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RAUB/1002: Sommer des Zorns setzt soziale Frage Israels auf die Tagesordnung (SB)



Als schwindendes Erbe einer Vielfalt politischer Entwürfe ihrer Gründerzeit wies die kapitalistische Gesellschaftsordnung Israels in der Vergangenheit einen Restbestand sozialistisch angehauchter Elemente auf, welche die Polarisierung der Lebensverhältnisse dämpften. Die Einkommensunterschiede waren vergleichsweise gering, die Gewerkschaften stark, staatliche Monopolunternehmen übten einen regulierenden Einfluß aus und die Subventionen flossen. Wenngleich man die bürokratischen und entwicklungshemmenden Effekte einer derartigen Konfiguration nicht unterschlagen und dieses System keinesfalls als Gegenentwurf mißverstehen darf, stand es doch einer forcierten Verwertung im Weg, wie man sie mit der neoliberalen Offensive assoziiert.

Als prominentester Verfechter dieses Generalangriffs und der damit verbundenen sozialen Grausamkeiten ist Benjamin Netanjahu der Bevölkerung in schlechter Erinnerung. Zu seiner Zeit als Finanzminister im Kabinett Ariel Scharons trieb er die Privatisierung staatlicher Institutionen voran und setzte maßgeblich den Abbau des Sozialstaats durch. Als Ministerpräsident subventionierte er später Wohnraum in jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland, unternahm jedoch kaum etwas, um die Lebenshaltungskosten im israelischen Kernland zu senken. Daß sich der Zorn vieler Demonstranten, die heute mit ihren Forderungen in zahlreichen Städten des Landes auf die Straße gehen, insbesondere gegen Netanjahu richtet, liegt auf der Hand.

Vor allem mit seinem Namen bringt man in Verbindung, daß sich die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren derart weit geöffnet hat, daß die vormals beinahe egalitär anmutende Gesellschaft Israels heute unmittelbar hinter den USA an zweiter Stelle in der Negativliste extremer Polarisierung rangiert. Während der Boom der High-Tech-Industrie das Einkommen einer kleinen Oberschicht mehrt und weniger als zwei Dutzend Familien mehr als 50 Prozent der im Aktienindex TA-100 vertretenen Firmen kontrollieren, leben nach Schätzungen des Nationalen Versicherungsinstituts inzwischen etwa 25 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Zählte man in den 1980er Jahren noch 35 Prozent der Israelis zur Mittelschicht, so war deren Anteil im Jahr 2009 auf 15 Prozent geschrumpft. Vor allem diese verarmende Klasse ist es, die nicht länger schweigt und ihrer Angst vor dem Abstieg Ausdruck verleiht. [1]

Es waren zunächst die horrenden Immobilienpreise, an denen sich die aktuelle Protestkampagne entzündete. Tel Aviv ist unter Berücksichtigung der Kaufkraft inzwischen eine der teuersten Städte der Welt, teurer als Mailand, Paris oder New York, wie eine Studie der Finanzberatungsfirma Mercer ergab. Familien oder Alleinstehende mit schmalem Einkommen können sich Wohnungen in der Innenstadt kaum noch leisten. [2] Ein Knesset-Bericht vom Oktober 2010 stellte bei Immobilien einen inflationsbereinigten Preisanstieg von 35 Prozent in den vergangenen drei Jahren fest. Das ist jedoch nur der landesweite Durchschnitt, denn in Tel Aviv sind die Wohnungen heute 64 Prozent teurer als 2008, in Jerusalem stiegen die Preise um 50 Prozent. Eine Dreizimmerwohnung mit 70 Quadratmetern kostet heute in Tel Aviv ungefähr 400.000 Euro, was sich angesichts eines Durchschnittseinkommens von umgerechnet 1700 Euro im Monat kaum noch jemand leisten kann.

Wohl wissend, daß die hervorbrechende Massenbewegung mit der Forderung nach erschwinglichem Wohnraum begonnen, sich jedoch binnen Tagen zu einem Fanal gegen soziale Ungleichheit ausgeweitet hat, versucht Premierminister Netanjahu, die Notbremse zu ziehen. Seine Zustimmungswerte in Meinungsumfragen sind von 51 Prozent im Mai auf derzeit 32 Prozent abgestürzt, was ihn um den Bruch der von ihm geführten Koalition und mehr noch seine absehbare politische Zukunft fürchten läßt. Er sagte eine lange geplante Reise nach Polen ab und wandte sich live im Fernsehen mit umfangreichen Versprechen an die Bevölkerung, um dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Der von ihm angekündigte Plan sieht unter anderem die Schaffung von preiswertem Wohnraum für Studenten, entlassene Soldaten, Arme und junge Paare vor. Der Staat werde kostenlos Land für den Bau von 10.000 Wohneinheiten in Studentenwohnheimen zur Verfügung stellen. Um den Wohnungsmarkt außerhalb der Stadtzentren für Studenten attraktiver zu machen, sollen diese mit sofortiger Wirkung einen Rabatt von 50 Prozent auf Bus- und Bahntickets erhalten. Des weiteren sollen Maßnahmen zur Reduzierung des Mietpreises eingeleitet werden. Die Regierung will eine Ausschreibung zum Bau von Appartements auf den Weg bringen, bei der das Unternehmen, das den niedrigsten Mietpreis anbietet, das Bauland zu einem Rabatt von 25 bis 100 Prozent erhalten soll. Bei der Schaffung neuer Eigentumswohnungen soll es Rabatte von etwa 50 Prozent auf den Grundstückspreis für die Unternehmen geben, die dem Käufer die Wohnung später zum geringsten Kaufpreis anbieten. [3]

Zugleich ist Netanjahu bestrebt, die Krise offensiv zu nutzen, um die Verantwortung auf das staatliche Landmonopol abzuschieben und dessen Ende zu betreiben. Er räumte unumwunden ein, daß die Wohnungskrise in Israel real sei, und kündigte die Abschaffung bürokratischer Hürden im Planungs- und Bauwesen an. Vor allem aber begründete er die hohen Preise damit, daß es keinen freien Markt in diesem Bereich gebe. Der Staat habe hier ein Monopol und blockiere den Verkauf von Land für den Bau neuer Wohnungen. Indem der Regierungschef einer Privatisierung das Wort redet, verkauft er dieselbe Politik wie zuvor als Finanzminister Scharons heute als vorgebliche Rettung aus der Misere.

Die Studenten, deren öffentlichkeitswirksamen und laut einer aktuellen Haaretz-Umfrage von 87 Prozent der Bevölkerung gutgeheißenen Protest zu befrieden Netanjahus vordringliches Anliegen ist, regierten zurückhaltend auf seine Offerte. "Wir werden weiter kämpfen", kündigte die größte Studentenorganisation Israels vor der Presse an. Auch wenn den Studenten mehr Wohnheimplätze zugesagt worden seien, würden sie weitermachen, bis die anderen Gruppen ihr Recht bekommen hätten. Ihnen geht es offenbar nicht allein um die Miete, sondern eine umfassende soziale Reform der Gesellschaft.

Der Sommer des Zorns hatte am 14. Juli in Tel Aviv begonnen, als die 26jährige Filmemacherin Daphni Leef nach vergeblicher Wohnungssuche auf dem baumbestandenen Mittelstreifen des teuren Rothschild Boulevard ihr Zelt aufschlug. Binnen Stunden hatte sie gleichgesinnte Nachbarn, eine Woche später campierten Hunderte Unzufriedene auf dem Boulevard. Den jungen Leuten schlossen sich Frauen- und Arbeiterverbände ebenso an wie zahlreiche ältere Menschen an, die gleichermaßen unter der Teuerung leiden. "Rothschild ist unser Tahrir-Platz", hieß es unter Anspielung auf das Epizentrum der ägyptischen Umwälzung vom Februar. Die seit vier Monaten anhaltenden Proteste der Ärzte für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen erhielten durch die Studenten einen neuen Schub. Die Mediziner wollen unter anderem einen Mindestlohn von zehn Euro pro Stunde durchsetzen. In einem Sternmarsch laufen sie dieser Tage nach Jerusalem, der Chef der Ärztekammer ist in den Hungerstreik getreten. Von der Negevwüste bis an die libanesische Grenze haben sich mittlerweile weitere Protestzeltlager gebildet. Am vergangenen Sonntag marschierten Zehntausende in einem Demonstrationszug auf, wie man ihn in Tel Aviv seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. [4]

"Was wir fühlen, ist die Krise der Mittelklasse", kommentierte Israels Präsident Schimon Peres die täglich wachsende Protestbewegung. Solange es palästinensische Bürger Israels, Einwanderer aus Osteuropa und andere traditionell vernachlässigte und ausgegrenzte Teile der Bevölkerung waren, die in Armut lebten, blendete das politische Establishment die zunehmende Verelendung der Gesellschaft systematisch aus, moderierte sie Wirtschaftswachstum und wohlsituierte Urbanität als Ausweis florierender Geschäfte und kraftstrotzender Moderne. Das Aufbegehren der von sozialem Abstieg bedrohten Mittelschichten unterstreicht nicht nur das Ausmaß der Misere, die immer größere Teile der Bevölkerung in den Abgrund zu reißen droht, sondern zwingt die Regierung zum Handeln.

Noch lassen die überwiegend jungen Angehörigen einer Mittelschicht mit schwindenden Zukunftsperspektiven keine sonderliche Verbundenheit mit jenen Teilen der Gesellschaft erkennen, die seit langem dort existieren müssen, wo die angehenden Akademiker niemals landen wollen. Auch scheint die Protestbewegung bislang vollständig vom Nahostkonflikt abgekoppelt zu sein, den man als Politik von gestern und Ablenkung von den eigentlichen Problemen Israels empfindet. Letzteres ist insofern zutreffend, als israelische Regierungen die Nation seit Jahren auf das Primat der Sicherheitspolitik eingeschworen und mit dem Feindbild der Araber im allgemeinen und Palästinenser im besonderen die Lebensverhältnisse im Land verschleiert haben. Was vor nur dreizehn Tagen mit einem einzigen Menschen auf dem Rothschild Boulevard begann, hat sich seither jedoch zu einer Bewegung ausgewachsen, deren Anliegen die Nöte und Sorgen zahlloser Bürger anspricht. Nicht auszuschließen, daß dabei am Ende doch die Vorgartenzäune eigener Vorteilsnahme fallen und sich der Blick dafür öffnet, wie Ausbeutung und Unterdrückung nach außen und innen zusammenhängen.

Fußnoten:

[1] http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article13509813/Die-Iglu-Zelte-von-Tel-Aviv.html

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,776796,00.html

[3] http://www.israelnetz.com/themen/innenpolitik/artikel-innenpolitik/datum/2011/07/27/netanjahu-kuendigt-reformen-fuer-immobilienmarkt-an/

[4] http://www.sueddeutsche.de/d5o38u/123807/Billige-Wohnungen-gegen-die-Protest.html

27. Juli 2011