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REPRESSION/1601: Ankara - Inflation auf Überholkurs ... (SB)



Die sich abzeichnende Wirtschaftskrise in der Türkei weist die spezifischen Charakteristika aufholender Entwicklung eines Schwellenlandes auf. Boomphasen lösen Wachstumsschübe aus, während der Rückstand in der Entwicklung der Produktivkräfte gegenüber den führenden Industriestaaten für anwachsende strukturelle Unwuchten sorgt. Wenngleich das Feuer ökonomischer Stoffwechselprozesse noch immer angeheizt wird und Prosperität suggeriert, schlägt die Abhängigkeit von stärkeren Volkswirtschaften bis zu einem Kulminationspunkt durch, an dem mehr oder minder große Teile des zunehmend ins Wanken geratenen Gebäudes einbrechen. Solche Verläufe haben in der jüngeren türkischen Geschichte mehrfach stattgefunden.

So wuchs die Wirtschaft in den 1990er Jahren mit einer durchschnittlichen Rate von über 5 Prozent, während es immer wieder zu schweren Wirtschaftskrisen (1994, 1999 und 2001) kam. Bei der letzten schweren Krise im Jahr 2001 stand das Land unter der Regierung von Bülent Ecevit am Rande des Staatsbankrotts. Ein anwachsendes Leistungs- und Handelsbilanzdefizit, verbunden mit einem maroden Bankensystem und einer Staatskrise löste Spekulationen und Kapitalflucht aus. Die Zentralbank sah sich gezwungen, die Landeswährung Lira freizugeben, deren Wert binnen weniger Stunden um 40 Prozent verfiel. Dadurch stiegen die ausländischen Schulden in unbezahlbare Höhen, woraufhin viele Unternehmen Konkurs gingen und die Arbeitslosigkeit stark anstieg. Resultat war eine der schwersten Rezessionen in der Geschichte des Landes, viele Banken meldeten Insolvenz an, worauf die Einlagen vom Staat gesichert wurden. Um einen Staatsbankrott abzuwenden, gewährte der IWF der Türkei im Zeitraum von 2002 bis 2004 einen Kredit in Höhe von insgesamt 31 Milliarden Dollar.

Eine strikte Austeritätspolitik, die Auflagen des IWF sowie die Reform des Banken- und Finanzsektors brachten eine stabile Ausgangslage hervor, welche die Türkei in der Weltwirtschaftskrise ab 2008 vor schweren Verwerfungen bewahrten. Dies galt auch für andere Schwellenländer wie insbesondere Brasilien, dessen Ökonomie im verzweifelten Griff nach dem Strohhalm in der allgemeinen Verwertungskrise des Kapitals zu Unrecht zum Rettungsmodell verklärt wurde. Die vermeintliche Stärke von Schwellenländern in Gestalt von Rohstoffen ist befristeter Natur und unterstreicht doch nur ihre Unterlegenheit im Machtgefüge der Weltwirtschaft. So war die Türkei 2004 der sechstgrößte Baumwollhersteller der Welt und die Textilindustrie der wichtigste industrielle Sektor wie auch die größte Exportbranche. Im Jahr 2006 geriet die türkische Textilindustrie in eine Krise und mußte mehrere 100.000 Menschen entlassen, weil sie mit den Billiglöhnen in Ostasien nicht konkurrieren konnte.

Erdogan und die AKP profitierten in den frühen 2000er Jahren von wirtschaftlichen Voraussetzungen, die sie gewissermaßen geerbt hatten, aber in der Folge als ihre Errungenschaft verkaufen konnten. Nachdem die schwere Krise zu Lasten weiter Teile der Bevölkerung abgewettert war, kam es vor dem Hintergrund einer günstigen internationalen Situation zu einem aufholenden Schub in bestimmten Sparten, für den die Politik allenfalls bedingt verantwortlich war. Das Versprechen, Ankara habe eine krisenfeste ökonomische Alternative entwickelt, die das Land dauerhaft stärken und gegen jegliche weltweite Talfahrt immunisieren werde, hielt lange vor, erwies sich aber zwangsläufig als Fiktion. Zunächst aber nährte ein regelrechtes Wirtschaftswunder mit Wachstumsraten von bis zu neun Prozent, großen Zuwächsen an ausländischen Investitionen und einem deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit den Mythos, Erdogan sei der Vater von Fortschritt und Wohlergehen aller Menschen in der Türkei. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg spürbar an, und der steigende Wohlstand erschloß der AKP breite und loyale Wählerschichten insbesondere in der ärmeren und konservativen anatolischen Bevölkerung.

Indessen ist die Vorstellung, Erdogan habe seinen Landsleuten zumindest einen gewissen Wohlstand auf Dauer verschafft, mit Vorsicht zu genießen. Zum Beleg dieser Behauptung werden volkswirtschaftliche Rechenexempel mit statistischen Durchschnittswerten vorgeführt, die mit den Besitzständen und Vermögensverhältnissen wenig bis gar nichts zu tun haben. Erdogan verteilte in paternalistischer Zuteilung staatliche Leistungen vielfach wie persönliche Geschenke an sein Volk und geizte nicht mit Prunk- und Großprojekten, um den Mythos von der segenspendende Güte des Landesvaters zu fördern, auch wenn sich diese in der eigenen Tasche der meisten Menschen kaum wiederfindet.

In den letzten Jahren drängen wachsende wirtschaftliche Verwerfungen immer stärker zum Ausbruch, nur mühsam und oftmals krisenverschärfend von staatlichen Notmaßnahmen im Zaum gehalten. Da die Türkei fast ihr gesamtes Gas und Öl aus dem Ausland importiert und einen Großteil der Geschäfte über den Dollar abwickelt, leidet die Wirtschaft massiv unter dem hohen Dollar- und Ölpreis. Ausländische Unternehmen haben ihre Investitionen in vielen Fällen auf Eis gelegt, da ungewiß ist, ob sich diese in einem Umfeld mit schwachem Wachstum noch lohnen und ob das Eigentum ausreichend geschützt bleibt, wenn die Rechtsstaatlichkeit de facto abgeschafft wird. Zudem ist der Konsum der türkischen Verbraucher angesichts der wirtschaftlichen Unsicherheit zunehmend verhalten, was die Probleme verschärft. Spätestens seit dem gescheiterten Putsch am 15. Juli 2016 ist die Wirtschaftsflaute zum Dauerzustand geworden. Die wichtige Tourismusindustrie ist massiv eingebrochen, vor allem Buchungen aus Deutschland sind erheblich zurückgegangen. Da etwa 13 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung und rund drei Millionen Arbeitsplätze am Tourismus hängen, ist allein das schon ein gravierender Rückschlag für die Konjunktur und sozialen Verhältnisse.

Da die despotischen Träume Erdogans und das Schicksal der AKP untrennbar mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Türkei verbunden sind, muß das Regime um seinen Machtverlust fürchten. Erkennt die Bevölkerung, auf welch tönernen Füßen die türkische Wirtschaft und damit auch ihr eigenes Wohlergehen steht, bricht dem Präsidenten die politische Unterstützung weg. Das erklärt die Eile, mit der Erdogan das Präsidialsystem durchgepeitscht und nun auch die Wahlen vom November 2019 auf den 24. Juni 2018 vorgezogen hat. Er versucht sein Regime dauerhaft abzusichern, ehe ihn eine Mehrheit im Land stürzen kann.

