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REPRESSION/1383: Lebenslänglich ohne Begnadigung ... unversöhnliche US-Klassenjustiz (SB)



In Anbetracht der großen Aufmerksamkeit, die der Kampf gegen die Todesstrafe in den USA und anderen Ländern genießt, erfährt die Strafnorm der lebenslänglichen Haft ohne Begnadigungsmöglichkeit zu wenig Beachtung. Daß Straftäter ohne Aussicht darauf, jemals in ihrem Leben wieder freizukommen, eingesperrt werden, und das zudem unter den menschenfeindlichen Bedingungen von Hochsicherheitsknästen, die ihre Insassen wie in einem steinernen Sarg lebendig begraben, ist Ausdruck einer Rachemoral, deren Bigotterie schon darin besteht, die individuelle Schuld eines Menschen so zu verabsolutieren, daß ihm nicht der kleinste Rest an humaner Entwicklungsfähigkeit zugestanden wird.

Am Montag lüftete sich der Deckel des Schweigens, mit dem diese besonders harte Form staatlicher Strafpraxis ausgeblendet wird, für einen kurzen Moment. Das oberste Verfassungsgericht der Vereinigten Staaten entschied, daß die Strafe life without parole (LWOP) für Kinder und Jugendliche, die keinen Menschen umgebracht haben, gegen den 8. Zusatzartikel der US-Verfassung, der "grausame und ungewöhnliche Strafen" verbietet, verstößt. Immerhin drei der neun Richter des Supreme Court in Washington hielten die herrschende Praxis, Personen zu lebenslänglicher Haft ohne Begnadigung zu verurteilen, die ihre Tat als Kinder oder Jugendliche begangen haben, für verfassungskonform. Im Fall von Kindern und Jugendlichen, die des Mordes oder Totschlags für schuldig befunden wurden, gilt dies auch in Zukunft.

Das kleine Zugeständnis, das die Richter im Falle eines Gefangenen, der als 17jähriger einen Raubmord beging und zu lebenslänglicher Haft ohne Begnadigungsmöglichkeit verurteilt wurde, an die Möglichkeit machten, sich in vielen Jahren hinter Gittern eines besseren zu besinnen, wird durch die Aufrechterhaltung einer Strafe, die auch Erwachsenen bis zu ihrem Tode Dutzende von Jahren im Knast bescheren kann, fast bedeutungslos. Tatsächlich hat das Urteil nur für 130 der einer Schätzung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch vom letzten Jahr über 2500 Personen, die wegen Straftaten, die sie als Minderjährige begangen haben, den Rest ihres Lebens in Haft verbringen sollen, die Konsequenz einer möglichen Begnadigung.

Insgesamt betrifft diese Strafnorm in den USA immer mehr verurteilte Straftäter. Angesichts der wachsenden Kritik an der Praxis der Todesstrafe wird LWOP zunehmend als Ersatzstrafe für die maximale Sanktion der Hinrichtung eingesetzt. Laut einer Untersuchung der US-Bürgerrechtsorganisation The Sentencing Project aus dem Jahr 2004 hat sich die Zahl der zu lebenslänglicher Haft verurteilten Gefangenen, für die keine Begnadigungsmöglichkeit vorgesehen war, innerhalb von 12 Jahren von 17,8 auf 26,3 Prozent erhöht. Dies erfolgte vor dem Hintergrund ohnehin immer länger ausfallender Zeitstrafen für häufig geringfügige Delikte insbesondere im Bereich der Drogenkriminalität. Aber auch kleine Eigentumsdelikte können in einigen Bundesstaaten nach der Three-Strikes-Regel im Wiederholungsfall eine obligatorische Mindesthaftstrafe von 25 Jahren zur Folge haben.

Laut einer Untersuchung der New York Times aus dem Jahr 2005 verbüßten damals rund 132.000 Insassen des US-Strafvollzugs lebenslängliche Freiheitstrafen, was diese Kategorie von Gefangenen zur am schnellsten wachsenden Gruppe unter den über zwei Millionen Strafgefangenen des Landes USA machte. Von den 70.000 Personen, die zwischen 1988 und 2001 die unbeschränkte Zeitstrafe erhielten, hatte sich mehr als ein Drittel eines Eigentums-, Drogen-, Entführungs- oder Sexualdelikts schuldig gemacht. Gewalt gegen Menschen ist in den USA keine zwingende Voraussetzung für schwerste Strafen, auch ein Verstoß gegen die Eigentumsordnung kann Urteile zur Folge haben, die man hierzulande schlimmstenfalls bei Morden verhängte.

