Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/1051: Dem Elend Beine gemacht - Ertüchtigung zur Arbeit (SB)




Bewegung wirkt Wunder, so die gängige Lesart sozialmedizinischer Präventionsdoktrin. Was je nach individueller körperlicher Verfassung zutreffen mag oder auch nicht, wurde zwecks betriebswirtschaftlicher Kostensenkung zu einer Verhaltensanweisung verallgemeinert, die denjenigen, die sich ihr widersetzen, die Verantwortung an der Verbreitung sogenannter Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Problemen auflastet. Wer rastet, der rostet nicht nur, er macht sich schuldig am Gemeinwesen, indem er ihm angeblich vermeidbare Gesundheitskosten aufbürdet.

Daß mit dieser Doktrin der Befehl der Arbeitsgesellschaft ausgeführt wird, sich ihrem Leistungsdiktat zu unterwerfen, ist ein offenes Geheimnis. Wo die Totalerfassung des Homo oeconomicus zum Zwecke seiner Einspeisung in die auf Produktivitätssteigerung um jeden Preis geeichte Gesellschaftsmaschine verlangt wird, da wird jede Form des Eigensinns oder der Eigenbewegung als unzulässiger Widerstand, ja Sabotage an diesem Vorhaben verworfen. Wie also das störrisch auf die Impulse und Reflexe seiner Physis beharrende Subjekt nicht nur mit dementsprechend bescheidenen Ergebnissen zur Arbeit zu nötigen, sondern es glauben zu machen, daß es nichts schöneres gibt, als sich der Knochenmühle im 24/7-Zeitregime permanent zur Verfügung zu stellen?

Die Antwort des aktivierenden Sozialstaates besteht bekanntlich im Fördern und Fordern, wobei letzteres angesichts der realen Unverfügbarkeit angemessen bezahlter Lohnarbeit immer stärker betont und ersteres immer weniger angeboten ist. Wer nicht das zweifelhafte Glück hat, als zum Unternehmer seiner selbst geadelte Ich-AG der Verwechslung zu unterliegen, in Eigenverantwortung zu handeln, anstatt auf Gedeih und Verderb den Produktionsverhältnissen ausgesetzt zu sein, dem muß zu selbigem verholfen werden, indem andere darüber befinden, was gut oder schlecht für ihn ist. So geht das Jobcenter Brandenburg an der Havel ganz neue Wege, um seinen "Kunden" im Wortsinn Beine zu machen.

Zwar haben die in anwachsendem Maße über Hartz-IV-Bezieher verhängten Sanktionen längst den Charakter einer offenen Disziplinarmaßnahme angenommen, wirkt sich doch das bloße Versäumnis, zur vorgeschriebenen Zeit im Jobcenter anzutreten, als noch größeres Loch im ohnehin kaum gefüllten Geldbeutel aus. Wo jedoch der bloße Entzug materieller Teilhabe nicht genug zwingende Gewalt freisetzt, da wird zu - im euphemistischen Jargon der Sozialingenieure - "proaktiven" Maßnahmen gegriffen. 18 "Kunden" und fünf Mitarbeiter des Jobcenters tragen sechs Wochen lang einen Schrittzähler, um es abschließend schwarz auf weiß zu haben, wer der Faulste im ganzen Land ist. Dies natürlich nur ganz inoffiziell, denn laut dem Geschäftsführer des Jobcenters geht es dabei um das auf diese Weise bestenfalls für Masochisten erstrebenswerte Ziel, sich als Arbeitsloser "Lust auf mehr Bewegung und Aktivität im Alltag" [1] machen zu lassen. Erreicht werden soll dies mit einem typischen Instrument sozialdarwinistischer Zurichtung, der vergleichenden Bewertung der individuellen Bereitschaft, einer verordneten Optimierungsmaßnahme Folge zu leisten.

Greifen derartige Methoden der physischen Evaluation um sich, dann wird das tayloristische Regime der Fabrikarbeit, bei dem jeder Handgriff mit dem Ziel vermessen wird, angeblich überflüssige Bewegungen auszuschließen und die gekaufte Arbeitskraft dadurch effizienter einzusetzen, auf das ganze Leben ausgeweitet. Nicht nur die Steigerung der Produktivität, sondern auch die Minderung der Unproduktivität soll objektiv erfaßt werden, wobei es im Endeffekt unerheblich ist, ob das angestrebte Ergebnis in irgendeinem Zusammenhang zu dem Ziel steht, "den Teufelskreis von Arbeitslosigkeit und Krankheit zu durchbrechen" [1]. Allein die Unterstellung dieser fatalen Zwangslage belegt, wie wenig die Durchsetzung der generalisierten Krankheitsprävention etwas damit zu tun hat, ob der Betroffene einen Job erhält oder nicht. Es geht lediglich darum, die zugrundeliegende Bezichtigungslogik, laut der persönliches Versagen, um nicht zu sagen Verweigerung die soziale Misere der Erwerbslosigkeit bedinge, in ihrer Gültigkeit zu bestätigen und zu vertiefen.

