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RAUB/0958: Vom Job ins Grab ... EU will Rente erst ab 70 gewähren (SB)



Ginge es nach der EU-Kommission, dann verabschieden sich die Europäer mit durchschnittlich Anfang 60 bei weitem zu früh in Rente. EU-Sozialkommissar László Andor empfiehlt, die berufliche Karriere künftig erst mit 70 Jahren zu beenden. Alles andere wäre in Zukunft nicht mehr bezahlbar, so der Tenor eines Strategiepapiers der Kommission, die das Anwachsen des Anteils der älteren Bevölkerung und die Weltwirtschaftskrise als Schere versteht, die die Bezahlbarkeit der Renten von zwei Seiten einschränkt. Andors schlägt die Alternativen vor, "entweder im Ruhestand über weniger Einkommen zu verfügen, höhere Pensions- und Rentenbeiträge zu zahlen oder mehr und länger zu arbeiten" (NZZ, 07.07.2010).

Was ist aus der Produktivkraftentwicklung geworden, anhand derer den Menschen eine rosige Zukunft mit viel Zeit für die eigenen Interessen versprochen wurde? Sie bewegt sich weiterhin stürmisch in Richtung technische Konzentration der Produktivität, allerdings bei abnehmendem Anteil menschlicher Arbeitskraft. Heute werden die Menschen durch die Automatisation des Produktionsprozesses nicht nur von harter körperlicher Arbeit, sondern auch administrativen und bürokratischen Tätigkeiten aller Art entlastet. Wo Erwerbsarbeit nicht mehr erforderlich ist oder ihre Entlohnung auf Sklavenniveau gedrückt wird, bleiben Verarmung und Verelendung auf breiter Ebene übrig. Dem die Produktivkräfte entfachenden Kapital ist kein soziales oder kulturelles Anliegen zu eigen, es verfolgt allein das Ziel der Verwertung um seines eigenen Wertwachstums willens.

Die Kapitalakkumulation stagniert oder ist rückläufig, weil die Elimination der Lohnarbeit die Auszehrung der Binnenkaufkraft zur Folge hat. Zwar wird dies in der Bundesrepublik durch die starke Exportwirtschaft kompensiert, desto größer jedoch fallen die Verluste in ihren Absatzmärken aus. Für das gesamtgesellschaftliche Produkt der EU erwächst daraus kein Vorteil, allerdings ist das Produktivitätsgefälle eine zentrale Triebkraft des Standortwettbewerbs und seiner Sozialkürzungen legitimierenden Funktion. Demgegenüber gilt das Rentensystem als Rudiment eines Klassenkompromisses, ohne den die Mehrwertabschöpfung auf wachsenden Widerstand gestoßen wäre. Dieser Kompromiß ist seit dem Niedergang der realsozialistischen Staatenwelt in Frage gestellt, gibt es doch angeblich keine Alternative zum allein übriggebliebenen kapitalistischen Weltsystem. Da dieses auf systemische Verwertungsgrenzen stößt, seine territorialen Expansionsmöglichkeiten erschöpft hat und technologische Innovationen einen immer geringeren Anteil an menschlicher Arbeit erfordern, hat die Transformation der Arbeitsgesellschaft weg vom Anspruch auf Vollbeschäftigung und hin zum sozialdarwinistischen Überlebensmarkt, auf dem sich immer mehr Menschen um immer weniger rangeln sollen, längst stattgefunden.

Die Senkung der Renten, die Erhöhung der Rentenbeiträge, die in neoliberalen Gesellschaften eher nicht zu Lasten der Unternehmen geht, oder das höhere Renteneintrittsalter sind allesamt Methoden, mit denen den auf die Rente angewiesenen Erwerbstätigen noch mehr von dem genommen wird, was ihnen vom Arbeitsprodukt ohnehin genommen wurde. Die Rede ist von einer Lebensqualität, die sich nicht in der Kategorie der Verwertungstauglichkeit bemessen läßt. Wer sagt denn, daß der Mensch, der seine berufliche Existenz mit Anfang 60 aufgibt, deswegen nicht mehr arbeitet? Viele arbeiten dann erst recht, allerdings auf eine selbstbestimmte und sinnerfüllte, den Charakter von Arbeit als Kulturleistung, die dem Menschen und nicht dem Kapital dienende Dinge hervorbringt, erst erfüllende Weise. Das Zuziehen der Schraube des Rentenalters ist nicht nur eine ökonomische Maßnahme zur Umverteilung von unten nach oben. Es dient vor allem der Strategie, immer weniger finanziell wie zeitlich selbstbestimmbare Lebenszeit freizusetzen, um emanzipatorischen Bestrebungen, die sich auf systemantagonistische Weise artikulieren könnten, die Luft zu nehmen.

Die Renten an die höhere Lebenserwartung anzupassen, die die EU-Kommission vorschlägt, ist signifikanter Ausdruck des betriebswirtschaftlichen Denkens, das in Brüssel vorherrscht. Je kürzer die Distanz zwischen Job und Grab wird, desto effizienter wird der Mensch durch eine Gesellschaftsmaschine verbraucht, deren Reproduktion alles Sinnen und Trachten nachgeordnet sein soll. Nachdem die Einspeisung der Renten in die Kapitalakkumulation auf dem Finanzmarkt, von den europäischen Eliten als das Nonplusultra wirtschaftlichen wie privaten Erfolgs gefeiert, gezeigt hat, daß es sich bei stetigem, krisenfreien Wachstum um eine neoliberale Halluzination handelt, soll nun wieder an den Stellschrauben humaner Verwertbarkeit gedreht werden.

Die kapitalgedeckte Rente wurde als Investition in die eigene Zukunft angepriesen, und zwar für die besonders Schlauen, die auf ihren Finanzberater hören und die Kollegen, die noch auf die Sicherheit des Solidarsystems setzten, als ewig Gestrige verspotten. Das Projekt, das Lohnabhängige in Kleinkapitalisten mit hoher Bereitschaft, die Interessen der Herrschenden zu unterstützen, verwandeln soll, hat sich als Form organisierter Bereicherung derjenigen erwiesen, die ihre Schäflein zum richtigen Zeitpunkt von der gemeinsamen Weide genommen haben, um sie nicht wie das Vieh der anderen in der Kälte negativer Wachstumsraten eingehen zu lassen. Wer sich nicht auf diese Weise abziehen lassen wollte, dessen bereits kahler Schädel soll nun einer weiteren Rasur unterzogen werden. Zwar ist die EU-Kommission nicht zuständig für die Rentensysteme der Mitgliedstaaten, aber auf die Konsequenz des von ihr favorisierten Herrschaftsdenkens können sich deren Eliten verlassen.

9. Juli 2010