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RAUB/0902: Hunger als Produktivkraft - G8-Regierungen schützen ihre Interessen (SB)



Angesichts der dieses Jahr offiziell überschrittenen Zahl von einer Milliarde Hungernden auf der Welt kamen die in L'Aquilia versammelten Staats- und Regierungschefs nicht umhin, das Problem in ihrer Schlußerklärung aufzugreifen. Was allerdings unter dem Titel "Förderung der globalen Ernährungssicherheit" zu lesen ist, ist eine nicht nur unverbindliche, sondern vor allem vom tiefen Glauben an die segensreiche Wirkung der Marktwirtschaft durchdrungene Beschwichtigung derjenigen, die der G8-Staatengruppe seit jeher vorwerfen, sich nicht genug für die Beseitigung der Armut in der Welt einzusetzen. Der Beschluß, die Landwirtschaft in den Hungerregionen mit 20 Milliarden US-Dollar in den nächsten drei Jahren zu fördern, ist nicht nur fragwürdig, da die Realisierung auf G8-Gipfeln beschlossener Finanzrahmen für entwicklungspolitische Zwecke stets weit hinter die getroffenen Zusagen zurückfällt. Er hat vor allem den schwerwiegenden Nachteil, daß die strukturelle Förderung der Landwirtschaft mit einer Kürzung der direkten Nahrungsmittelhilfen einhergehen soll.

Diese bewegt sich ohnehin auf einem zu niedrigen Niveau, wie das Anwachsen der Zahl der Hungernden belegt. Zu unterstellen, die weitere Kürzung wirke sich förderlich auf die Produktivität im Agrarbereich der betroffenen Volkswirtschaften aus, heißt die Peitsche des Mangels zu schwingen. Materielle Not wird als Ausgangspunkt aller Ökonomie nicht nur bestätigt, sie wird in Form verhungernder Menschen maximiert, so daß der erhoffte Zuwachs an Ernteerträgen mit dem Verlust an Menschenleben erkauft wird. Man könnte auch von einer Vernichtungspolitik sprechen, deren Opfer getreu der Ideologie vom ewigen Kreislauf der Natur zumindest als Dünger einen Zweck für das Überleben nachfolgender Generationen erfüllt haben. Propagiert wird die Anwendung neoliberaler Wertschöpfungsdoktrin auf essentielle menschliche Bedürfnisse als Schlüssel zu einer nachhaltigen, weil ökonomisch angeblich selbsttragenden Landwirtschaft.

Selbst wenn diese Fördermittel die Bauern in den Ländern des Südens erreichten, ohne zuvor von Regierungsbehörden und anderen Nutznießern zweckentfremdet zu werden, ist nicht einzusehen, warum dem Problem des Hungers nicht gleichzeitig mit direkten Nahrungsmittellieferungen zu Leibe gerückt werden sollte. Die Behauptung, daß die einheimische Landwirtschaft dadurch gehemmt werde, weil kostenlose Hilfe ökonomische Anreize vernichte, basiert auf einem Wirtschaftssystem, das ausschließlich nach kapitalistischen Grundsätzen funktioniert. Über die Möglichkeit einer Bodenreform, mit der den weltweit mehrheitlich auf dem Land lebenden Hungernden zumindest die Möglichkeit der Selbstversorgung gegeben würde, wird ebensowenig nachgedacht wie über ein Verbot aller Lebensmittelexporte, solange in dem Erzeugerland noch ein Mensch hungert. Weitergehende Formen der sozialistischen Kollektivierung sind erst recht als Teufelswerk gebrandmarkt, könnten sich daraus doch Formen der solidarischen Ökonomie entwickeln, die die Bevölkerungen der Hungerstaaten vom Einfluß kapitalkräftiger Investoren befreite.

Deren Interessen gilt es unter allen Umständen zu wahren, das dokumentiert die Erklärung der G8-Staaten auch dort, wo das Problem des um sich greifenden Landerwerbs durch finanzstarke Unternehmen und Staatsfonds zwecks Erhöhung der Kapitalrendite und Verbesserung der eigenen Ernährungssicherheit damit verharmlost wird, daß man fordert, gemeinsame Prinzipien und Best Practices für internationale Agrarinvestitionen schaffen. Daß diese mit der Korrumpierung einheimischer Eliten, der Vertreibung angestammter Bodennutzer und der eigennützigen Einflußnahme transnationaler Akteure auf lokale Verhältnisse einhergehen, wird durch blumige Absichtserklärungen nicht verändert. Das Problem liegt in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen und den globalisierten Handelsstrukturen, und gerade diese werden von den Regierungen der G8-Staaten verteidigt.

Dies gilt auch für die von ihnen unterstützte Produktion von Agrosprit, die selbst dort, wo sie auf angeblich für den menschlichen Ernährungsbedarf nicht verwendbaren Anbauflächen betrieben wird, begrenzte Ressourcen wie insbesondere Wasser, aber auch Treibstoffe, Dünger und Arbeitskraft bindet, die sinnigerweise für den Anbau von Nahrungsmitteln eingesetzt würden. Realistischerweise wird jedoch ein erheblicher Teil für den Menschen oder zumindest als Tierfutter verwendbarer Getreide und Ölsaaten in eine Mobilität fließen, die lediglich den Metropolengesellschaften und ihren Streitkräften, deren Schlagkraft an traditionelle Verbrennungsmotoren gebunden ist, zugute kommen und die in diesem Ausmaß völlig kontraproduktiv zu dem erklärten Ziel der Reduzierung von Klimagasen ist.

Laut einer Untersuchung von Oxfam International (The Guardian, 05.07.2009) haben Landwirte in aller Welt festgestellt, daß die Jahreszeiten sich zuungunsten ihrer Anbaumöglichkeiten verändert haben. Laut Daten, die Oxfam in 15 Ländern erhoben hat, haben Zahl und Vielfalt der Jahreszeiten abgenommen, während sich ihr Charakter durch untypische Wetterereignisse verändert hat. Regenfälle stellen sich auf zusehends unkalkulierbare Weise ein und verlaufen kurz und heftig. Dies korrespondiert mit einem Anwachsen der durchschnittlichen Windgeschwindigkeit und der Zerstörungskraft von Stürmen. Generell berichten die befragten Bauern, daß die Wetterextreme zu- und die Phasen, in denen gute Anbaubedingungen herrschen, abgenommen haben. All das wirkt sich negativ auf die Erträge aus, zumal die traditionellen Anbaumethoden den veränderten Wetterbedingungen immer weniger entsprechen.

Es gibt also Probleme, von denen kein Marktapologet behaupten kann, daß sie über die Steigerung des ohnehin vorhandenen Mangels behoben werden könnten. Notleidenden Menschen nicht auf eine ähnliche Weise zu helfen, wie man es mit den eigenen Banken tut, die zur Sicherung des herrschenden Verwertungssystems ein Vielfaches der zugesagten Mittel für die Landwirtschaft in Hungerregionen, um von der direkten Hungerhilfe ganz zu schweigen, erhalten, hat einen naheliegenden Grund. Nicht nur die ökonomischen Interessen der transnationalen Agroindustrie, der Saatgutmonopolisten, der Exportwirtschaft hochproduktiver Agrarproduzenten wie der EU und der mit der Landnahme in den Ländern des Südens befaßten Investoren veranlassen die G8-Staaten dazu, das kapitalistische Akkumulationsregime grün anzustreichen und mit dem humanitären Weichzeichner zu bearbeiten. Es ist vor allem der objektive Mangel an bei dieser Wirtschaftsweise verfügbaren Nahrungsmitteln, der verschleiert wird, indem die Menschen in den Ländern des Südens bezichtigt werden, nicht genügend Eigeninitiative und Eigenverantwortung aufzubringen, um selbst für ihre Ernährung aufzukommen.

So ziehen die Nahrungsmittelpreise trotz eine deflationären Weltwirtschaft wieder an, und das bei mindestens einer Milliarde Menschen, die bereits als Konsumenten weitgehend ausfallen. Das International Grains Council (IGC) prognostiziert für die anstehende Erntesaison 2009/2010 eine Getreideproduktion von 1715 Millionen Tonnen, das sind fast vier Prozent weniger, als für die laufende Erntesaison 2008/2009 veranschlagt werden. Demgegenüber steht ein Anstieg des Verbrauchs von geschätzten 1722 Millionen Tonnen in der vergangenen auf 1731 Millionen Tonnen in der laufenden Saison (Financial Times Deutschland, 08.07.2009). Als ein Beispiel für einen vornehmlich wetterbedingten Ertragsrückgang wird der viertgrößte Weizenexporteur Argentinien angeführt, der in der nächsten Erntesaison 28 Prozent weniger Weizen ernten soll und möglicherweise gänzlich auf Ausfuhren verzichten könnte.

Hiobsbotschaften wie diese haben zu einem erheblichen Anwachsen der Kapitalinvestitionen am Finanzmarkt in den Sektor der Agrarrohstoffe geführt, wodurch die Armen der Welt noch wirksamer von der Verfügbarkeit von Lebensmitteln abgehängt werden als bisher schon. Um auf Expansion und Wachstum basierende Verwertungsstrukturen zu erhalten, um die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln geostrategisch einsetzen zu können, um die Subordination der Ländern des Südens nicht zu beenden und damit womöglich Raum für sozial weniger ungerechte gesellschaftliche Alternativen zu schaffen, läßt man notleidende Menschen am ausgestreckten Arm verhungern. Um nicht einmal essentielle Lebensvoraussetzungen vom Kapitalverhältnis zu befreien und damit allen Menschen ein Leben zu ermöglichen, in dem die unterstellte Freiheit dieser Weltordnung ganz materiell realisiert würde, soll der Tropf der Hungernden noch langsamer fließen. Zu behaupten, daß direkte Hungerhilfe ein entwicklungspolitisches Hindernis sei, ist nur möglich, wenn man eine Raubordnung gutheißt, in der Menschen mit Zwang und Gewalt abgepreßt wird, was ihnen so selbstverständlich wie einst die Luft zum Atmen frei von fremden Eigentums- und Nutzungsansprüchen zur Verfügung stehen sollte.

10. Juli 2009