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RAUB/1049: Friß nicht und stirb - Social Cleansing im neofeudalen Britannien (SB)




Als der Autor Owen Jones den britischen Minister für Arbeit und Pensionen, Iain Duncan Smith, am 22. November in der Talk Show Question Time mit dem Schicksal eines Opfers seiner Sozialhilfereform konfrontierte, fuhr dieser aus der Haut. Er unterbrach Owen brüsk und warf ihm vor, sich nicht über das Schicksal von zweieinhalb Millionen Arbeitslosen empört zu haben, deren Leben seine Regierung ändern wolle, indem ihnen ein neues Leben außerhalb des Wohlfahrtssystems verschafft würde. Unmittelbar darauf beendete der Moderator die Debatte unter dem Vorwand, die Sendezeit sei abgelaufen [1].

Owen, der in seinem Buch "Chavs: The Demonisation of the Working Class" die sozialchauvinistische Verunglimpfung sozial schwacher Menschen anprangert [2], wollte von dem Minister wissen, wie er zu dem Tod des Behinderten Brian McArdle stehe. Der 57jährige Mann war infolge eines Blutgerinsels im Gehirn halbseitig gelähmt, auf einem Auge blind und konnte nicht richtig sprechen. Dennoch wurde er zu einem Test eingeladen, mit dem die Firma Atos Healthcare im Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Pensionen (DWP) Behinderte daraufhin überprüft, ob sie trotz vorhandener ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht doch noch auf irgendeine Weise Lohnarbeit verrichten könnten. Das Ergebnis des Tests war positiv, so daß McArdle darüber informiert wurde, daß man ihm die Behindertenrente streichen werde. Einen Tag darauf erlitt er einen Herzanfall und verstarb. Sein 13jähriger Sohn Kieran schrieb daraufhin an Atos, daß diese Überprüfungen "liebenswerte Menschen wie meinen Vater umbringen".

Um den durch die Refinanzierung angeschlagener Banken und Steuergeschenke an die Reichen überschuldeten Staatshaushalt des Vereinigten Königreichs zu sanieren, sollen die rund 2,6 Millionen Empfänger von Behindertenrenten und -beihilfen bis 2014 einen erheblichen Beitrag zu den Kürzungen leisten, mit der die Regierung alle von Sozialtransfers abhängigen Menschen überzieht. Rund 3000 Menschen täglich müssen sich landesweit den seit 2008 durchgeführten Tests - Work Capability Assessment (WCA) - aussetzen, obwohl der bis dahin nachgewiesene Mißbrauch von Sozialtransfers durch Behinderte lediglich 0,5 Prozent betrug. Dementsprechend groß ist die Empörung der Behindertenverbände. Ihre Mitglieder sehen sich nicht nur zum Objekt unberechtigten Mißtrauens degradiert, sie beklagen, daß die Verschärfung der Kriterien für die Arbeitsfähigkeit Behinderter und deren wiederholter Überprüfung auch bei Vorliegen unheilbarer und tödlich verlaufender Erkrankungen zu Lasten ihrer Lebensqualität und ihres Lebens als solchem geht.

Seit Beginn der Maßnahme häufen sich Berichte darüber, daß Betroffene nach Entzug ihrer Sozialleistungen Selbstmord begingen oder verstarben, kurz nachdem sie aufgrund ihrer angeblichen Arbeitsfähigkeit einen Job übernommen haben. Im Rollstuhl sitzende Behinderte brechen zusammen, wenn sie während der Tests genötigt werden, den Beweis anzutreten, daß sie nicht laufen können; Patienten mit Krebs im Endstadium oder schwerwiegender Multipler Sklerose müssen sich zur Arbeit schleppen, um nicht ihre Unterstützung zu verlieren; Zahlungen für barrierefreies Wohnen und medizinische Maßnahmen werden gestrichen aufgrund einer Prozedur, bei der die Atos-Mitarbeiter tunlichst vermeiden, mit den Betroffenen Augenkontakt aufzunehmen, während sie die einzelnen Punkte ihrer Listen abhaken. In dem Report "The People's Review of the Work Capability Assessment" [3] berichten über 70 von diesen Tests und den Auswirkungen der Bedrohung, gänzlich ohne Einkommen zu bleiben, Betroffene über ihr Schicksal.

In einer Ende Juli ausgestrahlten Dokumentation des Fernsehsenders Channel Four [4] wurde darüberhinaus ruchbar, daß Atos Healthcare ihren 100 Millionen Pfund schweren Auftrag auf eine Weise erfüllt, die nahelegt, daß medizinische Diagnosen zwecks Kostensenkung systematisch relativiert oder mißachtet werden. Ein Arzt, der sich im Auftrag des Senders bei der Firma bewarb, um Behindertentests vorzunehmen, berichtete, daß seine Arbeit daraufhin überprüft wird, ob er nicht zu vielen Betroffenen attestiert, zur Inanspruchnahme staatlicher Versorgungsleistungen aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Probleme berechtigt zu sein. Diese von der Regierung und von Atos bestrittene Behauptung wird in der Dokumentation von einem weiteren Mediziner bestätigt, der behauptet, das zuständige Ministerium habe Zielvorgaben für die Evaluationen festgelegt.

