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RAUB/1228: Frankreich - politische Vorwandslage ... (SB)



Ein Hieb mit dem Schlagstock und ein Anschlag auf die parlamentarische Demokratie!
David Habib (Vizepräsident der französischen Nationalversammlung) [1]

Wie Regieren in der Ära des "Jupiterpräsidenten" geht, demonstrieren Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron und sein Ministerpräsident Édouard Philippe. Ihr Gesetzentwurf zur umstrittenen Reform des Rentensystems wurde per Dekret und ohne Votum der Nationalversammlung verabschiedet. Dabei bedienten sie sich eines perfiden Winkelzugs, der die Empörung in Kreisen der Opposition und die Wut der Bevölkerung, die dem Vorhaben zu zwei Dritteln ablehnend gegenübersteht, in besonderem Maße befeuerte. Noch im Verlauf der letzten Woche hatte der Premierminister erklärt, er wolle der Debatte trotz der "Obstruktion" der Opposition Zeit gewähren. Diese wurde dann völlig überrumpelt, als das Führungsgespann am Samstag hinterrücks zur Tat schritt. Macron hatte für Sonnabend vormittag den Ministerrat und dessen Vorsitzenden Philippe zu einer Sondersitzung wegen der vom Coronavirus ausgelösten Gesundheitskrise eingeladen. Im Amtssitz des Präsidenten, dem Élysée-Palast, sollten Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung diskutiert und beschlossen werden. Wie nebenbei ermächtigte der Ministerrat seinen Premier Philippe auf Wunsch des Staatschefs, das Parlament über die Anwendung des Artikels 49 Absatz 3 zu informieren. Als es dann gegen 17.30 Uhr dazu kam, versammelten sich angesichts der Abwesenheit der meisten Deputierten am Wochenende lediglich rund 60 Abgeordnete der Präsidentenpartei La République en Marche (LREM) und ein Dutzend Vertreter der Opposition. "Ein Hieb mit dem Schlagstock" gegen die insgesamt 577 Deputierte zählende Nationalversammlung, kommentierte dies David Habib, der sozialdemokratische Vizepräsident der Kammer, "und ein Anschlag auf die parlamentarische Demokratie".

Auf Betreiben Macrons beschloß der Ministerrat am selben Tag, öffentliche Versammlungen von mehr als 5.000 Menschen für die kommenden Wochen zu verbieten - angeblich, um die rasch fortschreitende Ausbreitung des Coronavirus im Land einzudämmen. Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Auf diese Weise sollen erneute Straßenproteste gegen die Rentenpolitik unterbunden werden. Zwar beeilte sich der Regierungschef, noch am Abend auf dem ersten Fernsehkanal TF1 zu versichern, zwischen dem Griff zum 49.3 und dem Covid-19 bestehe "keinerlei Verbindung", doch dürfte diese fadenscheinige Behauptung eher dazu beigetragen haben, die Zuschauerschaft vom Gegenteil zu überzeugen.

Die Verfassung der Fünften Republik erlaubt die Anwendung von Artikel 49.3 einmal pro Wahlperiode des Parlaments. Dabei ist es den Abgeordneten gestattet, binnen 24 Stunden einen Mißtrauensantrag zu stellen. Linke und rechtskonservative Opposition reichten denn auch in aller Eile je einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung Philippe ein, über die das Plenum innerhalb weniger Tage abstimmen muß. Die Aussicht, die Regierung damit zu stürzen, ist allerdings sehr gering, da Macrons Partei auch ohne verbündete Stimmen des bürgerlichen Zentrums in der Assemblée nationale über eine komfortable Mehrheit verfügt. [2]

Substantieller als diese eher symbolische Aktion könnte in parlamentarischer Hinsicht sein, daß die Regierung den Artikel 49.3 nur auf den Gesetzentwurf als solchen, nicht aber dessen verwaltungstechnischen Teil anwenden darf, in dem Finanzierung und Umsetzung der Reform geregelt werden müssen. In der Debatte über das lediglich fünf Artikel umfassende Ausführungsgesetz könnte die Opposition zumindest versuchen, die Kontroverse noch einmal in Gang zu setzen und die endgültige Verabschiedung zu verzögern. Allerdings hat sie es dabei mit denselben Mehrheitsverhältnissen zu tun, die ihre Chancen zunichte machen könnten.

