es anderen noch viel dreckiger gehen möge. Die gute Lage am Arbeitsmarkt gestatte Zuversicht für die kommenden Herausforderungen, und wenngleich der Weg aus der Schuldenkrise lang und nicht ohne Rückschläge bleiben werde, setze sie alles daran, den Euro mit langem Atem zu stärken, denn am Ende dieses Weges werde "Europa stärker aus der Krise hervorgehen, als es in sie hineingegangen ist". Zehn Jahre nach Einführung des Euro machten sich viele Bürger Sorgen um die Sicherheit der Gemeinschaftswährung, doch diese habe sich bewährt. Der Euro habe den Alltag einfacher und die Wirtschaft stärker gemacht und in der Finanz- und Konjunkturkrise 2008 Schlimmeres verhindert. Um die Währung abzusichern, müßten jedoch die Lehren aus Fehlern der Vergangenheit gezogen werden. Dazu gehöre, in Europa mehr als bisher zusammenzuarbeiten. [3]

Enger zusammenarbeiten heißt für die ökonomischen und sozialpolitischen Opfer kerneuropäischen Produktivitätsvorsprungs, sich den Maßgaben der Führungsmächte und der Brüsseler Administration fortan unter Preisgabe verbliebener Restbestände nationaler Eigenständigkeit zu unterwerfen. Trotz aller Mühen dürfe man dabei nie vergessen, "dass die friedliche Vereinigung unseres Kontinents das historische Geschenk für uns ist", so die Kanzlerin. Daß Europa über ein halbes Jahrhundert Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte und Demokratie gebracht habe, "können wir auch in unserer Zeit gar nicht hoch genug schätzen". Daß es den Mächten Europas gelungen ist, die nationalstaatliche Konkurrenz samt den daraus resultierenden beiden Weltkriegen insofern zu überwinden, als sich ihre neoimperialistische Expansion in partiellem Gleichschritt auf der höheren Ebene gemeinschaftlicher Verfügung entfaltet, füllt die Mägen der Europäer und läßt ihre Brust in demokratischem Stolz schwellen. Elend, Ausbeutung und Vernichtung sind dadurch in anderen Weltregionen nicht geringer geworden - im Gegenteil, was ja auch Zweck der Übung war.

Allerdings tritt auch innerhalb Europas das Gefälle von Macht und Wohlstand immer krasser zu Tage, so daß kaum noch zu kaschieren ist, daß das europäische Projekt nicht nur verstärkter Einflußnahme nach außen, sondern zugleich der ungehinderten Ausbeutung zu Lasten der schwächeren Mitgliedsstaaten dient. Wenn die Kanzlerin zum Jahreswechsel die Gemeinsamkeit der Deutschen unter Anleihe bei Heinrich Heine mit dem Zitat "Deutschland, das sind wir selber" beschwört, macht sie die ewige Rechnung des Teilens und Herrschens auf, die mit der Nähe zu den Fleischtöpfen lockt und zum Treten gegen die Hungerleider auffordert. Der real existierenden bundesdeutschen Klassengesellschaft mit ihrer unüberbrückbaren sozialen Kluft wider besseren Wissens einer rapide wachsenden Zahl verarmter Bürger das "wir Deutsche" entgegenzuhalten, ergänzt die systemische Produktion von Armut um das fiktive Versprechen, die Nähe zum größten Räuber garantiere Partizipation an der Beute. Wohl trifft es zu, daß die Wahrscheinlichkeit des Hunger- und Kriegstods mit zunehmendem Abstand von den Metropolengesellschaften überproportional wächst, doch heißt das mitnichten im Umkehrschluß, daß in Deutschland ein menschenwürdiges Leben für alle vorgesehen sei.

Fußnoten:

[1] http://www.n-tv.de/politik/Obama-erwartet-harte-Kaempfe-article5108636.html

[2] http://www.news.at/articles/1152/12/315512/duestere-prognose-harte-kaempfe-2012

[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/neujahrsansprache-angela-merkel-erwartet-schwierigeres-jahr-11586621.html

1. Januar 2012