Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/0884: Düstere Wirtschaftsprognosen verleihen Systemfrage Auftrieb (SB)



Die jüngsten Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zur weltwirtschaftlichen Entwicklung reihen sich fugenlos in die seit einem Jahr stetig schlimmer werdenden Hiobsbotschaften ein. Faule Kredite in Höhe von nunmehr über vier Billionen Dollar bei Banken, Versicherungen und Pensionsfonds bürden den Staaten, die meinen, die Finanzwirtschaft mit Hilfe staatlicher Garantien und Alimentationen retten zu müssen, Lasten auf, die einige von ihnen in die Nähe des Staatsbankrotts treiben dürften. Der IWF prognostiziert einen Rückgang der globalen Wirtschaftsleistung von 1,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr, ein Schrumpfen der Wirtschaft im Euroraum um 4,2 Prozent und in der Bundesrepublik um 5,6 Prozent für das laufende Jahr.

Noch im Oktober 2008 herrschte in der EU die Ansicht vor, die damals noch Finanzkrise genannte Krise des Kapitalismus sei vor allem ein hausgemachtes Problem der USA, das auf die besonders weitgehende Deregulierung der angloamerikanischen Wirtschaft zurückzuführen sei. Nach der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers behauptete Finanzminister Peer Steinbrück Ende September 2008, in Deutschland könne derartiges nicht passieren, weil man im System der sozialen Marktwirtschaft sehr viel solider arbeite als in der kapitalistischen Reinkultur des US-amerikanischen Neoliberalismus. Die Refinanzierungsprobleme der Münchner Hypo Real Estate widerlegten seinen demonstrativen Optimismus innerhalb kürzester Zeit.

Seitdem haben die Prognosen für die wirtschaftliche Entwicklung alle Beschwichtigungsversuche überholt und bewiesen, daß Regierungen und Wirtschaftsexperten nicht wahrhaben wollen, wie tiefgreifend der Niedergang tatsächlich ist. Extrapoliert man die Kurve der Negativprognosen in die nähere Zukunft, dann ist nicht auszuschließen, daß die makroökonomischen Indikatoren eine noch verheerendere Entwicklung nehmen werden als derzeit angenommen. Um nur einen Anlaß von vielen zu nennen: westeuropäische Banken sind laut dem New Yorker Finanzberater Milton Ezrati (www.csmonitor.com, 15.04.2009) in weit höherem Ausmaß in den Schwellenstaaten Asiens mit Krediten engagiert als die US-Banken. Sie sollen auf 54 Prozent der nach dort vergebenen ausländischen Kredite in Höhe von 1,4 Billionen Dollar sitzen, während US-Banken lediglich 15 Prozent hielten. Die in die Volkswirtschaften Osteuropas vergebenen Kredite in Höhe von 1,8 Billionen Dollar sollen zu 70 Prozent von westeuropäischen Banken stammen. Angesichts der in Asien und insbesondere Osteuropa um sich greifenden Wirtschaftskrise könnte ein Großteil dieser Kredite nicht mehr bedient werden.

Die Banken der Eurozone unterhalten Verbindlichkeiten in Höhe von 330 Prozent des dort erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts (BIP), so daß ein umfassender Zusammenbruch der Kreditwirtschaft katastrophale Auswirkungen auf alle anderen Wirtschaftsbereiche hätte. Wenn die nach Asien und Osteuropa vergebenen Kredite in großem Umfang platzten, dann könnte dies bis zu einem Drittel der Gelder betreffen, mit denen die Banken operieren. Es liegt auf der Hand, daß ein derartiger Einbruch nicht einfach durch den Staatshaushalt zu kompensieren wäre, sondern zu erheblichen Verwerfungen in Wirtschaft wie Gesellschaft der EU führte.

