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REPRESSION/1379: Die soziale Frage unter Extremismusverdacht stellen ... (SB)



Schon zwei Wochen vor den Demonstrationen zum 1. Mai warnte der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg, vor gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen es "zu Hunderten von Verletzten kommen kann und hoffentlich am Ende nicht sogar zu dem einen oder anderen Toten" (Welt Online, 15.04.2010). Der Chor Unheil beschwörender Stimmen wuchs in den Medien bis zum Tag der Arbeit zu einem Crescendo präventiver Bezichtigung der radikalen Linken an, als stände die Bundesrepublik kurz vor dem Bürgerkrieg. Flankiert wurde der rhetorische Aufmarsch gegen links von Bundesjugendministerin Kristina Schröder, die im Interview mit der FAZ (29.04.2010) klagte, daß "linksextreme Gewalt (...) viel zu lange verharmlost" wurde. Schröder kündigte an, die Programme ihres Ministeriums gegen Rechtsextremismus durch entsprechende Projekte gegen den Linksextremismus zu ergänzen. Dabei wolle sie insbesondere die Antifa ins Visier nehmen. Deren Mitglieder verträten laut dem Verfassungsschutz häufig "linksextremistische Ideologien" und hätten "ein ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt", so die Ministerin.

Zwar blieb der große Showdown zwischen Polizei und Demonstranten aus, doch der Vorbehalt gegen "Linksextremismus" steht weiterhin im Raum. Ob linke Aktivisten für vereinzelte militante Aktionen verantwortlich sind, bleibt offen oder wird schlichtweg positiv unterstellt. Keiner der Scharfmacher in Medien, Politik und Polizei, die behaupten, im Interesse der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor linker Gewalt zu warnen, muß erklären, wieso aus Motiven, die von der Aufwertung der eigenen Bedeutung bis zur generellen Diffamierung linker Politik reichen, Öl ins Feuer gegossen wurde. Statt dessen wird am Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse, der sich zusammen mit anderen Politikern an einer Sitzblockade gegen eine Neonazi-Demo am 1. Mai in Berlin beteiligte, ein Exempel an staatsbürgerlicher Disziplinierung vollzogen, das den Anfängen kritischer Interventionen selbst aus der Mitte der Gesellschaft wehren soll.

Die aus Thierses Partei SPD laut gewordenen Stimmen, die dem Politiker Rechtsbruch anlasten, zeigen, daß der vor zehn Jahren von der rot-grünen Bundesregierung ausgerufene "Aufstand der Anständigen" niemals anders gemeint war denn als hegemoniales Projekt zur Etablierung eines staatskonformen Antiextremismus, mit dem sich alle Antifaschisten ausgrenzen lassen, deren Widerstand gegen Neonazis antikapitalistischer Art ist. Nicht daß Thierse radikaler Kritik am herrschenden Verwertungssystem verdächtig wäre. Abgestraft werden muß jeder Schritt, der Formen zivilen Widerstands Legitimität verleiht, mit denen sich auch andere politische Interessen artikulieren ließen als das Zurückdrängen neofaschistischer Bewegungen. Da sich Neonazis, die, wie man seit dem gescheiternten NPD-Verbotsverfahren weiß, extensiv vom Verfassungsschutz unterwandert sind, antikapitalistischer Parolen bedienen, kann der Kehraus mit dem großen Besen des Extremismusverdachts um so gründlicher vollzogen werden.

Mit der Verallgemeinerung des Extremismusbegriffs auf jegliche Form der Abweichung vom politischen Mainstream wird das Ziel verfolgt, auch nur die leise Regung des Aufbegehrens gegen die anwachsende soziale Repression ideologisch zu stigmatisieren und rechtlich zu kriminalisieren. Hinter dem Schild der Totalitarismustheorie werden neoliberale und neokonservative Politik zum alleingültigen Paradigma von Freiheit und Demokratie erklärt, demgegenüber jegliche systemkritische Radikalität als staatsfeindlich gebrandmarkt wird. Wenn Ministerin Schröder als Beispiel für den von ihr angekündigten Aufbau von Schulungsprogrammen gegen "Linksextremismus" eine Jugendbildungs- und Begegnungsstätte anführt, die "zehnjährige Erfahrung in der Darstellung und Aufarbeitung der totalitären DDR-Diktatur" habe, dann ist von vornherein klar, daß es ihr nicht um einen differenzierten Umgang mit der politischen Linken geht. Ganz im Gegenteil, um sie wirksam unter Extremismusverdacht stellen zu können, bedarf es grober Vereinfachung und doktrinärer Diffamierung.

Andernfalls müßten sich die politischen Lehrkräfte, die die Jugend über die Gefahren aufklären sollen, die der Freiheit der Eigentumsordnung von links droht, mit einer Kapitalismuskritik auseinandersetzen, für die es in Anbetracht der krisenhaften Entwicklung Argumente in Hülle und Fülle gibt. Die Kampagne gegen die revolutionären Demos zum 1. Mai hat denn auch ihren Zweck vollständig erfüllt. Der einzige politische Feiertag, an dem die Interessen der Lohnabhängigen und Erwerbsunfähigen zur Sprache kommen könnten, wurde so vollständig unter Extremismusverdacht gestellt, daß der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zugunsten des Primats der Kapitalmacht gelöst wurde. Auf den Vorwurf militanter Gewalt reduziert wird die soziale Frage selbst zu einer Angelegenheit des Staatsschutzes, so daß eventuelle Restbestände an sozialem Widerstand in den Händen herrschaftskonformer Gewerkschaften in verdauliche Häppchen geteilt und vom Leviathan verspeist werden können.

3. Mai 2010