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REPRESSION/1541: "Gefährder" - Kombattanten in neuem Gewand (SB)



Bekanntlich hat die Administration des damaligen US-Präsidenten George W. Bush den von ihr inszenierten und exekutierten Antiterrorkrieg mittels eigens zu diesem Zweck angeheuerter hochrangiger Juristen maßgeschneidert legalisieren lassen. Diese Abkürzung, das benötigte Recht, zu morden, zu foltern und willkürlich gefangenzuhalten, gewissermaßen aus einer Hand und einem Guß zu produzieren, fand zwangsläufig Gefallen in anderen westlichen Ländern, ließ sich aber angesichts der jeweils spezifischen Rechtsverständnisse und gesellschaftlichen Diskurse nicht eins zu eins übertragen. Die Bush-Ära wurde seither heftig kritisiert, was jedoch keineswegs dazu führte, daß die von ihr neu definierte Deutungsmacht der Weltverhältnisse, die Kette unendlicher Kriege und die innovative Ausgestaltung repressiver Staatlichkeit korrigiert worden wäre.

Daß die sukzessive Anpassung exekutiver Verfügung und juristischer Unterfütterung an die Erfordernisse forcierter Zugriffsgewalt auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden fiel, belegt die 2004 von der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamts festgelegte Begriffsbestimmung des "Gefährders". Darunter fallen im Zusammenhang der öffentlichen Sicherheit und Gefahrenabwehr Personen, bei denen kein konkreter Hinweis vorliegt, daß sie eine Straftat planen, jedoch "bestimmte Tatsachen die Annahme der Polizeibehörden rechtfertigen, daß sie Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen" werden.

Daß diese Begrifflichkeit rechtlich nicht verankert ist, liegt insofern auf der Hand, als "Gefährder" im juristischen Sinne nicht einmal Verdächtige sind, da gegen sie keine konkreten Hinweise vorliegen. Der Begriff gerät folglich in Konflikt mit der Unschuldsvermutung, wenn "Gefährder" wie Verdächtige oder Straftäter behandelt werden. Bekannt wurde dieses Konstrukt durch den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, der in einem Spiegel-Interview vom 7. Juli 2007 [1] gesetzliche Grundlagen zur restriktiven Behandlung solcher "Gefährder" forderte. Sie sollten wie Kombattanten nach dem Kriegsvölkerrecht behandelt und interniert werden. Die Rechtsgrundlage entspreche etwa dem Unterbindungsgewahrsam, mit dem Hooligans aus dem Verkehr gezogen würden.

Wenngleich ähnliche Forderungen zur Errichtung des Lagers Guantanamo geführt hatten, machte sich Schäuble damals für die Schaffung eines Straftatbestandes der "Verschwörung", die "Internierung" von "Gefährdern" und deren Behandlung als "Kombattanten" stark. Selbst die "gezielte Tötung von Verdächtigen" war für Schäuble kein vom Grundgesetz strikt verbotenes Tabu, sondern ein "rechtliches Problem", das seiner Ansicht nach noch "völlig ungeklärt" sei. Für unabdingbar erklärte er zudem die Legalisierung der sogenannten "Online-Durchsuchung", da sich Deutschland "im Fadenkreuz des islamistischen Terrorismus" befinde. Die "Überwachung der Kommunikation" sei aus diesen Gründen "lebensnotwendig".

Mit diesen Äußerungen nahm Schäuble damals selbst unter den Vertretern des sogenannten "Feindstrafrechts" eine Extremposition ein, die nach Auffassung vieler Juristen nicht mehr von der Verfassung gedeckt wurde. Der Strafrechtler und Rechtsphilosoph Günther Jakobs hatte 2004 mit seinem Aufsatz "Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht" eine heftige Kontroverse ausgelöst. Straf- und Verfassungsjuristen diskutierten ein besonderes Strafrecht für "Staatsfeinde", denen bestimmte Bürgerrechte verwehrt werden sollen, damit sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft werden können. Jakobs zufolge hätten Menschen, welche die staatliche Rechtsordnung ablehnen oder sie gewaltsam ändern wollen, ihre Bürgerrechte verwirkt. Das gelte nicht nur für Terroristen, sondern auch für Kriminelle, die nach den Regeln informeller Gesetze lebten. [2]

