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REPRESSION/1533: Berliner Diskurs - Erdogan an langer Leine (SB)



Als Erdogan den Kurdinnen und Kurden den Krieg erklärte, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kurde.
Als er das Land mit einer "Säuberung" überzog, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gülen-Anhänger.
Als er die Pressefreiheit schleifte, Anwälte drangsalierte und Abgeordnete verhaftete, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Journalist, Jurist oder Politiker.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

(Frei nach Martin Niemöller [1])


Läßt sich die repressive Entwicklung in der Türkei unter Führung Recep Tayyip Erdogans und der AKP-Regierung mit der des NS-Staats vergleichen, wie Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn meint? "Das sind Methoden, das muss man unverblümt sagen, die während der Nazi-Herrschaft benutzt wurden", so Asselborn. Echte oder vermeintliche Gegner der türkischen Regierung würden nicht nur entlassen, sondern sozial zerstört. Der Name aller Entlassenen werde im Amtsblatt publiziert, ihre Diplome und Pässe würden vernichtet. Sie bekämen keine Arbeit mehr, hätten kein Einkommen, verlören ihre Wohnung und litten mit ihrer Familie Hunger. Erdogan schalte seine Person mit der Allmacht im Staat gleich und setze die Rechtsstaatlichkeit außer Kraft: "Das ist eine Gebrauchsanweisung zu einer Diktatur." [2]

Driftet das Land in Richtung "islamo-türkischer Diktatur" ab, wie der Grünen-Parteichef Cem Özdemir harsch kritisiert? Erdogan schreibe mit seinen Leuten ein Drehbuch: Erst habe es den Putschversuch gegeben, nun könne man in Ankara innerhalb weniger Sekunden die sozialen Medien lahmlegen. Jeder, der in irgendeiner Weise oppositionsnah sei, müsse damit rechnen, daß ihm die wirtschaftliche Grundlage entzogen werde. Dann sei der Schlag gegen die Opposition erfolgt. Inzwischen sei die sozialdemokratische CHP die einzige im Parlament verbliebene Oppositionspartei, von der keine Abgeordneten im Gefängnis säßen, doch sie werde wahrscheinlich als nächste an der Reihe sein. Die Türkei rede davon, die Todesstrafe einzuführen, praktizierte sie jedoch längst im Osten des Landes. Es gebe keine polizeilichen Ermittlungen, keine Berichterstattung der Presse, keine Richter: Menschen würden "extralegal hingerichtet". [3]

Herrscht in der Türkei eine "De-facto-Diktatur", wie es der Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt in Mainz, Günter Meyer, formuliert? Seit die AKP 2002 die Macht übernommen habe, verfolge Erdogan die Strategie eines autoritären Staates mit einer islamistischen Ordnung. Das Vorgehen gegen die HDP passe genau in dieses Bild, da der Präsident nun alle seine Gegner ausgeschaltet habe. [4] Sind die aktuellen Entwicklungen genauso gefährlich wie der Umsturzversuch am 15. Juli, was der frühere Chefredakteur der Cumhuriyet, Can Dündar, für naheliegend hält? Damals sei das Parlament bombardiert worden, jetzt würden Parlamentarier eingesperrt. Was bleibe dem Land ohne Parlament, ohne funktionierende Justiz, ohne freie Presse? "Nur die Faschisten."

Erdogan selbst gibt sich herrischer denn je und verkündet, daß ihn Kritik aus dem Ausland nicht interessiere: "Es kümmert mich überhaupt gar nicht, ob sie mich einen Diktator oder Ähnliches nennen. Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Wichtig ist, was mein Volk sagt." [5] Wie lange wird "sein Volk" noch hinter ihm stehen und die massive Repression im Inneren wie auch den Angriffskrieg in den Nachbarländern nicht nur hinnehmen, sondern befürworten? Materieller Kern aller ideologischen Heilsversprechen bleibt die türkische Ökonomie und die soziale Lage der Menschen im Land. Solange es Erdogan gelingt, den Mythos zu nähren, er habe die Lebensverhältnisse erheblicher Teile insbesondere der ärmeren und zuvor unterprivilegierten Bevölkerung tatsächlich verbessert, kann er sich einer Massenbasis sicher sein.

Zugleich muß sich sein Regime die Rückendeckung seitens der einflußreichsten Kapitalfraktionen des Landes sichern. Der forciert neoliberale Kurs ist nicht aufgehoben, aber in eine Zentralisierung übergegangen, die zu einer Umformierung der Einzelkapitale und ihrer Bedeutung geführt hat. So hat insbesondere die Kampagne gegen die vordem wirtschaftlich starke Gülen-Anhängerschaft enorme ökonomische Mittel in die Hände der AKP-Regierung überführt, die durch den Wiederverkauf dieser Unternehmen eine ihr verbundene Sektion neu aufgestiegener Wirtschaftsakteure zu schaffen verstand. Dies trägt maßgeblich zur Konsolidierung des Regimes bei, kann aber die tendenzielle Krise der türkischen Ökonomie nicht abwenden. Daher ist der Kriegskurs Ankaras nicht nur ein Resultat langgehegter Bestrebungen, den kurdischen Widerstand vollständig auszulöschen und geostrategischen Einfluß zu gewinnen, sondern zugleich die aggressivste Form angestrebter Krisenbewältigung.

