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REPRESSION/1524: Das "neue" Europa huldigt alten Traditionen (SB)



Einst von Donald Rumsfeld aufgrund seiner Nibelungentreue zu den USA als das "neue" Europa tituliert, machen manche osteuropäischen EU-Staaten diesem Titel alle Ehre. So wird in der lettischen Hauptstadt Riga nicht nur alljährlich am 16. März des antibolschewistischen Kampfes der Waffen-SS mit einem Aufmarsch uniformierter Veteranen der lettischen SS-Freiwilligen gedacht, sondern zum Protest angereiste Antifaschistinnen und Antifaschisten werden von den Behörden bei der Einreise verhaftet und abgeschoben oder während ihres Aufenthalts durch nächtliche Verhöre im Hotel und ständige Verfolgung durch die Geheimpolizei schikaniert [1]. Der ehemalige US-Verteidigungsminister, der bei der Eroberung des Iraks die deutsche Blitzkriegsstrategie im Zweiten Weltkrieg als militärstrategisches Vorbild rühmte, wußte schon damals, daß die antikommunistischen Vasallen im Osten der EU ein Aktivposten westlicher Globalhegemonie gegen den Nachfolgestaat der Sowjetunion sein würden.

Die Reisefreiheit in der EU, die sich die Sachwalter neoliberaler Staatlichkeit als eine der größten Errungenschaften europäischer Integration ans Revers heften, wird mithin nicht nur bei Flüchtlingen oder Armutsmigranten aufgehoben. Für die Einschränkung individueller Bewegungsfreiheit gibt es auch politische Gründe. Quasi analog zur Zensur der Meinungs- und Pressefreiheit, die nicht nur in der Türkei vorkommt, sondern auch in westeuropäischen Demokratien bei politischen Gesinnungsdelikten durchgesetzt wird, werden Menschen an den Grenzen aufgehalten, wenn sie zu Protesten gegen politische Gipfeltreffen reisen wollen, oder erhalten unter Notstandsvollmachten vorsorglich Hausarrest, wie in mehreren hundert Fällen in Frankreich geschehen. Auch die so liberale Bundesrepublik läßt nicht jede politische Meinungsbekundung zu, wie das Beispiel des Einreiseverbots für die in der Türkei zur Opposition gegen die AKP-Regierung zählende Musikgruppe Grup Yorum zeigt [2].

Heute in einer EU-europäischen Hauptstadt wie Riga gegen die Schändung des Gedenkens ermordeter Jüdinnen und Juden durch SS-Veteranen zu demonstrieren, paßt nicht mehr in das Bild einer EU, die zwar wie bei der finalen Zerschlagung Jugoslawiens Kriege im Namen von Auschwitz führt, es sich aber auch nicht mit den Faschisten in der Ukraine verscherzen will, die sie im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik gewinnbringend einbinden will. Als ewig Gestrige fungieren, zumindest in den Augen solch staatlicher Behörden wie der lettischen Repressionsorgane, heute Menschen, die nicht einsehen wollen, daß die Verbrechen der NS-Zeit stillschweigend dem Vergessen überantwortet werden, und, was erschwerend hinzu kommt, die Kontinuitäten einer Geschichte aufzeigen, die sich leider nicht nur als Farce, sondern zusehends auch als blutige Realität wiederholt.

Die Ereignisse rund um den Aufmarsch der lettischen Waffen-SS-Veteranen und die Nachstellungen, die deren wenige Gegner zu erleiden haben, wurden in der Bundesrepublik lediglich in linken Blättern wie der jungen Welt thematisiert. Die neurechte Restauration ist in vollem Gange, das belegt auch der Umgang deutscher Strafverfolgungsbehörden mit den Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, deren Täter eher nicht verfolgt werden, und die massenmediale wie politische Indifferenz, mit der faschistische Traditionspflege oder kommunistische Parteiverbote in Osteuropa ignoriert werden. Dagegen aus bloßer Empörung heraus aufzustehen reicht nicht aus. Um den Vormarsch der sozialdarwinistischen Logik bei der Etablierung einer Gesellschaft, in der sang- und klanglos untergeht, wer nicht leistungs- und anpassungsfähig genug ist, zu stoppen, ist auch die Frage zu stellen, auf welchen politischen Fundamenten die sozialchauvinistische und rassistische Feindseligkeit basiert, die selbst unter den Ärmsten und Schwächsten noch blutigen Tribut im gegenseitig geführten Überlebenskampf fordert.


Fußnoten:

[1] "Riga macht sich nazifein"
https://www.jungewelt.de/2016/03-16/001.php
"Antifaschisten abgeschoben"
https://www.jungewelt.de/2016/03-17/049.php
Leserbrief "Europäischer Standard"
https://www.jungewelt.de/2016/03-31/051.php

[2] Grup Yorum ... mehr als Musik
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0290.html

2. März 2016


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