Jean-Luc Mélenchon, Führer der linken Oppositionellen von La France insoumise (LFI), sprach von einem Mißbrauch der Verfassung. Der Artikel 49 Absatz 3 sei geschaffen worden, um einer Regierung mit schwacher oder unsicherer parlamentarischer Mehrheit Entscheidungshilfe zu geben, wovon jedoch angesichts der aktuellen Mehrheitsverhältnisse überhaupt keine Rede sein könne. Man werde nichts unversucht lassen, um Macrons Gesetz doch noch zu kippen.

In Frankreich sind die Beiträge zur Rentenversicherung zwar deutlich höher als in Deutschland, doch können die lohnabhängig Beschäftigten je nach Berufsgruppe erheblich früher als hierzulande in Rente gehen. Die Konditionen in den 42 Spezialrentenkassen sind teils recht unterschiedlich, doch argwöhnt die Mehrheit der Bevölkerung zu Recht, daß die von Macron angestrebte Vereinheitlichung zu ihren Lasten gehen soll. Wenngleich die ursprünglich vorgesehene Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre vorerst zurückgenommen worden ist, geht es doch erklärtermaßen darum, die Kosten des defizitären Rentensystems auf die Beschäftigten umzulasten. Solange die 42 verschiedenen Kassen weiterbestehen, ist dies ein Schutzwall gegen die Reform, deren weitreichenden Folgen nicht mehr aufzuhalten sein werden, wenn die Dämme gebrochen sind.

La France insoumise (LFI) und Kommunisten (PCF) hatten die parlamentarisches Debatte des Gesetzentwurfs mit rund 41.000 Änderungsanträgen absichtlich in die Länge gezogen, um die Verabschiedung, wenn nicht zu verhindern, so doch maximal zu erschweren. Zugleich verfolgte dieser Widerstand im Parlament das Ziel, der Öffentlichkeit die Nachteile dieser Reform vor Augen zu führen. So waren nach dreizehn Tagen in insgesamt 115 Stunden heftiger Rededuelle und Abstimmungen im Ratssaal des Palais Bourbon gerade einmal 7 von 65 Artikeln des Gesetzentwurfs verabschiedet worden. Eine inhaltliche Debatte sei kaum noch möglich gewesen, klagte der Premierminister: "Die parlamentarische Debatte ist nicht dazu da, dass sich eine Minderheit die gesamte Redezeit unter den Nagel reißt, um jegliche inhaltliche Debatte zu verhindern. Genau das war es: eine Verhinderungstaktik." Nicht um die Debatte zu umgehen, sondern um diese Nichtdebatte zu beenden, die das Parlament in seiner gesetzgebenden Funktion ausheble, habe er Artikel 49 Absatz 3 zur Anwendung gebracht, behauptete Philippe.

Hingegen kritisierte die Opposition von links wie von rechts die Entscheidung des Premierministers heftig und forderte, die Debatte bis zum Ende fortzusetzen: "Es liegt hier ein unklarer Text vor, deshalb läuft die Debatte konfus und chaotisch ab. Das muss die Regierung einsehen. Und dann muss sie sicher stellen, dass wir hier über die Rente debattieren können. Es gibt Themen der Reform, die im Parlament nicht einmal diskutiert wurden, unter anderem die Regelungen für körperlich anstrengende Berufe. Das muss im Parlament diskutiert werden", forderte Eric Woerth von den konservativen Republicains.

