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REPRESSION/1532: Türkei im Ausnahmezustand - Ende der Pressefreiheit (SB)



Milder hätte der Tadel kaum ausfallen können. Während die AKP-Regierung Präsident Recep Tayyip Erdogans neben zahlreichen anderen demokratischen Rechten auch die Pressefreiheit in der Türkei faktisch ausgehebelt hat, rang sich Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin zu einer gezielt zahnlosen Erklärung durch: "Die Bundesregierung hat wiederholt - und das will ich hier auch noch einmal tun - ihrer Sorge Ausdruck gegeben über das Vorgehen gegen Presse in der Türkei und gegen Journalisten in der Türkei." Pressefreiheit sei "zentral für jeden Rechtsstaat". [1] Diese ausgesucht zurückhaltende und pflichtschuldig anmutende Reaktion auf die Verhaftung von vierzehn Mitarbeitern der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet, darunter auch deren Chefredakteur Murat Sabuncu, rief harsche Kritik Can Dündars auf den Plan. Der in der Türkei verfolgte und deswegen in Deutschland im Exil lebende langjährige Chefredakteur der Cumhuriyet moniert die schwache Stellungnahme der Bundesregierung, die selbst hinter jene anderer westlicher Partner der Türkei wie insbesondere der USA zurückfalle. In ungewöhnlich deutlicher Form hatte Washington die Regierung in Ankara aufgerufen, Rechtstaatlichkeit und Grundrechte zu schützen. Man sei besorgt über das "Steigen staatlichen Drucks auf Oppositionsmedien", so ein Sprecher des US-Außenministeriums. [2] Berlin hingegen habe die aktuellen Verhaftungen nicht einmal verurteilt und lasse ein klares Signal für die Demokratie in der Türkei vermissen. Seit Jahren seien die Europäer andauernd besorgt, was den türkischen Journalisten jedoch nicht im geringsten helfe, so Dündar.

Berücksichtigt man, daß sich die Repression erneut und mit voller Wucht gegen eine Zeitung richtet, deren Redaktion erst im September für ihre mutige Berichterstattung mit dem als "alternativen Nobelpreis" bekannten "Right Livelihood Award" ausgezeichnet wurde, legt der offensichtlich verweigerte Schutz seitens der Bundesregierung deren weitreichende Interessenüberschneidung mit Ankara offen. Jahrzehntelang vor allem dem Kemalismus verpflichtet, steht Cumhuriyet in jüngerer Zeit für Meinungsvielfalt und insbesondere eine Gegenstimme zum repressiven AKP-Regime. Nachdem der damals noch als Chefredakteur tätige Can Dündar und der Büroleiter der Zeitung in Ankara, Erdem Gül, über mutmaßliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an den IS berichtet hatten, wurden sie wegen des Verdachts auf Spionage, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Geheimnisverrat verhaftet. Aufgrund eines Urteils des türkischen Verfassungsgerichts kamen die beiden wieder frei, worauf Dündar von einer Auslandsreise nicht mehr in die Türkei zurückkehrte.

Seit dem nach wie vor undurchsichtigen Putschversuch des 15. Juli 2016, der von Erdogan als "Geschenk Gottes" bezeichnet und mit einer "Säuberung" beantwortet wurde, deren Ende nicht abzusehen ist, rollt eine Welle verschärfter Repression durch die Medienlandschaft. Der türkischen Journalistenvereinigung zufolge wurden dieses Jahr 170 Medien geschlossen, mehr als 100 Journalisten sind in Haft. Am Wochenende hatten die Behörden die Schließung 15 meist kurdischer Medien angeordnet und die Bürgermeister der kurdisch geprägten Großstadt Diyarbakir verhaftet. Über die regierungskonformen Fernsehsender werden unablässig weitere Vorwürfe verbreitet, die Selbstzensur ist so massiv und zur Norm geworden, daß die Sendungen an eine moderne Inquisition erinnern. In der Türkei reicht es heute schon, über heikle Themen zu schreiben oder mit der falschen Quelle zu sprechen, um sich dem Verdacht der Terrorunterstützung auszusetzen. Niemand weiß, ob es auch bei Cumhuriyet weitere Verhaftungen geben wird oder gar die staatliche Zwangsaufsicht droht, unter die schon die Zeitung Zaman und das Medienhaus Koza Ipek gestellt wurden.

Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen Cumhuriyet könnten absurder nicht sein, reproduzieren sie doch das seit dem Putschversuch praktizierte Schema der Bezichtigung. Wie heißt, habe die Zeitung sowohl die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK als auch die Bewegung des Predigers Fetullah Gülen unterstützt. Beides ließe sich anhand der Publikationen leicht widerlegen, ginge es denn um ein halbwegs rechtsstaatliches Vorgehen, was nicht der Fall ist. Journalisten, die aus Sicht der Regierung die falschen Fragen stellen oder gar gegen Erdogan und die AKP Stellung beziehen, laufen jederzeit Gefahr, verhaftet und unter eine Anklage gestellt zu werden, die im Falle einer Verurteilung horrende Haftstrafen nach sich ziehen kann.