Die Zeichen stehen inzwischen auf Sturm, da der Türkei akut ein Schuldenkollaps droht. Die türkische Währung befindet sich im freien Fall und hat seit Jahresanfang zum Dollar gut 20 Prozent an Wert verloren. Weltweit steht nur der argentinische Peso noch schlechter da, und Buenos Aires mußte den IWF um Hilfe bitten, um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Wenige Wochen vor seiner erhofften Wiederwahl entgleiten Erdogan die vermeintlichen Zügel der Wirtschaft, während er in einem Vabanquespiel alles auf eine Karte setzt. Die fallende Währung heizt die Inflation massiv an und untergräbt die Kreditwürdigkeit des Landes. Staat und Unternehmen haben sich größtenteils in Dollar verschuldet, so daß die Verbindlichkeiten mit dem Wertverfall der Lira wachsen und die Wirtschaft ruinieren. Zahlreiche Unternehmen können schon jetzt ihre Schulden nicht mehr bedienen.

Höhere Zinsen in den USA und ein steigender Dollar führen dazu, daß die globalen Investoren den Schwellenländern generell kritischer gegenüberstehen, weil sie inzwischen auch an der Wall Street wieder kräftige Renditen bekommen. Bei den großen Ratingagenturen rangiert die Türkei nur noch auf "Schrott-Status". Anfang Mai hatten die Bonitätsprüfer von S&P das Land noch tiefer in sogenanntes Junk-Territorium zurückgestuft, nun sieht die Ratingagentur Fitch die Unabhängigkeit der Notenbank in akuter Gefahr, was wiederum negative Auswirkungen auf die Bonität des Landes hat. Und diese Meldungen schlagen natürlich auf die Bevölkerung durch, die ihre Ersparnisse vermehrt in Dollar umtauscht.

Erdogan setzt voll und ganz auf das Wirtschaftswachstum, das im vierten Quartal 2017 noch bei stattlichen sieben Prozent lag. Als sei allein diese Zahl relevant, hohe Inflation und Arbeitslosigkeit hingegen Makulatur im Kampf um die Gunst der Wählerschaft, stemmt er sich im Endspurt vor dem Urnengang vehement gegen alle Maßnahmen zur Stützung der Währung, die das Wirtschaftswachstum schmälern könnten. Wenngleich letzten Endes niemand mit Sicherheit sagen kann, wie die türkische Lira zu retten sein könnte, schlagen doch die meisten internationale Experten vor, daß die Notenbank aggressiv gegensteuern und die Zinsen kräftig anheben müsse. Das koste zwar einen Teil des Wachstums, verhindere aber am ehesten die Rezession, deren Folgen sehr viel verheerender wären. Erdogan hat jedoch die Notenbank gemaßregelt und Zinserhöhungen kürzlich als "Vater allen Übels" bezeichnet. Hohe Zinsen seien schon jetzt der Hauptgrund für die hohe Inflation, so der Präsident entgegen dem Trend der Experten. Daher wagen es die potentiellen Währungshüter kaum noch, jene Maßnahmen zu ergreifen, die aus ihrer Sicht geboten erscheinen. Kurzfristige Erhöhungen wirken denn auch eher wie panikartige Aktionen denn wie eine überlegte Geldpolitik. [1]

Erdogan bedient sich niedriger Zinsen und Geldgeschenke an Unternehmen und Bürger, um einen Kollaps der Wirtschaft vor dem Wahltag zu verhindern. Er stellte den türkischen Rentnern eine Sonderzahlung in Aussicht und versprach allen Landsleuten, die ihr Vermögen aus dem Ausland in die Heimat zurückbringen, volle Straffreiheit. Noch dringt er mit der Behauptung durch, der Kursverfall der Lira werde von finsteren Kräften im Ausland gesteuert. [2] Der türkische Präsident gleicht einem Piloten, der das Land in den Abgrund steuert, solange ihm nur seine Wählerschaft bis zum Urnengang nicht abhanden kommt.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/wirtschaft/article176625564/Tuerkei-In-Lira-Krise-entgleitet-Erdogan-die-Macht.html

[2] www.tagesspiegel.de/wirtschaft/vor-den-neuwahlen-verfall-der-lira-bedroht-die-tuerkische-wirtschaft/22601416.html

26. Mai 2018


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