Wurde der Begriff des "Gefährders" vor zehn Jahren noch kontrovers diskutiert, scheint er inzwischen zu einer nicht länger hinterfragbaren Faktizität geronnen zu sein. Am 10. September 2016 teilte Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit, die Zahl der in Deutschland lebenden "Gefährder" sei mit 520 Personen so hoch wie nie zuvor. Hinzu kämen rund 360 "relevante Personen", nämlich Menschen im näheren Umfeld von "Gefährdern", die bereit seien, bei der Vorbereitung einer politisch motivierten Straftat von erheblicher Bedeutung logistisch zu helfen. "Gefährder" sind nicht automatisch Islamisten, doch stellen diese aus Sicht der Behörden die mit Abstand größte Gruppe. Als rechte "Gefährder" sind derzeit 20 Personen eingestuft, als linke fünf.

Der Umstand, daß der Attentäter von Berlin, Anis Amri, in Nordrhein-Westfalen als "Gefährder" geführt und in Berlin zeitweise observiert wurde, hat dem Ruf nach verschärften Maßnahmen gegen diese Personengruppe Tür und Tor geöffnet. Warum haben die Behörden diese gut 500 Personen nicht lückenlos überwacht, zumal sich einige von ihnen im Ausland befinden und andere im Gefängnis sitzen? Schenkt man der Version Glauben, Amri sei tatsächlich vor dem Anschlag vom Radar der Sicherheitsdienste verschwunden, könnte man der Erklärung folgen, es seien etwa 40 Polizisten erforderlich, um eine Person 24 Stunden zu überwachen, wie dies Sebastian Fiedler, stellvertretender Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), geltend macht. Eine lückenlose Observation aller "Gefährder" sei daher praktisch nicht umsetzbar und die Forderung nach einer Dauerüberwachung "absurd". [3]

Abgesehen davon ist eine Dauerüberwachung ohne zeitliche Beschränkung rechtlich gar nicht möglich, da es sich bei einer Observation um einen Eingriff in die Grundrechte einer Person handelt, der jeweils für eine gewisse Frist gerichtlich genehmigt werden muß. Im Falle Anis Amris wurde die Observation und Überwachung der Kommunikation im September offiziell eingestellt, da es nach Angaben der Berliner Generalstaatsanwaltschaft keine Anhaltspunkte für eine Anschlagsvorbereitung gegeben habe. Auch soll im 2004 gegründeten Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum in Berlin, wo 40 Behördenvertreter aus Polizei und Nachrichtendiensten zusammensitzen, über Amri gesprochen worden sein.

Wie kaum anders zu erwarten, spricht sich auch Fiedler für den Einsatz von elektronischen Fußfesseln für Gefährder aus. Diese würden es der Polizei ermöglichen, einige "Gefährder" zu jedem Zeitpunkt zu lokalisieren und ihre Bewegungen nachzuvollziehen - mit wesentlich weniger Personal. Allerdings gibt es auch dafür keine rechtliche Grundlage. Gesetze lassen sich jedoch ändern, wie schon Schäuble 2007 vehement gefordert hat. Auch wenn ihm vieles versagt blieb, was er im Handstreich durchsetzen wollte, weiß er doch um den Wert des steten Tropfens auf dem Weg in den Sicherheitsstaat. Vieles was damals empört zurückgewiesen wurde, wird heute weithin akzeptiert.