Jean-Luc Mélenchon warf der Regierung totalitäre Praktiken vor und widersprach dem Vorwurf, seine Partei habe durch ihre zahlreichen Änderungsanträge die Debatte in der Nationalversammlung ad absurdum geführt und so den Gebrauch des Verfassungsartikels 49.3 durch die Regierung provoziert: "Wir wollten nie, dass die Regierung vom Verfassungsartikel 49.3 Gebrauch macht und die Debatte beendet. Je mehr debattiert wird, desto besser verstehen die Bürgerinnen und Bürger, was in dem Gesetz steht. Und davor hat die Regierung Angst, sie ist isoliert." [3]

Frühere Präsidenten wie François Mitterrand, Jacques Chirac oder François Hollande hatten sich per Dekret über den Willen der Nationalversammlung hinweggesetzt, wovon auch Emmanuel Macron beim zweiten Teil der Arbeitsgesetze Gebrauch machte. Nun schickt er Édouard Philippe vor, der zwar zum ersten Mal auf diese Option zurückgreift, doch mitnichten der erste Regierungschef ist, der sich dieses Instruments bedient. Michel Rocard, von 1988 bis 1991 Premierminister, wandte Artikel 49.3 28mal und damit fast systematisch an, und Manuel Valls nutzte ihn zwischen 2014 und 2016 sechsmal. [4] Wann immer eine französische Regierung diesen Verfassungsartikel zieht und ein Gesetz am Parlament vorbei verabschiedet, kommt das bei der Opposition und in der Bevölkerung zwangsläufig schlecht an. Noch am Samstagabend demonstrierten Hunderte Menschen vor der Nationalversammlung gegen die Regierung, wobei es zu kleineren Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Auch in weiteren Städten des Landes wurden am Abend Protestkundgebungen abgehalten.

Philippe hatte nach wochenlangen Protesten gegen die Pensionsreform unter anderem angekündigt, auf die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre zu verzichten. Zur Bedingung machte er aber, daß bis Ende April eine Alternative zur Finanzierung erarbeitet wird. Er versuchte nun glaubhaft zu machen, daß die Regierung durchaus gesprächsbereit sei und bereits 300 Änderungsanträgen stattgegeben habe. Ein Ende der Debatten in der Nationalversammlung bedeute nicht das Ende der Änderungen am Gesetzesentwurf, erklärte er in einem Brief an die Teilnehmer der Finanzierungskonferenz. [5]

Macron will die Rentenreform, die sein wichtigstes Wahlversprechen war und als zentrales Vorhaben seiner Präsidentschaft gilt, gegen alle Widerstände durchsetzen. Er drängte auf den Abschluß der ersten Lesung vor den Kommunalwahlen Mitte März, bei der die Regierungspartei erhebliche Stimmenverluste befürchten muß, und eine endgültige Verabschiedung der Reform noch vor der Sommerpause. Dies dürfte erklären, warum er die von der Opposition zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt erwartete oder nach deren Einschätzung womöglich sogar abzuwendende Verfügung per Dekret derart frühzeitig und besonders brachial zur Anwendung bringen ließ.

Vor allem für die linke Gewerkschaft CGT ist der Artikel 49.3 eine Steilvorlage, neue Streiks zu beschließen. Sie will in Kürze über landesweite Protesttage beraten. Nach einer Telefonkonferenz riefen die meisten Gewerkschaften unter Führung der CGT einen Aktions- und Streiktag aus, während sich die regierungsnahe größte Gewerkschaft CFDT zurückhält. Sie verlangt dafür Konzessionen im Zusatzteil der Reform, der erst Ende April vor das Parlament kommen und die Finanzierung des Rentensystems in den nächsten zwanzig Jahren regeln soll. [6] CGT und die parlamentarische Linke setzen darauf, daß die Reform durch die Anwendung des Artikels 49.3 noch unpopulärer wird, so daß der zweite Reformteil nicht mehr vor den Sommerferien verabschiedet werden kann. Um das zu erreichen, bedürfte es allerdings eines erneuten Drucks auf der Straße, dem die Regierung mit dem Verbot von Großveranstaltungen das Wasser abzugraben versucht.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/373625.frankreich-mit-dem-schlagstock.html

[2] www.taz.de/Rentenreform-in-Frankreich/!5668016/

[3] www.tagesschau.de/ausland/frankreich-rentenreform-dekret-103.html

[4] www.nzz.ch/international/frankreich-regierung-greift-bei-der-rentenreform-zum-holzhammer-ld.1543625

[5] www.orf.at/stories/3156187/

[6] www.fr.de/wirtschaft/rentenreform-frankreich-verfassungskeule-13569315.html

3. März 2020


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