Die dabei angelegten Kriterien für Arbeitsfähigkeit sind so weit gefaßt, daß selbst bei Behinderten, die nur einen Finger bewegen können, um einen Knopf zu drücken, Abstriche vom Maximum möglicher finanzieller Unterstützung gemacht werden können. Letztlich erscheinen die Betroffenen beim Ausfüllen der Checkliste, die als Ergebnis der überprüften physischen und kognitiven Fähigkeiten lediglich "Ja" oder "Nein" anbietet, als bloßer Baukasten zu vernutzender Funktionen. So kommt der medizinische Ethos des von Atos Healthcare eingestellten medizinischen Fachpersonals, ein Urteil über die jeweilige Verfaßtheit der Testpersonen allein anhand medizinischer Kriterien zu fällen, unter die Räder einer Kosteneffizienz, der kein Leben standhält, das sich nicht rentabel rechnet.

37 Prozent der ersten 141.100 überprüften Behinderten wurden als arbeitsfähig eingestuft und verloren ihre Unterstützung ganz oder teilweise. Auch wenn bis zu 40 Prozent der gerichtlichen Widersprüche von Betroffenen dazu führen, daß das Testergebnis aufgehoben wird, geht unter den britischen Behinderten die nackte Angst vor den Atos-Inspektoren um. Honoriert wurde dieser Einsatz des Konzerns Atos für den leistungsfähigen kapitalistischen Staat mit dem Titel eines Unternehmens, das sich durch besonders verantwortungsvolle Corporate Governance auszeichnet. 2011 wurde es in Anerkennung für seine ökologischen wie sozialen Leistungen in die dafür vorgesehenen Börsenindices FTSE4GOOD und ASPI Eurozone aufgenommen.

Es ist eine in der neoliberalen Gesellschaft als wünschenswert erachtete Politik, das Elendsproletariat auszuhungern und auf diese Weise mit einem Selektionsdruck zu überziehen, der die Schwachen einer biologischen Lösung zuführt, während die Starken sich als nützliche Mitglieder der Gesellschaft rehabilitieren können, indem sie sich willig und bereit zeigen, jede noch so menschenfeindliche Arbeit zu jedem noch so geringen Lohn zu verrichten. Daß das keine polemische Überspitzung ist, dokumentieren Mitglieder des neofeudalen Standes wie Iain Duncan Smith, wenn sie sich nicht einmal anhören wollen, wie es Menschen ergehen kann, die sie mit ihrer Politik in existentielle Not bringen. Der Minister weigerte sich nicht nur, Stellung zum Tod des als arbeitsfähig erachteten Brian McArdle zu beziehen, er unterbrach Owen Jones just in dem Moment, als er den Namen Karen Sherlock gerade noch aussprechen konnte. Die im Sommer verstorbene Behindertenaktivistin kämpfte gegen den Entzug ihrer Sozialleistungen und hatte ihre Auseinandersetzung mit Atos ausführlich in ihrem Blog dokumentiert.

Der mit der Sozialhilfereform direkt betraute, bereits von der Labour-Regierung unter Tony Blair mit der Privatisierung der Sozialpolitik betraute Staatssekretär David Anthony Freud, Mitglied im House of Lords, brachte das Verhältnis seiner Klasse zu mittellosen hilfsbedürftigen Menschen kürzlich mit einer bezeichnenden Aussage auf den Punkt sozialdarwinistischer Auslese: "Menschen, die ärmer sind, sollen dazu bereit sein, die größten Risiken auf sich zu nehmen, denn sie haben am wenigsten zu verlieren" [5]. Seiner Ansicht nach verführe ein System der öffentlichen Wohlfahrt, das ein angemessenes Leben sichert, die Leistungsempfänger nur dazu, aus einer Nothilfe einen "Lebensstil" zu machen. Der ehemalige Investmentbanker war niemals mit der Angst konfrontiert, hungrig auf der Straße sitzen zu müssen. Er hat viel zu verlieren und seine Zeit ist daher zu wertvoll, um sich Sorgen um die Nöte anderer Menschen zu machen.

Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, die Bedürfnisse der Bevölkerungen vollständig durch Lohnarbeit zu befriedigen, geschweige denn allen Menschen ein Auskommen zu bieten, das sie nicht dem Zwang unterwirft, widrige Arbeitsbedingungen und herrschaftliche Willkür zu erleiden. Dennoch erscheint der aktive Entzug von Sozialleistungen bei arbeitsunfähigen wie arbeitsfähigen Erwerbslosen in der Darstellung neoliberaler Sozialingenieure als bloße Disziplinierung notorischer Verweigerer. Die Peitsche des Mangels wird geschwungen, um auch nur den Gedanken daran, gegen die kapitalistische Arbeitsgesellschaft zu revoltieren, im Keim zu ersticken. Die Behauptung, daß Arbeit frei mache, hat in Britannien wieder den Rang öffentlich anzustellender Überlegungen erreicht, so daß später niemand behaupte, er habe nicht wissen können, worauf das Social Cleansing der Sparbremsen und Austeritätsdoktrin hinausläuft.


Fußnoten:

[1] http://anotherangryvoice.blogspot.de/2012_11_01_archive.html

[2] http://www.hintergrund.de/201209172242/feuilleton/zeitfragen/den-prolls-die-fresse-polieren.html

[3] http://wearespartacus.org.uk/wp-content/uploads/2012/11/The-Peoples-Review-of-the-Work-Capability-Assessment.pdf

[4] http://www.guardian.co.uk/society/2012/jul/27/disability-benefit-assessors-film

[5] http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2012/nov/23/lord-freud-welfare-poor-risk

27. November 2012