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REPRESSION/1568: Krokodilstränen und ein kühler Kopf (SB)



Jetzt sei ein kühler Kopf gefragt, heißt es allenthalben, wenn deutsche Politiker und Journalisten vor dem verbalen Pogrom gegen hierzulande lebende Menschen türkischer Herkunft warnen und damit den Generalverdacht um so unmißverständlicher kommunizieren. Was ist nur schiefgelaufen, daß es ausgerechnet die Stimmen der Deutsch-Türken waren, die Recep Tayyip Erdogan maßgeblich den Weg in die Präsidialdiktatur geebnet haben? Von den etwa 1,43 Millionen wahlberechtigten türkischen Staatsbürgern in Deutschland haben zwar nur 46 Prozent am Urnengang teilgenommen, doch stimmten davon 63,1 Prozent mit "Ja", während es beim Referendum insgesamt nur 51,3 Prozent waren. In Ländern wie Belgien, den Niederlanden und Österreich fiel das Votum mit jeweils gut 70 Prozent für das Präsidialsystem noch eindeutiger aus, doch wiegt der deutsche Anteil von rund 450.000 abgegebenen "Ja"-Stimmen in absoluten Zahlen gemessen am schwersten. [1]

Während in allen größeren Städten der Türkei die Ablehnung überwog, verhielt es sich hierzulande genau umgekehrt. Fast 76 Prozent Zustimmung in Essen, annähernd 70 Prozent in Düsseldorf, Stuttgart mit 66 Prozent, Karlsruhe mit gut 61 Prozent, knapp 58 Prozent in Frankfurt, 57 Prozent in Hamburg und 50,1 Prozent in Berlin - nirgendwo lagen die "Nein"-Stimmen in Front. [2] Obwohl die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) das Referendum unterstützten, ist die absolute Stimmzahl des "Ja"-Lagers um 15 bis 20 Prozent kleiner als der gemeinsame Stimmenanteil dieser beiden Parteien bei der Wahl im November 2015, zumal knapp 50 Prozent der MHP-Wähler mit "Nein" gestimmt haben. [3] Der seidene Faden, an dem der Triumph des Erdogan-Regimes hing, wurde insbesondere in Europa gesponnen, obgleich die Wahlberechtigten hier anders als in der Türkei ohne massive Repression und wohl auch Manipulation im Wahllokal abstimmen konnten.

Daß diskriminierte, ausgegrenzte und drangsalierte Minderheiten nicht selten ihre Zuflucht in nationalistischen, kulturalistischen und rassistischen Heilsversprechen suchen, ist aus der Geschichte zahlreicher Staaten und so auch der deutschen sattsam bekannt. "Heim ins Reich" war die Parole zahlloser Volksgenossen in den Nachbarländern, denen der vom NS-Staat erzwungene Anschluß gar nicht schnell genug kommen konnte. Wenn türkische "Gastarbeiter", mit Argwohn überzogene Muslime, der "Parallelgesellschaft" bezichtigte Einwanderer in der Bundesrepublik jahrzehntelang nur als billige Arbeitskräfte und pittoreske Kleinhändler erwünscht, keinesfalls aber als gleichrangige Staatsbürger geduldet wurden, sitzt dieser Stachel der Verachtung und Zurückweisung tief.

Auf Drängen Deutschlands, das kein ähnlich bevölkerungsreiches Land neben sich in der Europäischen Union duldet, war ein Beitritt der Türkei als vollwertiges Mitglied nie vorgesehen. Die von Angela Merkel seinerzeit ersatzweise in Aussicht gestellte "privilegierte Partnerschaft" und damit die dauerhafte Zweitrangigkeit war ein Schlag ins Gesicht der Türkinnen und Türken, die erkennen mußten, daß sie am Tisch der Europäer niemals Platz nehmen würden. Daß die ersten Generationen türkischer Einwanderer stillhielten und in ihren bestimmenden Motiven durchaus an die Lebenswünsche der deutschen Nachkriegsgeneration erinnerten, sich vor allem eine Existenz aufzubauen und ansonsten nicht aufzufallen, mochte aus Perspektive hiesiger Herablassung oder gar "Leitkultur" für selbstverständlich genommen werden.

Der von den USA losgetretene und den europäischen Mächten bereitwillig assistierte "Antiterrorkrieg", der sich gegen die islamische Welt richtet, hat je nach Schätzung mindestens vier bis sechs Millionen Muslime, die allermeisten von ihnen Zivilisten, das Leben gekostet. In Deutschland wird der Islam längst offen als rückständige, freiheitsfeindliche und gewaltbereite Religion diskreditiert. Menschen dieses Glaubens wird als Bringschuld der unablässige Beweis des Gegenteils samt der Inpflichtnahme abverlangt, gefälligst in ihren eigenen Reihen aufzuräumen.

In welchem Maße diese Rechnung ohne den Wirt, nämlich den starken Mann am Bosporus, gemacht wurde, der seinen Landsleuten nah und fern den ersehnten Freischlag mit harter Hand verspricht, zeigt das Referendum. Ohne in dieser vielschichtigen Gemengelage einer monokausalen Deutung den Zuschlag zu geben, nimmt es doch nicht wunder, daß die irrationale Hoffnung, Erdogan werde allen Menschen türkischer Herkunft Würde, Wohlstand und Sicherheit bescheren, in diesem demagogischen Zukunftsentwurf auf fruchtbaren Boden fällt. Wo deutscher Rassismus die Türken zum Teufel wünscht, bis türkischer Rassismus es den Deutschen mit gleicher Münze heimzahlt, bricht sich ein fundamentales Gewaltverhältnis Bahn.

Als NATO-Mitglied, Handelspartner, Statthalter europäischer Flüchtlingsabwehr, Waffenkäufer und Geißel der kurdischen und türkischen Linken war die Regierung in Ankara auch unter der Führung Erdogans stets ein willkommener Flankenschutz. Niemand fiel dem Machthaber in den Arm, als er der gesamten kurdischen Bevölkerung im eigenen Land den Krieg erklärte, um ihren Widerstand zu brechen, ihre Lebenszusammenhänge zu zerstören und ihre kulturelle Identität auszulöschen. Niemand zieht ihn zur Rechenschaft, wenn er das nordsyrische Rojava angreift, um den dort praktizierten kurdischen Gesellschaftsentwurf zu zerschlagen. Niemand fährt seiner Repressionswelle seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016, den er noch in derselben Nacht als "Geschenk Gottes" bezeichnete, mit wirksamen Mitteln in die Parade, obgleich die Drangsalierung jeglicher Opposition kein Ende nimmt. Statt dessen schickt die deutsche Justiz kurdische und türkische Linke aufgrund Geheimdienstinformationen aus Ankara, die mutmaßlich unter Anwendung von Folter erpreßt worden sind, hierzulande ins Gefängnis. Wer heute Krokodilstränen darüber vergießt, daß die deutsche Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte Versäumnisse aufweise, kolportiert einen makabren Türkenwitz, bei dem einem das bittere Lachen im Halse steckenbleibt.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/tuerkisches-verfassungsreferendum-sorgen-ueber.2852.de.html

[2] http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kommentar-zu-deutsch-tuerken-beim-referendum-mit-dem-kopf-in-der-tuerkei.2e2c8c75-a070-45a3-96d3-244524028961.html

[3] https://www.wsws.org/de/articles/2017/04/18/turk-a18.html

19. April 2017


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