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RAUB/1214: Chile - vom Protest zum Aufstand ... (SB)



Keine im Kongress vertretene politische Kraft konnte die soziale Unruhe kanalisieren.
Besorgter Lagebericht der chilenischen Zeitung El Pais [1]

Der größte Massenprotest in der Geschichte Chiles, von Millionen Menschen auf die Straßen und Plätze getragen, hat das neoliberale Musterland bis an den Rand einer Staatskrise erschüttert. Das Aufbegehren richtet sich gegen eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die nach außen zu einem Paradebeispiel an Wachstum, Wohlstand und Stabilität in Lateinamerika verklärt wird, während es auf einer extrem gespaltenen Klassengesellschaft mit geradezu neofeudalen Schranken im Innern gründet. Die seit Jahrzehnten gärende Widerspruchslage kulminierte in einem Aufbegehren bis tief in die Mittelschichten hinein, das sich gegen mächtige und reiche Eliten richtet, deren Herrschaft in der Militärdiktatur durchgesetzt und seither nie gravierend beschnitten wurde. Die Parole der Demonstrierenden, "es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre", unterstreicht das Bestreben zahlloser Menschen im Land, eine politische Führungskaste zu konfrontieren, welche die Greueltaten der Diktatur unter den Tisch gekehrt, die Macht des Militärs aufrechterhalten und die weitreichende Durchdringung aller gesellschaftlichen Sphären mittels eines zugespitzten kapitalistischen Verwertungsregimes auch im sogenannten Übergang zur Demokratie seit den späten 80er Jahren fortgesetzt hat.

Präsident Sebastian Pinera setzte auf Repression. Er sprach von "Krieg", verhängte den Ausnahmezustand, ließ 20.000 Polizisten und Soldaten, die in Santiago zum Schutz wichtiger Regierungsgebäude zusammengezogen worden waren, gegen die Proteste vorgehen und Panzer durch die Hauptstadt rollen. Mindestens 19 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt und mehr als 7.000 festgenommen. Berichte zeugen von brutalen Prügelattacken, sexuellen Mißhandlungen, Vergewaltigungen und anderen Formen der Folter. Als die Massenproteste dennoch weiter anschwollen, sah sich der Staatschef zu einer Kehrtwende gezwungen. Er hob den Ausnahmezustand auf und bat in einer Rede an die Nation seine 18 Millionen Landsleute um Verzeihung dafür, daß er und sein Kabinett das Ausmaß der Krise unterschätzt hätten. Der Wirtschaftsmanager und Multimilliardär kündigte eine Kabinettsumbildung an und rief die Minister zum Rücktritt auf. Zudem stellte er ein Bündel von Sofortmaßnahmen in Aussicht: Die Grundrente soll um 20 Prozent erhöht werden, der Mindestlohn von umgerechnet 380 auf 440 Euro steigen und die Härten des teuren Gesundheitswesens sollen durch verschiedene vom Staat finanzierte Zusatzversicherungen abgefedert werden. [2]

Mit diesen und weiteren seit Jahren vergeblich eingeforderten Zugeständnissen versucht der Präsident, den Protest zu befrieden, wobei völlig offen bleibt, mit welchen Mitteln er die umfangreichen Reformversprechen einlösen will. Warum die vorgebliche Einsicht in die Wünsche der Bevölkerung so rasch inszeniert wird, liegt nicht zuletzt daran, daß Pinera wenig Zeit bleibt, die Lage zu beruhigen. In drei Wochen beginnt in Santiago das APEC-Treffen, zu dem auch Donald Trump, Xi Jinping und Wladimir Putin sowie aus Hongkong Carrie Lam eingeladen sind. Zur Weltklimakonferenz Anfang Dezember werden 30.000 Teilnehmer erwartet, denen der Staatschef ebenfalls ein Land im Normalbetrieb vorgaukeln will. Daß er glaubt, sich im Amt halten zu können, und das Blaue vom Himmel herunter verspricht, um fürs erste die Kontrolle zu behalten, widerlegt seine Reformbereitschaft, da doch sein Rücktritt zu den zentralen Forderungen der Protestbewegung gehört. [3]

