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RAUB/1024: Kapitalmacht haftbar gemacht? - Turiner Asbestprozeß stößt Fragen an (SB)



Der 13. Februar 2012 könnte als Meilenstein in die Geschichte der Arbeitssicherheit eingehen. Der frühere Eigentümer und ein ehemaliger Manager des Asbestherstellers Eternit sind in Turin zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Das Gericht in der norditalienischen Stadt befand den Schweizer Milliardär Stephan Schmidheiny und den früheren belgischen Eternit-Manager Baron Louis de Cartier schuldig, für den Tod von etwa 3.000 Menschen in Italien verantwortlich zu sein. Staatsanwalt Raffaele Guariniello sprach vor der Urteilsverkündung von einem "historischen Prozess, dem weltweit größten in der Geschichte der Arbeitssicherheit". Das Verfahren hatte nach mehr als fünfjährigen Ermittlungen im Dezember 2009 begonnen und war nach Angaben der Staatsanwaltschaft das umfassendste, das jemals in der Auseinandersetzung um Asbest geführt wurde. [1] Einige Opfer hatten mehr als 20 Jahre für die Durchführung des Verfahrens gekämpft. [2] Und nicht zuletzt handelte sich um den ersten Asbeststrafprozeß wie auch den ersten Prozeß, bei dem die Angeklagten nicht Filialleiter, sondern die höchsten Firmenchefs waren. [3]

Daß damit der kapitalistischen Verwertung ein Zahn gezogen wurde, darf allerdings bezweifelt werden. Wohl handelt es sich um einen der seltenen Fälle, in denen die Verantwortung für die verheerenden Folgen der profitgenerierenden Produktionsweise nicht auf Subalterne abgewälzt wurde. Schmidheiny entspricht jedoch so wenig dem gängigen Klischee eines gierigen Raffzahns, der über Leichen geht, daß einem die kurzschlüssige Bezichtigung, mit der Bestrafung des Übeltäters sei das Problem vom Tisch, im Halse steckenbleibt. Der Umkehrschluß, letzten Endes seien alle Beteiligten Opfer eines übermächtigen Systems, weshalb man auf die Frage nach der Verantwortung verzichten könne und müsse, führt jedoch gleichermaßen in die Sackgasse einer Affirmation bestehender Herrschaftsverhältnisse. Offenkundig ist es nicht damit getan, die Welt in Gut und Böse zu unterscheiden, der schicksalhaften Unveränderbarkeit das Wort zu reden und sich einer Moral- und Rechtsordnung zu unterwerfen, die nur der Inbegriff aller Fesseln sein kann.

"Fabbrica della morte" nennen die Einwohner von Casale die ehemaligen Eternit-Werke in ihrer Umgebung. In diesen "Fabriken des Todes" wurden Asbestfasern zu Asbestzement verarbeitet, der jahrzehntelang in der Bauwirtschaft wegen seiner hohen Hitzebeständigkeit und guten Isolationseigenschaften Verwendung fand. Wird der Feinstaub des Asbests eingeatmet, können Staublunge, Brustfelltumore und Lungenkrebs die Folge sein, wobei bis zum Ausbruch der Krankheit mitunter 40 Jahre vergehen. Laut der International Labour Organization sterben jährlich weltweit 100.000 Menschen an den Folgen des Kontaktes mit Asbest. Casale war ein Zentrum der Asbestverarbeitung in Italien, das die zweithöchste Asbestmenge in Europa verbrauchte, bis endlich ein Verbot durchgesetzt wurde. [4]

Die zu jeweils 16 Jahren Gefängnis verurteilten Schmidheiny und de Cartier waren eines "vorsätzlichen Desasters" angeklagt. Das Gericht sah es als erwiesen an, daß unter ihrer Führung zwischen 1973 und 1986 in vier italienischen Eternitfabriken die Schutz- und Sicherheitsregeln mißachtet worden waren. Durch die Nichteinhaltung der Sicherheitsbestimmungen starben oder erkrankten an den betroffenen Standorten und in umliegenden Ortschaften Tausende Arbeiter und Einwohner. Etwa 6.000 frühere Angestellte, Anwohner und Angehörige von Opfern hatten auf Schadenersatz geklagt. Angehörige der Asbestopfer bekamen vom Gericht eine Entschädigung von je 30.000 Euro zugesprochen, auch Gewerkschaften und Umweltschutzorganisationen sollen Kompensationszahlungen erhalten.

Das italienische Rechtssystem machte es möglich, an den Strafprozeß gleichzeitig zivile Forderungen anzuhängen. Für die Schadenersatzzahlungen ist entscheidend, wann die zehnjährige Verjährungsfrist beginnt. In Italien nimmt man nicht die ursprüngliche Schädigung, sondern die Manifestation der Krankheit zum Ausgangspunkt. Andernfalls hätten die Opfer oder Angehörigen angesichts der oftmals jahrzehntelangen Spanne bis zum Ausbruch der Krankheit keine Aussicht auf Kompensation gehabt. Günstig für die Haupt- und Nebenkläger wirkte sich zudem aus, daß der Verteidigung die Einsicht in Krankenakten und Diagnosen verwehrt und damit eine Offensive von Gegengutachtern vermieden wurde.