Nähme man die ökonomischen Expertisen, die noch vor einem Jahr das Feld der öffentlichen Debatte beherrschten, beim Wort, dann müßten ihre Urheber samt und sonders ihres Amtes enthoben oder entlassen werden. Die jahrelang auf die Bevölkerung losgelassene Behauptung eines nicht endenden, durch den Finanzmarkt und die Exportwirtschaft generierten Wachstums und die den Lohnabhängigen und Erwerbslosen auf dieser Grundlage beschnittenen Ansprüche und entzogenen Rechte haben die Bereicherung einer kleinen Gruppe von Kapitaleignern bewirkt, während die große Masse der Menschen ärmer geworden ist. Anstelle des auf lange Sicht verheißenen Wohlstands mündet diese Entwicklung in einen Niedergang, für den sich keiner der großspurigen Herolde des neoliberalen Kapitalismus verantwortlich erklären will.

Dennoch sitzen die gleichen Eliten an den Schalthebeln politischer und ökonomischer Entscheidungsgewalt, die bewiesen haben, von der Materie nichts zu verstehen oder die Bevölkerung absichtlich zum eigenen Vorteil in die Irre geführt zu haben. Nun kann jeder Bürger ohne besonderen Sachverstand feststellen, daß die Herren des Geldes und der Staatsmacht sehenden Auges ein Verwertungssystem zum alternativlosen Quell der Daseinsvorsorge und des Wohlstands erklärt haben, das den Raub zu Gunsten der Starken und zu Lasten der Schwachen organisiert. Dieses System soll mit dem Argument, die Rettung der Banken sei unabdinglich, fortgeschrieben werden. Jeder Kleinkrämer muß Insolvenz anmelden, wenn er seine Kredite nicht mehr bedienen kann, doch Banken und Versicherungen darf als "systemrelevanten Leistungsträgern" nicht dasselbe Schicksal blühen, gerade weil sie sich zum allergrößten Teil an Geldgeschäften schadlos halten, die der güterproduzierenden Wirtschaft in keiner Weise nutzen, dafür jedoch die gesamte Gesellschaft erheblichen Risiken aussetzen.

Was resultiert aus der Legitimationskrise des Kapitalismus, die alle anderen Krisen überwölbt, weil sie die Frage nach Macht und Herrschaft aufwirft? Die strikte Unterdrückung jeder Bemühung, sich nicht mit neoliberalen oder keynesianischen Rezepturen zufrieden zu geben, weil diese die objektiven Grenzen kapitalistischen Wachstums ebenso ausblenden wie den prinzipiellen Wunsch nach einem Leben, das nicht von Verwertungslogik, Tauschverhältnissen und Warencharakter diktiert wird. In dem Moment, in dem Kapitalismuskritik nicht relevanter sein könnte, wird sie mit Beschwichtigungversuchen wie der Aussicht auf eine baldige Besserung der Lage und der demagogischen Verteufelung der antikapitalistischen Linken unterbunden.

Wer sich nicht dauerhaft einseifen lassen will, ist gut beraten, Krisenbewältigung nicht als ein Problem zu begreifen, das durch technische oder politischen Modifikationen zu bewältigen ist, sondern die Frage nach der Entscheidungsgewalt zu stellen. Wieso sollten die herrschenden Eliten qualifiziert sein, ein durch Ignoranz und Nutznieß verschuldetes Desaster auch nur zu beheben, geschweige denn eine Gesellschaft zu schaffen, in der alle Menschen leben können, ohne ihr Dasein auf dem Rücken anderer zu fristen?

Selbst wenn diese Frage keine unmittelbaren Konsequenzen zeitigte, ist sie unverzichtbar, wenn man nicht will, daß die aktuelle Krisenbewältigung in eine noch repressivere und ungerechtere Ordnung führt. Wenn die Herrschenden behaupten, nun müßten alle kürzertreten und sich bescheiden, dann wollen sie eine Ordnung des Raubes sichern, in der jeder seinen ihm zugewiesenen Platz einnimmt, sprich in der die herrschenden ökonomischen und politischen Gewaltverhältnisse fortdauern. Demgegenüber gilt es, die Unbescheidenheit derjenigen zu stärken und zu artikulieren, die nichts zu verlieren haben, weil man ihnen bereits alles genommen hat.

23. April 2009