Ausgelöst durch eine Tariferhöhung der U-Bahntickets hatten sich binnen kürzester Zeit erste Proteste zu landesweiten Unruhen und Streiks ausgeweitet. Diese thematisierten die soziale Ungleichheit und wachsende Frustration über steigende Kosten in vielen Bereichen, wie Gesundheit, Bildung, Strom- und Wasserversorgung, aber zunehmend auch staatliche Gewalt. Da sich Berufsverbände den Protesten angeschlossen haben, Lehrer, Krankenhauspersonal wie auch vor allem Bergbauarbeiter streiken und wichtige Verkehrsadern blockiert werden, droht ein Stillstand der für Chile überaus wichtigen Lithium- und Kupferproduktion. Auch dies dürfte den Präsidenten bewogen haben, die Politik der harten Hand vorerst zurückzufahren, Krokodilstränen zu vergießen und die Rache am unbotmäßigen Volk zu vertagen.

Dem von Washington orchestrierten blutigen Militärputsch gegen Präsident Salvador Allende am 11. September 1973 folgte die Schreckensherrschaft Augusto Pinochets, die das Land bis 1990 in ihren eisernen Griff zwang. Tausende wurden ermordet, Zehntausende Menschen im Gefängnis brutal mißhandelt und gefoltert, Kinder von ermordeten Linken an Ehepaare im Ausland zur Adoption vergeben. Während der Militärdiktatur verwandelten die Chicago Boys, in den USA ausgebildete chilenische Ökonomen, das Land in ein Experimentierfeld der neoliberalen Doktrin Milton Friedmans. Sie erklärten die Umverteilungsideen der sozialistischen Regierung Allendes für tot und begraben und schworen auf den sogenannten Markt als einzig relevante Sphäre ökonomischen und sozialen Abgleichs in Konkurrenz. Sie schrumpften den Staat zusammen, privatisierten von der Autobahn bis zu Krankenhäusern, Gefängnissen und Grundschulen sowie den ertragreichen Kupferminen alles, was an solvente Geldgeber abzugeben war und schufen "das ungleichste Land der Welt".

Dieses brachiale Experiment, wie es nur unter der Diktatur möglich war, die jeglichen Widerstand im Keim erstickte, wurde als innovative Verschränkung von Herrschaft und profitgetriebener Ökonomie von den USA protegiert, die es als Gegenentwurf zu sozialistischen Bewegungen und Staaten in Lateinamerika implantierten. Es erfreute sich weltweit großer Beachtung, schien es doch mit seinem Wirtschaftswachstum und der Befriedung der Gesellschaft die neoliberale Lehre auf ganzer Linie zu bestätigen. Daran rührten auch die demokratischen Nachfolgeregierungen allenfalls marginal, die entweder aus den Eliten rekrutiert wurden oder diese fürchten mußten. Chile gilt noch immer als bester Investmentplatz in ganz Lateinamerika, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Inflation nicht der Rede wert. Die Staatsanleihen sind gut bewertet, und gemessen an dem als chaotisch geltenden Umfeld sind die Chilenen verläßliche Geschäftspartner. Die Infrastruktur funktioniert, es wird gebaut und investiert, Nah- und Fernverkehr fließen. In den vergangenen Jahren ist der Lebensstandard selbst für die Armen gestiegen. [4]

Ein Blick ins Innenleben der chilenischen Gesellschaft zeigt auf, wie der neoliberale Musterschüler tatsächlich funktioniert. Ein Prozent der Chilenen besitzen 35 Prozent des Reichtums des Landes, Chile führt seit Jahren die Liste der ungleichen Einkommensverteilung in den OECD-Ländern, gemessen mit dem Gini-Koeffizienten, an. 0,1 Prozent der Superreichen vereinen 19,5 Prozent des Gesamteinkommens auf sich. [5] Von der vielfältigen Auswahl an privaten Schulen, dicken Autos und Anlageprodukten profitieren nur die Reichen, während 14 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben und der staatliche Mindestlohn lediglich umgerechnet 330 Euro beträgt, wobei die Lebenshaltungskosten den deutschen ähneln. Rund 50 Prozent der Lohnabhängigen verdienen weniger als 400 Euro im Monat, so daß sie sich trotz Arbeit für Miete und Essen verschulden müssen.