Könnte die EU ihren Einfluß geltend machen, wie es Asselborn gefordert hat? "Das ist ein absolutes Druckmittel, und in einem gewissen Moment kommen wir auch nicht daran vorbei, dieses Druckmittel einzusetzen", so der Außenminister Luxemburgs. Dieser Auffassung sind auch die Linkspartei und die Grünen: Die Androhung von Sanktionen sei "das Stoppschild, das Erdogan jetzt braucht", so der Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Dieter Janecek. Die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen mahnt gezielte Sanktionen gegen Erdogan und sein Umfeld an, da allgemeine Sanktionen die Bevölkerung treffen würden. Die Vorsitzende der Grünen, Simone Peter, fordert den Abzug der Bundeswehr vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik wie auch die Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens zwischen der Türkei und der EU. [6]

Das sieht die Bundesregierung ganz anders, die für eine vorgebliche Doppelstrategie plädiert, wo sie die eigenen hegemonialen Ambitionen nie aus dem Blick verliert. "Ein differenzierter Blick unter Wahrung unserer Interessen ist der richtige Weg", so Innenminister Thomas de Maiziere auf dem Deutschland-Kongreß der Union zur inneren und äußeren Sicherheit. Die Verhaftung von Oppositionellen und die Einschränkung der Pressefreiheit müßten deutlich kritisiert werden, aber gleichzeitig sei die Türkei ein wichtiger Partner im Antiterrorkampf, weiß deutsche Regierungspolitik zwischen symbolpolitischen Gesten und hartem Kerngeschäft zielführend zu unterscheiden. Die Türkei helfe dabei mit, deutsche IS-Kämpfer auf dem Weg nach Syrien oder nach der Rückkehr zu melden und schließlich sei die Kurdische Arbeiterpartei PKK auch in Deutschland verboten. Zuvor hatte sich bereits Regierungssprecher Seibert gegen Sanktionen ausgesprochen: Nötig sei jetzt eine "klare und gemeinsame europäische Haltung" zur Türkei, die aber "offener Gesprächskanäle" bedürfe.

Daß 50 Prozent der türkischen Exporte in die Europäische Union gehen und umgekehrt 60 Prozent der Investitionen in der Türkei aus der EU kommen, mag auf den ersten Blick wie ein naheliegender Hebel wirken, das Erdogan-Regime unter Druck zu setzen. Die Türkei ist wirtschaftlich schwer angeschlagen, nach dem gescheiterten Putsch waren die Aktienkurse abgesackt, die Landeswährung Lira eilte von einem Rekordtief zum nächsten. Die Ratingagentur Standard & Poor's stufte die Kreditwürdigkeit des Landes auf Ramschniveau herab. Durch die Anschläge ist die Tourismusbranche, die zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmacht, eingebrochen. Zugleich weist das Schwellenland seit Jahren ein Leistungsbilanzdefizit auf und ist deshalb auf Kapitalzuflüsse aus dem Ausland angewiesen.

Die enge Verflechtung der Handelsbeziehungen insbesondere zwischen Deutschland und der Türkei ist jedoch für die deutsche Exportwirtschaft und die Bundesregierung ein wesentlicher Grund, die Kanäle offenzuhalten. Im Jahr 2015 exportierte die Türkei Waren im Wert von 14 Milliarden Euro nach Deutschland und kaufte im Gegenzug deutsche Produkte für 22,4 Milliarden Euro, womit sie auf Platz 14 der wichtigsten deutschen Exportmärkte landete. Rund 60 Prozent der Ausfuhren dorthin entfielen auf den Maschinenbau sowie auf die Automobil- und die Chemiebranche. Im vergangenen Jahr erreichten die deutschen Direktinvestitionen in der Türkei rund 9,2 Milliarden Euro, 1,2 Milliarden mehr als im Jahr zuvor. Derzeit gibt es dort rund 6000 deutsche Unternehmen oder Firmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. [7]

Zwar sehen die Vertreter der Automobilindustrie und des Maschinenbaus ihre künftigen Geschäfte gefährdet und fordern Planungssicherheit wie auch Rechtsstaatlichkeit. Sie wollen mögliche Investitionen in der Türkei jetzt besonders kritisch prüfen und gehen wie fast die gesamte deutsche Wirtschaft davon aus, daß ihre Geschäfte dort beeinträchtigt werden. Wo deutsche Kapitale politische Unsicherheit und Instabilität am Bosporus beklagen, plädieren sie für eine Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung, die ihnen solide Profitaussichten garantiert und nicht ins eigene Fleisch schneidet. Daher können sie Sanktionen nichts abgewinnen und hätten anderslautenden Beteuerungen zum Trotz sicher nichts dagegen, gelänge es Erdogan, das Regime zu konsolidieren und Friedhofsruhe in Kreisen jeglicher Opposition einkehren zu lassen.


Fußnoten:

[1] http://martin-niemoeller-stiftung.de/martin-niemoeller/was-sagte-niemoeller-wirklich#more-212

[2] http://www.focus.de/politik/videos/asselborn-luxemburgischer-aussenminister-vergleicht-erdogan-tuerkei-mit-nazi-herrschaft_id_6170507.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/die-lage-in-der-tuerkei-das-land-driftet-in-richtung-islamo.694.de.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/festnahmen-von-hdp-abgeordneten-was-wir-gegenwaertig-in-der.694.de.html?

[5] http://www.wiwo.de/politik/ausland/tuerkei-luxemburg-bringt-wirtschaftssanktionen-ins-spiel/14803476.html

[6] http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2016/11/08/bundesregierung-zoegert-bei-sanktionen-gegen-die-tuerkei/

[7] http://www.dw.com/de/türkei-sanktionen-wären-zweischneidiges-schwert/

8. November 2016


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