Wie die überdurchschnittliche Betroffenheit ethnischer Minderheiten und weißer US-Bürger aus zerrütteten sozialen Verhältnissen zeigt, ist diese drakonische Rechtsprechung Ausdruck einer Klassenjustiz, mit der den sozialen Widersprüche des Landes durch massive Repression entsprochen wird. Unter den drei US-Bundesstaaten mit dem höchsten prozentualen Anteil an Gefangenen ihrer Bevölkerung befinden sich mit Louisiana und Mississippi die beiden Staaten mit dem größten Anteil schwarzer Bürger. Sie stellen jeweils etwa ein Drittel der Bevölkerung, während im Falle von Texas, der an zweithöchster Stelle beim prozentualen Anteil von Gefangenen steht, die Bürger hispanischer Herkunft mit gut einem Drittel die größte ethnische Minderheit bilden, gefolgt von knapp 12 Prozent Afroamerikanern. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Bürger Mississippis ist das niedrigste der ganzen USA, während Louisiana auf Platz 41 der 50 US-Bundesstaaten liegt. Die Unterschiede sind erheblich. 2007 rangierte Maryland mit rund 68.000 Dollar Pro-Kopf-Einkommen an der Spitze, das mittlere Haushaltseinkommen aller Bundesstaaten lag bei rund 50.000 Dollar, während es in Mississippi etwas mehr als 36.000 Dollar betrug.

Ein exemplarisches Beispiel für die rassistische Ausprägung der US-Klassenjustiz stellt das Staatsgefängnis von Louisiana in Angola dar. Dieses The Farm genannte größte Hochsicherheitsgefängnis der USA wurde auf dem Gelände einer von Sklaven bewirtschafteten Plantage errichtet. Seine 5100 Insassen sind zu mehr als 75 Prozent schwarz. Sie unterliegen besonders scharfen Haftbedingungen und werden zu einem Mindestlohn von 4 Cent die Stunde zu Arbeitseinsätzen gezwungen, die Bürgerrechtler als regelrechte Sklavenarbeit kritisieren. Zwar beträgt die offizielle Arbeitszeit heute im Unterschied zu den frühen 1970er Jahren, als 16 Stunden Zwangsarbeit an sechs Tagen der Woche die Regel waren, nur noch 40 Stunden in der Woche, doch diese verbringen die Gefangenen unter permanenter Bewachung mit körperlich stark erschöpfenden Feldarbeiten, in denen sich die Tradition der Sklaverei nicht nur symbolisch fortsetzt.

Mehr als 3000 der Gefangenen des Louisiana State Penitentiary verbüßen eine lebenslängliche Strafe ohne Begnadigungsmöglichkeit, die unausweichlich auf dem knasteigenen Friedhof endet. Doch auch die anderen Insassen müssen häufig Zeitstrafen verbüßen, die ihre Lebenserwartung überschreiten, so daß es ihnen nicht besser ergeht. Wer sein Leben unter den brutalen Bedingungen eines Strafvollzugs fristet, in dem die Möglichkeit, sinnvolle und erfreuliche Dinge zu tun, aufgrund der vorherrschenden Ansicht, daß Haftstrafen nicht nur lang zu sein haben, sondern überhaupt weh tun sollen, systematisch eingeschränkt werden, der entwickelt nicht selten psychische Erkrankungen. Auch von diesen sind die lebenslänglich inhaftierten Gefangenen mit knapp einem Fünftel diagnostizierter Geistesstörungen überdurchschnittlich betroffen.

Eine lebenslängliche Haftstrafe ohne die Möglichkeit einer Entlassung auf Bewährung oder durch Begnadigung ist schon deshalb überaus grausam, weil sie dem Betroffenen auch den letzten Strohhalm der Hoffnung darauf nimmt, seinem elenden Los noch einmal zu entkommen. Menschen mit einer Zeitperspektive von 50 und mehr Jahren zu einer Bedrohung für die Gesellschaft zu erklären ist nichts als ein Vorwand, ihnen auf unversöhnliche und selbstgerechte Weise Gewalt anzutun. In einer Gesellschaft, die es zuläßt, daß Millionen von Menschen hungern, über keine Wohnung und kein Einkommen verfügen, während eine kleine Elite im Luxus schwelgt, sind Gewaltverbrechen und Eigentumsdelikte wie andere kriminelle Vergehen nicht von ungefähr endemisch. Die Moral ihrer Sachwalter, die dieses soziale Unrecht zur natürlichen Ordnung der Dinge erklären, ist von vornherein als Herrschaftsinstrument konzipiert. Der Sündenfall der US-Justiz hat nicht erst mit den Folterpraktiken von Guantanamo und Bagram begonnen, und er wird durch die Ideologie von Freiheit und Demokratie nicht ungeschehen gemacht, sondern korrumpiert die idealistischen Werte US-amerikanischer Kultur kaum weniger, als es eine Verfassung tat, die die Rechte der Afroamerikaner und indigenen Ureinwohner ausklammerte.

20. Mai 2010