Die neoliberale Kultur hat sich tief in die Gesellschaft gefressen, Renten- und Krankenversorgung sind zum größten Teil privatisiert, wer arbeitslos wird, kann sich kaum auf staatliche Hilfe verlassen. Wer kann, läßt sich nicht in einem öffentlichen Krankenhaus behandeln, wo die Wartezeiten für Operationen überlang sind. Die staatliche Rente ist am Finanzmarkt angelegt, Verluste beim Aktienkurs werden auf die Rentner umgelastet. Altersarmut ist in Chile längst Realität, und die Jüngeren starten mit immensen Ausbildungsschulden von bis zu 40.000 Euro Studiengebühren ins ungewisse Berufsleben.

Zugleich ist der vielbeschworene freie Markt natürlich pure Fiktion, zumal ein Wettbewerb zwischen Unternehmen in Chile kaum existiert. Sechs bis acht Familienkonzerne regieren das Land, sie haben über die Jahre zahlreiche Firmen aufgekauft. Wer bei diesen Oligopolen in Ungnade fällt, kann kein Geschäft mehr betreiben. Auch wurden zahlreiche illegale Preisabsprachen zwischen den wenigen mächtigen Akteuren bekannt. Die Wirtschaft konzentriert sich seit Jahren auf den Export von Kupfer, Lithium sowie Fisch und Früchten, alles ist auf kurzfristige Renditen ausgerichtet. So gibt es kaum Industrie in Chile, und die wenigsten machen sich Gedanken über Alternativen, geschweige denn ein zukunftsfähiges Wirtschaftsmodell. Die Abhängigkeit vom Weltmarkt der Rohstoffe ist auf die Dauer fatal und der offenkundige Pferdefuß des chilenischen Modells. Hinzu kommt die Klimakrise, die das Land absehbar schwer in Mitleidenschaft ziehen wird.

Unter den jungen Menschen wachsen die Zweifel, ob es so weitergehen kann und soll. Sie gehören zur ersten Generation, die nach der Diktatur aufwuchs und lernte, Dinge infrage zu stellen. 2011 gingen Studierende zu Hunderttausenden auf die Straße, um nicht nur gegen ihre überteuerten Studienkredite, sondern auch gegen eine neoliberal dominierte und sozial gespaltene Gesellschaft zu protestieren. Sie wurden zur Speerspitze einer gesellschaftlichen Bewegung, die nun sehr viel breiter und umfassender in Erscheinung tritt. Die aktuellen Demonstrationen wurden von keiner Partei organisiert, auch Gewerkschaftsführungen sind nicht sichtbar. In der gestern noch felsenfest anmutenden chilenischen Klassengesellschaft brechen Risse auf, die den Eliten des Landes, die sich in ihren Enklaven so lange unberührbar wähnten, schlaflose Nächte bereiten dürften.


Fußnoten:

[1] www.wsws.org/de/articles/2019/10/28/chil-o28.html

[2] www.welt.de/debatte/kommentare/article202578692/Proteste-in-Chile-Suedamerikas-Musterland-in-Aufruhr.html

[3] www.heise.de/tp/features/Wendepunkt-in-Chile-4570910.html

[4] www.zeit.de/wirtschaft/2017-06/chile-neoliberalismus-armutsgrenze-wirtschaft-reichtum/komplettansicht

[5] amerika21.de/2017/06/178334/un-bericht-chile

29. Oktober 2019


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