Der 65jährige Schweizer Milliardär und der bereits 91jährige belgische Baron waren dem gesamten Prozeß ferngeblieben. Die Verteidigung hatte eine direkte Verantwortung ihrer Mandanten für die Todesfälle stets zurückgewiesen. Laut Schmidheinys Rechtsvertretern investierte dieser nach Übernahme der Führung der Gruppe von seinem Vater 1976 rund 50 Millionen Franken in das italienische Eternit-Werk, um es auf die ungefährlichere nasse Asbestproduktion und schließlich zur völlig asbestfreien Produktion umzustellen. Zudem habe Schmidheiny nie eine offizielle Funktion in der Gesellschaft eingenommen und in Italien nie Geld verdient: Weil die Produktion mit Ersatzfasern zu teuer gewesen sei, ging Eternit Italien 1986 in Konkurs. Schmidheiny hat bereits freiwillig an 1.600 Familien von Asbestopfern 40 Millionen Franken bezahlt. Eine seit 2005 ausstehende Offerte über 18 Millionen Euro an die Gemeinde Casale hat diese nun mit der Begründung abgelehnt, man wolle sich nicht zum Komplizen machen.

Zweifellos stand der Prozeß unter massivem öffentlichem Druck, da die italienischen Medien, die Behörden und selbst die Regierung in Rom auf einen Schuldspruch drängten. Gesundheitsminister Renato Balduzzi sprach mit Blick auf das Angebot für Casale von einem "Pakt mit dem Teufel", so daß der Eindruck kaum von der Hand zu weisen ist, man wolle alle Schuld auf den zahlungskräftigen Schweizer abwälzen und von den Problemen im eigenen Land ablenken. So fehlten in Italien lange gesetzliche Grenzwerte bei der Asbestverarbeitung, und die Gesetzgeber in Rom konnten sich erst 1992 und damit sechs Jahre nach Konkurs der Eternit SpA zu einem Produktionsverbot entschließen. Das Unternehmen ging deshalb zugrunde, weil sich asbestfreie Produkte gegen die weiter zugelassenen billigeren Asbeststoffe am italienischen Markt nicht behaupten konnten.

Bei alledem ist Stephan Schmidheiny geradezu das Gegenteil jener Reizfigur, zu der ihn Justiz, Medien und Politik Italiens hochstilisiert haben. Er hatte innerhalb des Konzerns schon frühzeitig vor der Verwendung von Asbest gewarnt und nach der Übernahme der Firmenleitung die Ablösung von dem gefährlichen Stoff umgesetzt. Der Schweizer Unternehmer diversifizierte sein Investment, machte sich einen Namen als Industriearchitekt, saß im Verwaltungsrat führender Unternehmen und gründete schließlich eine Organisation, die kleinere Unternehmen in Lateinamerika unterstützt. Er gründete ein Forum, aus dem später das World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) entstand. Schmidheiny wurde zu dessen Ehrenpräsidenten gewählt, womit nicht zuletzt seine Pionierrolle beim Ausstieg aus der Produktion asbesthaltiger Baustoffe Anerkennung fand.

Damit nicht genug, gründete er die Avina-Stiftung, die zu einer nachhaltigen Entwicklung in Lateinamerika beiträgt, indem sie Bündnisse zwischen Gesellschafts- und Wirtschaftsführern fördert und heute eine führende Funktion in diesem Umfeld innehat. Nach der Gründung eines von ihm mit einer hochdotierten Schenkung bedachten Trusts zog er sich von all seinen operativen Tätigkeiten zurück und engagiert sich heute ganzjährig im Bereich der nachhaltigen Entwicklung vor allem in Lateinamerika. Schmidheiny verfaßte mehrere Bücher, darunter den in über zwölf Sprachen übersetzten Bestseller "Kurswechsel". Er wurde mit zahlreichen Preisen und Auszeichnungen bedacht, und 2009 erschien die Biographie "Sein langer Weg zu sich selbst - Erbe - Unternehmer - Philanthrop".

Am Hungertuch nagen muß Schmidheiny aber nicht, da er nach wie vor regelmäßig auf der Liste der Reichsten der Welt des Forbes Magazine erscheint. Auch wird er nicht in ein italienisches Gefängnis gehen, da sich die Berufungsverfahren vor höheren Instanzen noch über Jahre hinziehen dürften. Wann die Asbestopfer und deren Angehörige die ihnen gerichtlich zugesprochene Entschädigung erhalten, steht damit ebenfalls in den Sternen. Will man ein Fazit des Turiner Urteilsspruchs ziehen, so kann man ihn zwar mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, doch begäbe man sich aufs Glatteis, wollte man diesen Prozeß als Durchbruch auf dem Weg in eine bessere Welt feiern, zumal sich dieser sicher nicht mit gerichtlichem Segen bewerkstelligen läßt. Von Interesse sind indessen jene Fragen, die an dieser Stelle ihren Ausgang nehmen könnten: Etwa jene nach der Bewertung eines grünen Kapitalismus, der garantiert asbestfrei mit dem Postulat der Nachhaltigkeit nicht zuletzt den Bestand eigener gesellschaftlicher Positionierung und Einflußnahme innovativ fortschreibt.

Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/panorama/missachtung-von-arbeitnehmerschutz-bei-eternit-jahre-haft-fuer-hauptangeklagte-im-asbest-prozess-1.1282891

[2] http://derstandard.at/1328507624436/Prozess-in-Turin-Ex-Eternit-Manager-verurteilt-Ueber-2800-Tote-durch-Asbest

[3] http://www.nzz.ch/nachrichten/wirtschaft/aktuell/schmidheiny_zu_16_jahren_gefaengnis_verurteilt_1.15023826.html

[4] http://www.nzz.ch/nachrichten/startseite/der_asbest-gau_1.14795321.html

13. Februar 2012