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PROPAGANDA/1471: Befreiung vom Faschismus? Da war doch was ... (SB)




Werden die Feiern in Moskau zum Jahrestag des Sieges der Roten Armee über Nazideutschland überhaupt wahrgenommen, dann keinesfalls so, daß die Gründe für diese Tradition Erwähnung fänden. Der Bericht des Deutschlandradios [1] zur "Waffenschau auf dem Roten Platz" am 9. Mai strotzt vor Ressentiments gegenüber der politischen Führung desjenigen Landes, das die mit Abstand größte Wucht des deutschen Versuchs erlitten hat, Europa der eigenen Herrschaft und Ideologie zu unterwerfen. Formal korrekt unter Inanspruchnahme oppositioneller Stimmen wird moniert, daß ein stilles Gedenken in Anbetracht der großen Opfer, die dieser Krieg gefordert hat, wohl angemessener wäre, daß die während oder nach dem Krieg begangenen Verbrechen sowjetischer Soldaten nicht aufgearbeitet würden, daß Präsident Putin das Gedenken für seine Zwecke instrumentalisiert und daß die Bedeutung der Sowjetunion bei der Befreiung vom Faschismus womöglich übertrieben werde. Was bleibe, sei der fade Geschmack einer pompösen und rituellen Inszenierung, die vor allem deshalb bei der Mehrheit der russischen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fiele, weil sie auf einen von Putin inszenierten Nationalismus hereinfalle.

Tatsächlich sind symbolpolitische Rituale desto unentbehrlicher, als die konkreten gesellschaftlichen Widerspruchslagen immer unerträglicher werden. Das gilt allerdings für alle Herrschaftssysteme, auch die sogenannten demokratischen. Was hierzulande am 20. Juli oder 3. Oktober an militaristischem Pathos entfacht wird, ist weit entfernt von einer Politik, die die eigene Vergangenheit als Aggressor angemessen in Rechnung stellt. Was die sowjetische Bevölkerung unter Wehrmacht und SS zu erleiden hatte, ist auch heute noch so unbeschreiblich wie die Zahl von 24 bis 40 Millionen Kriegsopfern allein in diesem von Hitler zur "Ostkolonisation" auserkorenen Land. Tausende von Dörfern und Städten wurden bis auf die Grundmauern zerstört, man plante und vollzog systematische Kampagnen zur Aushungerung ganzer Bevölkerungen und ermordete im antibolschewistischen Furor jeden, der verdächtigt wurde, Mitglied der Kommunistischen Partei zu sein. Die von Hitler verlangte "Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz" ist im übrigen ein Kapitel der mit Eigenlob überhäuften deutschen Vergangenheitsbewältigung, das nicht zuletzt deshalb den Status einer Fußnote hat, weil die Unterdrückung der sozialen Revolution nach wie vor das zentrale Programm der kapitalistischen Gesellschaft ist.

Der Partisanenwiderstand wurde mit Kollektivhinrichtungen quittiert, bei denen ganze Dörfer ausgelöscht wurden. Die Vernichtung der sowjetischen Juden wurde desto zielgerichteter betrieben, als der "jüdische Bolschewismus" ein sowohl rassistisch wie ideologisch bestimmtes Feindbild war, bei dem der SS-Mann und Soldat kaum etwas falsch machen konnte. Die im "Generalplan Ost" vorgesehene Dezimierung der slawischen Bevölkerung der Sowjetunion um 30 Millionen Menschen belegt eine Ausrottungsstrategie, die der Vernichtung der europäischen Juden in ihrer Grausamkeit in nichts nachsteht, nur daß sie nicht in eigens dafür eingerichteten Lagern stattfand, sondern durch gezielt herbeigeführten Mangel und Massenmorde im Rahmen des Krieges erfolgte. Der rassistische Antislawismus suchte im Stigma des asiatischen Untermenschentums die Legitimation eines Herrenmenschentums, dessen menschenfeindliche Wirksamkeit mit Paul Celans Wort vom Tod als "Meister aus Deutschland" angemessen beschrieben wurde. Die nach Deutschland transportierten Kriegsgefangenen der Roten Armee starben, wenn sie nicht verhungerten, massenhaft an Ausbeutung durch Zwangsarbeit. Zwischen 2,5 und 3,3 Millionen in deutscher Gefangenschaft gestorbene sowjetische Soldaten machen diese zur zweitgrößten Opfergruppe des NS-Staates nach den europäischen Juden. Trotzdem gingen sie bei der Wiedergutmachung der Zwangsarbeiter leer aus - rund 20.000 noch lebende sowjetische Kriegsgefangene stellten seit dem Jahr 2000 Anträge auf Kompensation für ihre Zwangsdienste in der deutschen Kriegswirtschaft und wurden von der Bundesregierung darauf verwiesen, daß Kriegsgefangenschaft keine Leistungsberechtigung begründe [2]. Damit stützt sich die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" auf ein Kriegsvölkerrecht, das die NS-Führung schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion erklärtermaßen außer Kraft setzte.

Diese nur schlaglichtartigen Blicke auf die Katastrophe, die Wehrmacht und SS über die Sowjetunion gebracht haben, lassen ahnen, warum am 9. Mai, an dem in Rußland das Ende des Zweiten Weltkriegs begangen wird, dort ganz andere Motive wirksam werden, als es eine auf die bloße Instrumentalisierung dieses Tages durch die russische Regierung reduzierte Sicht nahelegt. Daß der 8. Mai, auf den das offizielle Kriegsende in Deutschland datiert, hierzulande kaum noch als Tag der Befreiung vom Faschismus begangen wird und weitgehend unbeachtet verstreicht, trägt nicht nur zur Geschichtsblindheit der Bevölkerung bei, sondern dient auch ihrer Mobilisierung für neue Kriege.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ortszeitaktuell/2102346/

[2] http://www.kontakte-kontakty.de/deutsch/ns-opfer/freitagsbriefe/

9. Mai 2013