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RAUB/1087: Rohstoff Mensch - Fremdnützige Forschung an Demenzkranken? (SB)



Fremdnützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten war schon in den Debatten um die Bioethikkonvention des Europarates vor 20 Jahren ein höchst kontroverses Thema. Nicht zuletzt deshalb, weil dieser 1999 in Kraft getretene völkerrechtliche Vertrag der Liberalisierung bioethisch prekärer Methoden und Verfahren Vorschub leistet, wurde er von der Bundesrepublik bis heute weder unterzeichnet noch ratifiziert. Mit dem Vierten Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften will Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nun ermöglichen, daß insbesondere Demenzkranke für Forschungszwecke eingespannt werden können, die für sie persönlich keinen Nutzen haben müssen, sondern erst von kommenden Generationen in Anspruch genommen werden könnten. Die Zustimmung dazu sollen sie im Rahmen einer Patientenverfügung geben. Diese ist eigentlich dazu gedacht, individuelle Selbstbestimmung im Krankheitsfall und am Lebensende so weitgehend wie möglich zu gewährleisten, indem zum Beispiel der Einsatz lebensverlängernder Maßnahmen wie die einer künstlichen Beatmung oder anderer Praktiken der sogenannten Apparatemedizin von vornherein ausgeschlossen werden können.

Daß diese Vorkehrung, die der Vermeidung als leidvoll erwarteter Formen medizinischer Behandlung gewidmet ist, in den Dienst einer im besten Falle gemeinnützigen, im schlechteren Falle jedoch vor allem die Geschäftsinteressen der Pharmaindustrie wahrenden Forschung gestellt werden soll, veränderte die gesamte Konzeption der Patientenverfügung. Menschen, die keinerlei Erfahrung mit Demenz, geschweige denn Pharmaforschung haben, aufzufordern, sich derartigen Interventionen in ihr Leben lange vor dem Eintreten einer solchen Erkrankung zu überantworten, stellt als solches schon eine Überforderung dar. Dies könnte dazu führen, daß viele Patienten, die ansonsten gerne die medizinischen Bedingungen ihres Ablebens im Voraus geregelt hätten, davon Abstand nehmen, was eine objektive Einschränkung ihrer Autonomie darstellt.

Schlimmer jedoch ist der Angriff auf die leibliche Integrität von Menschen, die sich moralisch verpflichtet fühlen, ihre Körper einem vermeintlich allgemeinen Nutzen zu überantworten, den sie weder überblicken noch bewerten können. Die im Kontext des legislativen Prozesses erhobene Forderung, man müsse in der Bundesrepublik ohne individuellen Nutzen zum Fortschritt der Medizin beitragen, ansonsten dürfe man auch keine medizinischen Errungenschaften in Anspruch nehmen, die in Ländern erzielt wurden, wo fremdnützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten bereits erlaubt ist, bringt die ganze Verlogenheit der Moral zum Vorschein, mit der letztlich der Standort Deutschland für die kapitalistische Gesundheitswirtschaft entwickelt werden soll.

Wäre eine solche nationalstaatliche Konkurrenz in eine Gerechtigkeitsfrage verkehrende Moral tatsächlich relevant, dann könnte es keine Menschen geben, die in Ländern, deren Rohstoffe zugunsten des Erfolges deutscher Unternehmen und des Wohlbefindens deutscher Esser ausgebeutet werden, verhungern, um nur ein Beispiel für die zahllosen Praktiken höchst ungerechter Formen globalen Wirtschaftens zu nennen. Menschen für die Überlebensinteressen anderer zu verwerten ist seit jeher schlechte kapitalistische Praxis und wird nicht dadurch besser, daß sie mit dem schönen Schein humanitärer oder karitativer Absichten ummäntelt wird. Wenn notleidenden Bevölkerungen im Globalen Süden per Patentschutz und Lizenzgebühren millionenfach lebensnotwendige Medikamente vorenthalten werden, dann ist der Verweis darauf, mit einer eher restriktiven Bioethik illegitimerweise von Forschungsergebnissen zu profitieren, die in liberaleren Gesellschaften erwirtschaftet wurden, nur zynisch zu nennen.

Im Kern geht es bei diesem Vorstoß bioethischer Deregulierung darum, den Anspruch des Menschen auf die Autonomie seiner Leiblichkeit auszuhöhlen, um den Körper, seine Gewebe und Organe selbst zum Objekt kapitalistischer Verwertung zu machen. Heute schon verkaufen Menschen in den Ländern des Südens Nieren an Patienten, mit denen sie lediglich in einer Geldbeziehung stehen, wobei die sogenannten Spender sich häufig in einer Situation drängender Überlebensnot befinden. Biomedizinische Dienstleistungen wie sogenannte Leihmutterschaften oder die bezahlte Teilnahme an Medikamententests beuten die anwachsende ökonomische Not zugunsten eines Fortschritts aus, an dessen Ergebnissen längst nicht alle Menschen teilhaben, sondern deren realer Nutzen sich zusehends auf gesellschaftliche Eliten beschränkt. Was heute als Ausweitung des Patiententschutzes auf medizinische Gemeinnützigkeit beworben wird, kann sich morgen schon als sozial und ökonomisch bestimmtes Zwangsverhältnis erweisen. Von daher ist denjenigen Abgeordneten, die diesen Schritt in innovative Formen menschlicher Ausbeutung ablehnen, großes Standvermögen zu wünschen.

8. Juni 2016


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