Der Griff des absterbenden Sozialstaates in die Subjektivität überflüssig gemachter Menschen, unter anderem exekutiert mit sanktionsbewehrter Rauchentwöhnung von Jobcenter-"Kunden", findet sein Pendant in der immer tiefer in alle körperlichen und geistigen Belange eingreifenden Motivationstechnologie, mit der Erwerbstätige darauf konditioniert werden, sich aus freien Stücken ein Bein auszureißen, um im Betrieb zu glänzen oder sich für den nächsten Auftrag zu empfehlen. Grundlage all dessen ist das Zählen nicht nur der Schritte, das in der Arbeitswelt längst Einzug gehalten hat, wenn etwa die Verweildauer medizinischen Personals am Krankenbett und die beim Zurücklegen des Weges von einer Station zur anderen verbrauchte Zeit mittels personifizierter Lokalisationsdaten exakt verbucht wird. Abgerechnet wird nicht erst am Schluß, sondern zu jeder Zeit, in der die vergleichende Bewertung des individuellen Einsatzes um das größere Ganze eines erfolgreichen Geschäftsergebnisses Rationalisierungseffekte produziert. Von einer Matrix passiver Kontrolle auszugehen ist überholt, wenn die davon Betroffenen zu Agenten der eigenen Optimierung mutieren und aus der Not unberechenbarer Subjektivität die Tugend kalkulierbarer Verfügbarkeit machen.

Um die gekaufte Arbeit als zu vernutzendes Quantum an humaner Produktivkraft so kosteneffizient und gewinnbringend wie möglich einzusetzen, ist die Vermessung des Menschen zur Verschärfung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wie zur Erwirtschaftung "positiver Skaleneffekte" - um im von Blut, Schweiß und Tränen bereinigten BWL-Jargon zu bleiben - das probate Mittel der verwissenschaftlichten Arbeitsorganisation. Auf der Strecke bleibt, und das ist der programmatische Kern der neoliberalen Optimierungsdoktrin, jeder Gedanke daran, sich auf die eigene Streitbarkeit zu besinnen und womöglich Widerstand gegen die Auspressung der Lebenszeit und -kraft durch ein Kapitalinteresse zu leisten, dem es seiner naturhaften Zwangsglogik nach völlig gleichgültig ist, wie es sich verwertet. Die Bemeßbarkeit der Arbeit bedingt die Unberührbarkeit der Maßstäbe, anhand derer sie vollzogen wird, um nicht angreifen zu können, was in der Vergleichbarkeit des Menschen zum Abstraktum seiner Beherrschbarkeit gerät. Daß das Verhältnis von Kapital und Arbeit Verhandlungssache wäre, wird um so wirksamer widerlegt, als die einzelnen Arbeitskraftunternehmer sich in der praktischen Entsolidarisierung ihrer vergleichsgestützten Spaltbarkeit die fremde Subjektivität des gesellschaftlichen Arbeitsethos aufherrschen lassen.

Und so wird der Mensch im Blick auf die Anzeige gegangener Schritte und in Sicht auf die noch vor ihm liegende Wegstrecke aus der Gleichung zwischen objektiver Forderung und subjektiver Not, ihr Folge zu leisten, schlicht herausgestrichen. Was bleibt, ist der exakt bezifferbare Verlust einer Elendsverwaltung, deren Anspruch, ihre "Kunden" für Lohnarbeit fit zu machen, im fortschreitenden Substanzverlust kapitalistischer Wertschöpfung als um die Achse eigener Existenzrechtfertigung rotierender Selbstzweck vergeht. Nicht die Arbeitslosigkeit ist das Problem, noch weniger die Weigerung, sich der Verwaltung des daraus entstandenen Mangels zu fügen. Der uneingelöste Anspruch des Menschen auf ein Leben, das jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung streitbar entgegentritt, läßt nichts anderes zu, als das soziale Verhältnis namens Arbeit negativ zu bestimmen. Alles weitere liegt außerhalb des Horizonts jener Maßstäbe, mit Hilfe derer Herrschaft überhaupt erst möglich wird.

Fußnote:

[1] http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/schrittzaehler-fuer-hartz-iv-bezieher-9001230.php

5. Dezember 2012