Wie unverhohlen die türkische Führung inzwischen ihren Kurs vorantreibt, der nach Auffassung Can Dündars auf ein "islamofaschistisches Regime" [3] zusteuert, belegt ihr Umgang mit Kritik aus dem europäischen Ausland. Nachdem EU-Parlamentspräsident Martin Schulz die Verhaftung als "nicht tolerabel" bezeichnet und getwittert hatte, daß eine rote Linie überschritten sei, konterte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim in Ankara: "Bruder, vergiss deine Linie, wir haben mit deiner roten Linie nichts zu schaffen. Das Volk zieht die roten Linien!" Die Türkei habe kein Problem mit der Pressefreiheit, so Yildirim. Jedesmal, wenn man gegen "Terrorismus" vorgehe, kämen die Europäer mit der Pressefreiheit daher. Darüber gebe es mit den "europäischen Partnern" keine Verständigung.

Daß die AKP-Regierung inzwischen jegliche Vorwürfe, sie trete die Pressefreiheit mit Füßen, als irrelevante Einmischung in derart harscher Form zurückweist, zeugt nicht nur von ihrer tagtäglich wachsenden Machtfülle im eigenen Land. Dies läßt zugleich auf ihre Gewißheit schließen, daß von europäischer Seite keinerlei Sanktionen drohen, weiß sie diese doch im selben Boot, sobald die Klaviatur der "Terrorabwehr" bedient wird. Türkische und kurdische Linke werden auch in der Bundesrepublik mittels politischer Strafverfahren nach Paragraph 129 b verfolgt, ihre Publikationen verboten. Daß in der Türkei seit Mitte Juli mehr als 100.000 Menschen wegen angeblicher Mitgliedschaft in der Bewegung des Predigers Fetullah Gülen, der PKK oder linker Organisationen aus dem Staatsdienst entlassen, mindestens 32.000 Menschen verhaftet wurden und einige von ihnen systematisch gefoltert werden [4], ist für die Bundesregierung kein Grund, Ankara unter Druck zu setzen. Wie sollte da eine flankierende Maßnahme repressiver Staatlichkeit wie die Aufhebung der Pressefreiheit einen Sinneswandel in Berlin herbeiführen!

Aufgescheucht durch erboste Schelte der hiesigen Leitmedien, die kaum Probleme mit herber Kritik an Erdogan haben, solange sich diese jeder Rückkopplung auf den Schulterschluß deutsche Regierungsinteressen mit dessen Regime enthält, soll's die Kanzlerin richten. Mit zweitägiger Verspätung legte Merkel nun ungehalten nach, es sei "in höchstem Maße alarmierend", daß die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei "immer wieder aufs Neue eingeschränkt" werde. Die Verhaftungen bei der Cumhuriyet seien das "jüngste Beispiel dieser an sich schon sehr traurigen Entwicklung". Die Bundesregierung habe "sehr große Zweifel, dass das den rechtsstaatlichen Prinzipien entspricht". Man werde die Ermittlungen gegen die inhaftierten Journalisten genau verfolgen. Diese könnten sich "unserer Solidarität gewiss sein". [5]

Ist das so? "Sich um die Meinungsfreiheit in der Türkei zu sorgen - dafür ist es zu spät. Es gibt sie nicht mehr", urteilt selbst die FAZ. "Zeitungen und Sender werden geschlossen, Kritiker und Oppositionelle in Massen inhaftiert. Sie verschwinden im Gefängnis und haben nicht einmal einen Rechtsbeistand. Seinen nächsten Schritt hat Erdogan schon angekündigt: Im Ausnahmezustand, den er hat verlängern lassen, soll das - gleichgeschaltete - Parlament möglichst schnell über die Einführung der Todesstrafe abstimmen. Als nächstes kommen dann die Todesurteile." Die Organisation Reporter ohne Grenzen habe Erdogan soeben auf ihre Liste der "Feinde der Pressefreiheit", die Journalisten und Andersdenkende durch Zensur, Unterdrückung bis hin zum Mord verfolgen, gesetzt. Diese Auszeichnung habe sich Recep Tayyip Erdogan redlich verdient, schreibt die FAZ in seltener Klarheit.

Mehr ist freilich nicht zu erwarten. Die Einlassung der Kanzlerin komme spät, und man könne nur hoffen, daß sie ernst gemeint sei, schreibt das konservative Leitmedium. Damit ist die Grenze gezogen, wie weitreichend man die repressive Entwicklung in der Türkei geißeln kann, ohne die deutsche Schützenhilfe beim Namen zu nennen.


Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/pressefreiheit-duendar-reaktion-der-deutschen-regierung-war-wirklich-schwach-1.3231083

[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/pressefreiheit-tuerkei-verbittet-sich-kritik-aus-europa-1.3229937

[3] http://www.deutschlandfunk.de/cumhuriyet-festnahmen-tuerkische-journalisten-sind.694.de.html

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1531.html

[5] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/merkels-kritik-an-erdogans-vorgehen-gegen-journalisten-kommt-zu-spaet-14509512.html

2. November 2016


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