Das gilt hierzulande vor allem für den Ausbau der Videoüberwachung, den jüngsten Umfragen zufolge 60 Prozent der Bundesbürger befürworten sollen. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Stephan Mayer (CSU) beklagt im Deutschlandfunk [4] einen "partiellen Kontrollverlust an der deutschen Grenze" im Jahr 2015 und spricht sich entschieden für die Ausweitung der Binnengrenzkontrollen in Deutschland aus. Außerdem sei er der festen Überzeugung, daß eine Ausweitung der Videoüberwachung, insbesondere an öffentlichen Plätzen und in privaten Einrichtungen, die öffentlich zugänglich sind wie beispielsweise Einkaufszentren oder Veranstaltungs- und Sporthallen, gefahrenabwehrend wirkt und die Aufklärung von Straftaten erleichtert. In Berlin drängt Innenminister Thomas de Maizière darauf, die Videoüberwachung auszuweiten, und fordert die Linkskoalition auf, ihre ablehnende Haltung zu überdenken. Der Chef der Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, hält diese Form der Überwachung nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz für wichtiger denn je und kritisiert die rot-rot-grüne Regierung an der Spree in scharfer Form. Unterdessen fordert die CSU, "Gefährder" sollten früher als bisher in Haft genommen werden können, die Abschiebehaft solle auf vier Wochen verlängert, gegebenenfalls danach eine Überwachung durch elektronische Fußfesseln erleichtert werden. Zudem bringen Unionspolitiker erneut eine erweiterte Datenspeicherung, etwa bei E-Mails und WhatsApp-Nachrichten, auf den Tisch. [5]

In Frankreich sind den Sicherheitskräften nicht nur zusätzliche Kontrollen an den Grenzen erlaubt. Sie dürfen Wohnungen ohne richterlichen Beschluß durchsuchen, mutmaßliche Dschihadisten leichter als zuvor unter Hausarrest stellen oder zum Tragen von elektronischen Fußfesseln verpflichten. Ex-Präsident Nicolas Sarkozy macht sich dafür stark, die gefährlichsten "Gefährder" sofort unter strengen Hausarrest zu stellen und sämtliche in der entsprechenden Datei geführten Personen mit elektronischen Fußfesseln zu überwachen. Da es sich nach offiziellen Angaben jedoch bereits um mindestens 10.500 Personen handelt, bleibt Sarkozy nähere Angaben zur Umsetzung schuldig.

Noch rigoroser fordert der Front National, alle Nicht-Franzosen, die in der "Gefährder"-Datei aufgeführt sind, sofort abzuschieben. Die Regierung von Francois Hollande hatte sich die Forderung des Front National zu eigen gemacht, verurteilten Terroristen die französische Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn diese noch eine zweite besitzen. Dieser Vorstoß, war jedoch am Widerstand aus den eigenen Reihen gescheitert. Georges Fenech von den Republikanern schlägt vor, alle Rückkehrer aus dem Dschihad in einem Internierungslager wegzusperren. Gegen ein solches "französisches Guantanamo" hatte sich Manuel Valls noch als Premierminister ganz vehement ausgesprochen. Inzwischen zieht der wahrscheinliche Präsidentschaftskandidat der Sozialisten offensichtlich entschiedenere Maßnahmen gegen Terrorverdächtige in Betracht und bezeichnet die "Gefährder"-Datei als Mittel der Überwachung in einem Krieg, den man gegen den Terrorismus führe, um die Sicherheit der Franzosen zu garantieren: "Darum überprüfen wir alle Möglichkeiten und schließen keine Lösung aus." [6] Daß in Frankreich nun schon seit einem Jahr Ausnahmezustand herrscht, der nicht beendet, sondern erst kürzlich wieder verlängert worden ist, droht darüber fast in Vergessenheit zu geraten.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spiegel-interview-schaeuble-fordert-handy-und-internetverbot-fuer-terrorverdaechtige-a-493094.html

[2] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Schaeuble-fordert-Internierung-Internet-und-Handyverbot-fuer-Gefaehrder-148706.html

[3] https://www.tagesschau.de/inland/umgang-gefaehrder-101.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/schaerfere-sicherheitsmassnahmen-wir-haben-nicht-viel-zeit.694.de.html

[5] http://www.deutschlandfunk.de/sicherheitsdebatte-csu-und-staedte-dringen-auf-mehr.1766.de.html

[6] http://www.deutschlandfunk.de/gefaehrder-in-frankreich-politiker-fordern-ueberwachung-mit.1773.de.html

28. Dezember 2016


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