Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


RAUB/1130: Zweckdienlich - und da staunt ihr noch ... (SB)



Selbst die Bundeskanzlerin sah sich genötigt, die Schadstofftests an Affen und Menschen zu verurteilen, die nach Möglichkeit die Harmlosigkeit von Auspuffabgasen belegen sollten. Sie seien "ethisch in keiner Weise zu rechtfertigen", ließ sie Regierungssprecher Steffen Seibert verkünden. Die Autokonzerne müßten Schadstoffemissionen begrenzen und Grenzwerte einhalten, aber nicht die vermeintliche Unschädlichkeit von Abgasen beweisen [1], hieß es aus dem Kanzleramt. Dabei soll die Menge an Stickstoffdioxid, der eine Gruppe von 25 Menschen ausgesetzt wurde, nicht einmal den SO2-Grenzwert am Arbeitsplatz überschritten haben. Was aus den zehn Primaten wurde, die im Auftrag einer von Volkswagen, Daimler und BMW finanzierten Initiative namens Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor (EUGT) vier Stunden lang die Abgase eines VW Beetle einatmen mußten, ist bislang nicht bekannt geworden. Dererlei Tests gehören jedoch zum Alltag der Tierversuchsindustrie. Woher also die plötzliche Aufregung über eine Testpraxis, die bei weitem nicht nur für die Zulassung möglicherweise lebensrettender Medikamente, sondern zur Feststellung der Unbedenklichkeit zahlreicher Konsumartikel des alltäglichen Gebrauchs gang und gäbe ist?

"Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen", [2] heißt es gleich am Anfang des deutschen Tierschutzgesetzes. Gegenüber der Ohnmacht des einzelnen Tieres, in einem Käfig oder einer Fixiereinrichtung größte Schmerzen zu erleiden, um am Ende getötet zu werden, weil die Testergebnisse an inneren Organen oder Geweben verifiziert werden müssen, ist die Macht der Vernunft grenzenlos. Die Gründe, aufgrund derer 2016 dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zufolge 2.854.586 Tiere für wissenschaftliche Zwecke "verwendet", sprich verbraucht wurden, sind so zahlreich wie das dabei angerichtete Leid unauslotbar. Ob im Rahmen der Grundlagenforschung getötet oder zum Zwecke der Medikamenten- und Ernährungssicherheit umgebracht, ist für die davon betroffenen Schweine, Hunde, Kaninchen, Mäuse, Ratten, Vögel, Fische belanglos. Sie erleben einfach nur, daß ihnen Gewalt angetan wird von Menschen, die bis dahin fürsorglich mit ihnen umgegangen sind, nicht um ihrer selbst willen, sondern um für Kooperation der Forschungsobjekte im Labor zu sorgen.

Jedes Jahr sterben rund 250.000 Wildtiere auf den Straßen der Republik, ohne daß sich ein leises Lüftchen des Protestes über diese mörderische Bilanz regt. Die Zerstörungskraft des motorisierten Individualverkehrs ist nicht nur hinsichtlich der Kontamination der Luft mit für die Physiologie atmender Lebewesen unzuträglichen Gasen und Stäuben immens. Sie manifestiert sich in der Fragmentierung der Landschaft durch Hochgeschwindigkeitstrassen, die nicht einfach überquert werden können, in der Versiegelung des immer knapper werdenden Bodens, in der Privatisierung des urbanen Raums durch mobile Wohnzimmer, in der permanenten Bedrohung von Fußgängern und Radfahrern durch die Beschleunigung tonnenschwerer Wagen, in dröhnendem Lärm und allgemeiner Brutalisierung sich einander an der Ampel und im Stau im Weg stehender Verkehrsteilnehmer. Von den destruktiven Auswirkungen des fossilen Rohstoffkolonialismus in erdölproduzierenden Ländern, der Vertreibung und Ermordung von Menschen, die sich den Interessen von Bergbau- und Energiekonzernen widersetzen, und den ökologischen Katastrophen an den Orten, an denen die mineralischen Ressourcen des Autobaus gefördert werden, zu sprechen würde den Rahmen sprengen.

Allein das automobile Szenario der industriellen Produktionsweise belegt, daß diese Gesellschaft einem ununterbrochenen Großversuch unter Beteiligung all ihrer Insassen ausgesetzt ist. In den Primaten, anhand derer die angebliche Unbedenklichkeit des Einatmens automobiler Abgase bewiesen werden sollte, was nicht weiter verfolgt worden sein soll, da die Manipulation der dabei eingesetzten Software erst nach dem Tierversuch bekannt wurde, erkennt der Mensch das eigene Spiegelbild. Tagtäglich den immer komplexeren Zubereitungen einer Ernährungsindustrie ausgesetzt, deren Produkte mit Hilfe hochgradig suggestiver Botschaften in die Einkaufskörbe gedrückt werden, von dem gigantischen Medikamentenkatalog einer Pharmaindustrie gerade so am Leben gehalten, daß die eigene Arbeitskraft bis an ihr physisches Limit verwertet werden kann, die eigene Erlebniswelt in der Endlosschleife informationstechnisch induzierter Selbstbespiegelung auf eine leicht zu konsumierende Laune reduziert, die alles besetzt, was das Kontinuum der Unterwerfung durchbrechen könnte, in jeder sonst noch denkbaren Lebenstätigkeit und -funktion perfekt vermessen und verfügbar gemacht, fristet das Marktsubjekt sein Dasein im Laufrad einer Arbeitsgesellschaft, deren Zwecke und Interessen ihm so fremd sind wie dem Versuchstier die in das Auge geriebene Chemikalie oder das ins Futter gemischte Gift.

So signifikant die Affäre um die Manipulation der Abgaswerte bei VW und anderen für die Praxis kapitalistischer Verwertung ist, so sehr lenkt der dabei geltend gemachte Anspruch an Legalität von der fundamentalen Gewalt ihrer Vergesellschaftungsform ab. Suggeriert wird die Regelkonformität und Rechtmäßigkeit eines Geschäfts, das in der Monopolisierung aller Eigentumsansprüche und der Mißachtung des Eigeninteresses aller dabei ausgebeuteten Menschen und Lebewesen seinen normalen zweckdienlichen Verlauf nimmt. Diesen allen offenkundigen Katastrophen und Widersprüchen zum Trotz immer wieder herzustellen und zu bestätigen bedarf der kontrollierten Abweichung von der Norm und des davon gespeisten Erregungshaushaltes.

Zur effizienten Bewirtschaftung der Marktsubjekte reichen autoritäre Disziplin und offene Unterdrückung nicht aus. Es bedarf einer Sinnstiftung, die noch in der größten Krise den Silberstreifen der Hoffnung am Horizont aufblitzen läßt, schlußendlich im sicheren Hafen eigenen Überlebens anzukommen. Was dieses zentrale Mittel, auch die größte Erniedrigung demütig hinzunehmen, zuverlässig sabotiert, ist die Erkenntnis, gerade in größtmöglicher Gefahr nicht allein zu sein. Nichts könnte schlimmer sein, als wenn die Menschen anfingen, zwischen dem gemarterten Versuchstier, dem massenhaft verwursteten Mastschwein, dem durch Arbeitszwang unterjochten Lohnempfänger, dem im Krieg verheizten Soldaten, der zum Objekt maskuliner Gewalt degradierten Frau Verbindungen herzustellen, die unter dem Strich auf den immer gleichen Schmerz stoßen.


Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/mobilitaet/2018-01/abgastest-menschen-abgasskandal-volkswagen-daimler-versuche

[2] https://www.gesetze-im-internet.de/tierschg/BJNR012770972.html

29. Januar 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang