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RAUB/1203: Brasilien - Besitzstandsdilemma ... (SB)



(Wir fordern, jenen) gewaltigen und doch zerbrechlichen Lebenskreislauf, den unsere Wälder, Seen, Flüsse und Quellen bilden, zu schützen und zu erhalten - denn er ist die Quelle unserer Reichtümer, die Grundlage unserer Lebensformen und kulturellen Traditionen".
Chico Mendes (Manifest "In Verteidigung der Völker des Waldes") [1]

Der zur Legende gewordene Chico Mendes war zu Lebzeiten Gewerkschafter der Kautschukzapfer, Menschenrechtsverteidiger und Umweltschützer im Amazonasregenwald. Er wurde im Dezember 1988 von Großgrundbesitzern ermordet. Von ihm stammt das historische Manifest "In Verteidigung der Völker des Waldes", das auf seine Initiative hin die Ureinwohner und die Organisation der Kautschuksammler gemeinsam verabschiedeten. Mendes war Mitbegründer der Arbeiterpartei (PT), aus der die späteren Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (2003 bis 2011) und Dilma Rousseff (2011 bis 2016) hervorgingen. Ungeachtet dieser Herkunft seiner Partei sollte Lula als der Präsident in die Geschichte dieses Jahrhunderts eingehen, in dessen Amtszeit bislang die größte Fläche des Amazonasregenwaldes vernichtet und ein gigantischer Staudamm genehmigt wurde, der nicht nur die ökologischen Verhältnisse in der Region massiv beeinträchtigt, sondern auch die Vertreibung indigener Völker zur Folge hatte. Die Umweltaktivistin Marina Silva, eine enge Mitstreiterin von Chico Mendes, die Lula später zu seiner Umweltministerin machte, trat wegen dessen umstrittener Umweltpolitik 2008 aus dem Kabinett aus.

In der Folgezeit konnte das Kabinett Rousseff die Abholzung des Amazonas eindämmen, was einer der Gründe war, sie mit einem kalten Putsch aus dem Amt zu treiben und durch Michel Temer, eine Marionette einflußreicher politischer und wirtschaftlicher Kreise, zu ersetzen. Auf diesen Platzhalter folgte mit Jair Bolsonaro am 1. Januar 2019 ein rechtsextremer Präsident als Kandidat der weißen und männlichen Eliten des Landes. Der ehemalige Fallschirmjäger und Hauptmann der Reserve steht für eine Krisenbewältigung im Dienst der reichsten und mächtigsten Fraktionen Brasiliens, einer Allianz aus religiösen Fundamentalisten, Militärs und Großgrundbesitzern, der sogenannten Bancada BBB, der Bibel-, Blei- und Bullenfraktion, unterstützt von weiteren einflußreichen Wirtschaftskreisen, Investoren und der US-Regierung. Seine Antwort auf die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes, während der das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2015 und 2016 um acht Prozent sank und von der sich die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas mit rund 210 Millionen Einwohnern so langsam wie nie zuvor erholt, ist die Verherrlichung der Militärdiktatur (1964-1985), das Heilsversprechen einer rigorosen "Säuberung" und eine rassistische Feindbildproduktion, die nicht-weiße Menschen, Frauen, Minderheiten und emanzipatorische Bewegungen zum Freiwild erklärt.

Für die zahlreichen indigenen Völker Brasiliens, die in Schutzgebieten leben, brechen schwere Zeiten an. "Nicht einen Millimeter mehr" wolle er ihnen Platz geben, sagte Bolsonaro im Wahlkampf. 129 dieser Gebiete sollen überprüft, der Schutzstatus könnte ihnen entzogen werden. Bolsonaro ist jedoch nicht nur eine Gefahr für zahllose Menschen in Brasilien, sondern für die gesamte Welt. Zu den zentralen Projekten der neuen Regierung gehört es, das Amazonasgebiet zur wirtschaftlichen Ausbeutung freizugeben. Dem größten Regenwald der Erde kommt eine essentielle Rolle bei dem Versuch zu, den Klimawandel doch noch zu bremsen. Bolsonaro und die Agrarlobbyisten, die mit ihm an die Macht gelangten, leugnen das.

Zahlen des Projekts Global Forest Watch (GFW) zufolge nahm Brasilien im vergangenen Jahr einen traurigen Spitzenplatz ein. Dort seien 1,35 Millionen Hektar an ursprünglichem Regenwald unter anderem Weideflächen zum Opfer gefallen. Urwälder der ältesten Generation, die aus jahrhunderte-, teils sogar jahrtausendealten Bäumen bestehen, halten besonders viel Kohlenstoff gespeichert und können - einmal abgeholzt - nicht wieder in ihren Originalzustand zurückversetzt werden. Angesichts des fortschreitenden Klimawandels ist die forcierte Entwaldung im Amazonasregenwald von außerordentlicher Relevanz. Der Amazonaswald ist einer der wichtigsten CO2-Speicher weltweit und wird deshalb auch die "grüne Lunge" des Planeten genannt. Schon heute setzen Rodungen dort jedes Jahr mehr als 500 Millionen Tonnen CO2 frei, hinzu kommen ungefähr 160 Millionen Tonnen durch die Entwaldung der Savannen. [2]

In seiner ersten Pressekonferenz mit ausländischen Korrespondenten seit seinem Amtsantritt hat Bolsonaro seine Pläne verteidigt, den Amazonasregenwald wirtschaftlich auszubeuten. Er attackierte europäische Regierungschefs, die in seinen Augen unter einer "ökologischen Psychose" litten: "Die erste Sache, die ihr verstehen müsst: Der Amazonas gehört uns, nicht euch." Seine Regierung versuche, wirtschaftlichen Fortschritt und Regenwaldschutz in Einklang zu bringen. "Wir arbeiten gerne zusammen mit allen Staaten, welche die Biodiversität des Amazonas wirtschaftlich nutzen wollen." Berichte des brasilianischen Instituts für Weltraumforschung (INPE), wonach die Abholzung im Amazonaswald zwischen Juni 2018 und Juni 2019 um 88 Prozent zugenommen hat, nannte er "verlogen" und kündigte an, den Institutsleiter für eine Erklärung herbeizuzitieren. Darauf erwiderte INPE-Präsident Ricardo Galvao wenig später, die Daten des Instituts würden seit Jahrzehnten erhoben und weltweit respektiert. Bolsonaro sprach anderen Ländern das moralische Recht ab, Brasilien zu belehren. "Ihr habt doch eure Ökosysteme längst zerstört", höhnte er. "Und wir sind nicht auf dem gleichen Weg wir ihr." [3]

Wie sein erklärtes Vorbild Donald Trump um offenkundige Lügen nie verlegen, behauptete Bolsonaro, kein Land weltweit schütze so viel Wald wie Brasilien im Verhältnis zu seiner Größe: "Sie werden im nördlichen Amazonas nicht einen Hektar abgebrannter Fläche finden." Beim G20-Treffen in Japan war er vor allem von Frankreich und Deutschland wegen seiner Amazonas- und Umweltpolitik in die Kritik geraten. "Niemand hat das Recht, uns zu belehren, wie wir mit dem Wald umgehen", so der brasilianische Staatschef. In Europa gebe es doch kaum noch einen Hektar Urwald. Angaben des Nationalen Instituts für Weltraumforschung über rasant wachsende Rodungsraten würden im Interesse ausländischer NGOs erhoben. Die Vergangenheit habe gezeigt, daß die Prognosen der Umweltschützer über die Abholzungsraten nicht stimmten. Denn ginge es nach den früheren Prognosen, wäre der Amazonas schon längst in Flammen aufgegangen.

Bolsonaro will die Schutzgebiete der Indigenen für Bergbau und Landwirtschaft öffnen. Gleich nach seinem Amtsantritt übertrug er die Zuständigkeit für die Schutzgebiete der indigenen und afrobrasilianischen Gemeinschaften dem Landwirtschaftsministerium, an dessen Spitze er die einflußreiche Agrar-Lobbyistin Tereza Cristina setzte, womit er den Bock zum Gärtner machte. Die Kritik an der Indigenenpolitik seiner Regierung hält er für ungerechtfertigt: "Ihr wollt, dass die Indigenen wie Urvölker weiterleben, ohne Zugang zu Wissenschaft, Technologie, den ganzen Errungenschaften der Zivilisation." Den meisten Ausländern wären die Menschenrechte der Indigenen gleichgültig. "Es ist ein Verbrechen zu fordern, dass sie in ihren Reservaten sich selbst überlassen sein sollen."

Da der Vertrag zwischen der EU und dem Mercosur, der nach 20jährigen Verhandlungen geschlossen wurde, mit hohen Umweltauflagen verbunden ist, kann Brasilien nicht einfach, wie von Bolsonaro im Wahlkampf verkündet, etwa das Pariser Klimaschutzabkommen verlassen. Irland und Frankreich drohen damit, das Handelsabkommen zu kippen, sollte sich das Vorgehen des Präsidenten im Amazonasregenwald nicht signifikant ändern. Davon zeigte sich Bolsonaro bislang unbeeindruckt. So will seine Regierung Geld aus dem von Norwegen und Deutschland finanzierten Amazonas-Fonds zweckentfremden, das Waldgesetz aufweichen und Strafen für Umweltsünder lockern. Seit 2009 zahlte Norwegen rund 1,2 Milliarden US-Dollar in den Fonds ein, Deutschland etwa 68 Millionen, rund die Hälfte dieser Summe wurde an Waldschutzprojekte weitergereicht. Bolsonaro plant, einen Teil dieser Mittel für Entschädigungen von Landbesitzern zu verwenden, die zugunsten von Schutzgebieten enteignet wurden. [4]

Die Mehrheit der Landbesitzer, die in den Genuß der Entschädigung kämen, hat sich das Land jedoch illegal angeeignet. Wissenschaftliche und Umweltschutzorganisationen bestätigen, daß der Fonds seinen Zweck erfülle und dazu beigetragen habe, die Abholzung zu vermindern. Norwegen und Deutschland müßten als größte Geldgeber einer Umverteilung zustimmen. Unterdessen prüft sogar die brasilianische Justiz den umweltpolitischen Kurs des Präsidenten und beantragte kürzlich eine Untersuchung gegen das Umweltministerium. Der Behörde wird zur Last gelegt, die Einhaltung von Gesetzen nicht zu kontrollieren und nichts gegen illegale Abholzung zu unternehmen.

Das Schwellenland Brasilien steckt nach wie vor in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Regierung und Zentralbank haben kürzlich ihre Prognosen für das Wachstum im laufenden Jahr auf 0,8 Prozent gesenkt. Die wachsende Kritik an Brasiliens Agrarpolitik hält Bolsonaro für eine Strategie seiner Gegner in einem weltweiten Handelskrieg, in dem sich ein Rohstofflieferant wie Brasilien befinde. Da die Agroindustrie zu den wenigen Branchen gehört, die noch profitabel arbeiten, und auf unablässige Ausweitung ihrer Flächen drängt, erklärt der Präsident die Vernichtung des Amazonasregenwaldes zu einer Frage der nationalen Souveränität. Vor allem China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern hat zur Sicherung seiner Versorgung ein Auge auf Brasilien geworfen, das zu seiner Speisekammer werden soll. Der Handelskrieg zwischen China und den USA könnte Brasilien um so mehr in den Fokus chinesischer Interessen rücken, wobei insbesondere der Bedarf an Sojabohnen, die als Futtermittel für Masttiere verwendet werden, rasant wächst. Brasilien ist der weltweit größte Sojalieferant und profitiert von den verhängten chinesischen Importzöllen auf US-amerikanisches Soja.

Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur könnte ein Schlüssel sein, die Vernichtung des Regenwaldes zu bremsen, hofft Marina Silva. Europa müsse Druck auf die brasilianische Regierung machen, damit diese die Klimaschutzziele einhält. Druck allein dürfte allerdings nicht reichen, solange der Rest der Welt Brasilien keine ökonomische Alternative zur aktuellen Agrarpolitik anbietet, denn China zahlt zuverlässig, während aus Europa vor allem Belehrungen kommen. Auch Deutschland importiert Soja aus Brasilien, hat aber seit Bestehen des Amazonas-Fonds weniger als 7 Millionen US-Dollar jährlich dafür aufgewendet. Mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein scheint auch der Bundesregierung die Rettung des Regenwaldes nicht wert zu sein, während die hiesige Wirtschaft mit Macht auf gute Beziehungen zu Bolsonaro drängt, um ihre Geschäfte zu fördern. So wenig das auch nur einen Hauch an der Einschätzung dieses rechtsradikalen Präsidenten ändern kann, ist sein Treiben doch nur im Zusammenhang des internationalen Interessengeflechts angemessen auszuloten.


Fußnoten:

[1] rp-online.de/politik/ausland/amazonas-widerstand-gegen-die-agrarpolitik-unter-praesident-bolsonaro_aid-44142941

[2] www.faz.net/aktuell/wirtschaft/brasiliens-praesident-bolsonaro-verteidigt-amazonas-plaene-16294364.html

[3] www.handelsblatt.com/politik/international/jair-bolsonaro-brasilianischer-praesident-der-amazonas-gehoert-uns-nicht-euch/24681826.html

[4] amerika21.de/2019/06/226961/brasilien-amazonasfonds-bolsonaro

22. Juli 2019


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