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PROPAGANDA/1518: Gerüchte - und was sonst so behauptet wird ... (SB)



"Glauben Sie nicht alles, was Ihnen im Internet gepredigt wird" - die Mahnung des Religionswissenschaftlers Michael Blume in einer Sendung des Deutschlandfunks [1] über Verschwörungsmythen in Zeiten des Coronavirus wirft die Frage auf: "Wer tut denn das?" Immer wieder wird das Publikum öffentlich-rechtlicher Medien wie auch privatwirtschaftlicher Presseorgane mit der Unterstellung konfrontiert, die Menschen übernähmen all das, was im Internet behauptet wird, ungeprüft als lautere Wahrheit. Die in der Präinternetära argumentative Faktizität reklamierende Aussage, etwas habe in der Zeitung gestanden oder sei im Fernsehen berichtet worden, war nicht glaubwürdiger, als wenn sich heute jemand auf ein soziales Netzwerk beruft, um den Wahrheitsgehalt einer Behauptung zu unterstreichen. In beiden Fällen wird ein Medium für etwas verantwortlich gemacht, das spezifischen AkteurInnen und gesellschaftlichen Bedingungen geschuldet ist, die zu benennen und haftbar zu machen allerdings etwas mehr Mühe bereitet, als eine unüberprüfbare Pauschalaussage zu treffen.

So wurde, um ein besonders eklatantes Beispiel zu nennen, von Bild bis Spiegel, von Faz bis Taz während des Jugoslawienkrieges vor 20 Jahren auf eine Weise ideologische Frontberichterstattung betrieben, die, wie schon damals zu erkennen, dem Versuch geschuldet war, die Beteiligung der Bundeswehr an einem völkerrechtswidrigen Aggressionskrieg zu legitimieren und Deutschland damit wieder in die Riege der kriegsbereiten Staaten zu katapultieren. Was der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Aussagen über das Verlassen des angeblichen deutschen Sonderweges und die vermeintliche Normalisierung des Militärischen vorgab, wurde von großen Teilen der bürgerlichen Medien brav nachgebetet. Eine Aufarbeitung der publizistischen Parteinahme für die NATO-Staaten fand niemals statt, obwohl diverse der damals kolportierten "Fakten" inzwischen widerlegt sind.

Das ist nur ein Beispiel von vielen, anhand derer sich die Subjektivität journalistischer Arbeit auf eine Weise dokumentieren läßt, die die beklagte Anfälligkeit der Menschen für Gerüchte aus dem Internet als ganz normales Verhalten von MedienkonsumentInnen erkennen läßt. Auch JournalistInnen und WissenschaftlerInnen sind berufständischen Zwängen unterworfen. Ob sie bei der Produktion einer Story in Rechnung stellen, daß ihr Inhalt mit dem größten Werbekunden ihrer Zeitung konform geht, oder beim Einwerben von Drittmitteln Ziele und Zwecke des jeweiligen Forschungsprojektes auslassen, die etwaige GeldgeberInnen abschrecken könnten, so hält in vielen Fällen die beanspruchte Rationalität und Objektivität nicht, was im Namen institutionell etablierter Vermittlungsorgane versprochen wird.

Wer in dieser Gesellschaft mit der Produktion von Nachrichten, Meinungen oder wissenschaftlichen Erkenntnissen sein Brot verdient, reflektiert so selbstverständlich professionelle Zwänge, die habituellen Zwänge bürgerlichen Distinktionsstrebens oder das Interesse der jeweiligen Klassenzugehörigkeit, daß eine Aufdeckung oder gar Kritik höchst subjektiver Sichtweisen meist auf der Strecke schneller Nachrichtenrotation bleibt. Man muß nicht Claas Relotius bemühen, um zu wissen, daß nicht nur bei Bild, sondern auch im öffentlich-rechtlichen Journalismus bisweilen mit Suggestionen gearbeitet wird, die über plakative Effekthascherei deutlich hinausgehen, indem bestimmte Gruppen oder Menschen stigmatisiert werden.

So wurden einer Sendung von NDR Info über sogenannte Gefährder [2] Ausschnitte von Nachrichtensendungen vorangestellt, die eine extremismusideologische Gleichsetzung völlig unterschiedlicher Sachverhalte vornahm. Welche Schlußfolgerung wird nahegelegt, wenn O-Töne aus der Berichterstattung über den blutigen Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, die Räumung der Baumhütten im Hambacher Forst durch die Polizei, die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und den antisemitischen Anschlag von Halle als Beispiele für gefährliche islamistische, rechts- und linksextremistische Gewalt präsentiert werden? In dem halbstündigen Feature wurde auf die WaldbesetzerInnen gar nicht mehr eingegangen, statt dessen wurde über die Einstufung einer Klimaaktivistin als Gefährderin berichtet, die sich nicht auf den Hambacher Forst bezog.

Die Unterstellung, die Verbreitung von Gerüchten und Verschwörungsmythen im Internet sei nur möglich, weil die Menschen den ProduzentInnen solcher Behauptungen ungeprüft glaubten, kann auf das damit angesprochene Kollektiv nur als eine überhebliche Form der Bevormundung wirken. Zweifellos werden in der unüberschaubaren Breite informationstechnisch verfügbar gemachter Nachrichtenportale zahlreiche irrationale Behauptungen aufgestellt. Das damit angesprochene Publikum ist jedoch eine unbekannte Größe und keinesfalls in einer Form zu verallgemeinern, die wenn überhaupt, dann etwas über die Selbstbehauptungsstrategien der UrheberInnen des Kausalnexus zwischen Internet und der Verbreitung von Gerüchten verrät.

Haltlose Behauptungen mit großer Breitenwirkung und möglicherweise fatalen Auswirkungen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Schon weil sich Menschen mit Verhältnissen arrangieren müssen, deren Logik sie nicht verstehen und daher einfach hinnehmen, ist die Bereitschaft, jemanden dafür die Schuld zu geben, groß. Wer in einer Welt, wo Millionen verhungern, während wenige Menschen über das Gros des produzierten Reichtums verfügt, nicht von dem schleichenden Gefühl belagert wird, daß irgend etwas daran gewaltig schief läuft, agiert kaum irrationaler als diejenigen, die das kapitalistische Weltsystem als beste aller möglichen Organisationsformen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion verteidigen.

Die rassistische, antisemitische, sexistische und faschistische Menschenverachtung, deren Ursprung Michael Blume und andere im Internet verorten, ist in erster Linie gesellschaftlichen Widersprüchen geschuldet, die auf soziale und politische Weise zu überwinden sind, anstatt das Problem auf der Seite vermeintlich leichtgläubiger RezipientInnen zu verorten. FaktencheckerInnen oder Kontrollroutinen wie Upload-Filter werden das Problem schon deshalb nicht lösen, weil der Kampf um die Wahrheit nicht von der Macht zu trennen ist, sie gegen andere durchzusetzen. Wenn sich jede Seite in einem Streit der Wahrheit sicher wähnt, nützt es der schwächeren wenig, wenn sie mit der Erkenntnis untergeht, über sie verfügt zu haben.

So ist das alte antisemitische Klischee, das jüdische Menschen mit epidemischen Krankheiten in Verbindung bringt [3], von vornherein feindseligen Absichten geschuldet und am besten mit antifaschistischen Mitteln zu bekämpfen. Wo die Aufklärung über Ressentiments absehbar versagt, bleiben grundlegende Gesellschaftskritik und -veränderung die Basis emanzipatorischer Entwicklung. Vermeintlich unhintergehbare Kriterien an publizistische und mediale Inhalte anzulegen, ohne den eigenen politischen und sozialen Standort zu berücksichtigen, läuft hingegen Gefahr, in eine Form von Zensur zu münden, mit der den Menschen das Vermögen abgesprochen wird, in eigener Verantwortung und autonom mit der Vielfalt des Lebens und der Komplexität alltäglicher Widersprüche umzugehen.


Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-fiebrige-mythen-verbreiten-sich.886.de.html?dram:article_id=472048

[2] https://www.ndr.de/nachrichten/info/Gefaehrder-Der-Mensch-als-Sicherheitsrisiko-des-Staates,audio636168.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1047.html

11. März 2020


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