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REPRESSION/1603: Ankara - befürchtet und erwartet ... (SB)



Meine Brüder, die Sieger dieser Wahl sind die Demokratie, der Wille des Volkes und das Volk höchstpersönlich. Der Sieger dieser Wahl ist jeder einzelne unserer 81 Millionen Bürger.
Recep Tayyip Erdogan vor seinen jubelnden Anhängern in Ankara [1]

Recep Tayyip Erdogan hat die letzte Etappe seiner Machtübernahme erfolgreich abgeschlossen und das Präsidialsystem in der Türkei etabliert. Dank seiner absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl wie auch der des Parteienbündnisses von AKP und MHP im Parlament steht dem autoritären Regime nichts mehr im Wege, das auf unabsehbare Zeit seine Interessen repressiv durchsetzen wird. Wie Erdogan bei seiner Siegesrede am frühen Montagmorgen in Ankara verkündete, habe es sich um Wahlen gehandelt, "die das künftige halbe Jahrhundert, die das Jahrhundert unseres Landes prägen werden". Auf dem Balkon des AKP-Hauptquartiers rief er seinen jubelnden Anhängern zu: "Meine Brüder, die Sieger dieser Wahl sind die Demokratie, der Wille des Volkes und das Volk höchstpersönlich. Der Sieger dieser Wahl ist jeder einzelne unserer 81 Millionen Bürger." Da ihn das neue Präsidialsystem, das mit dieser Wahl endgültig in Kraft tritt, mit Machtbefugnissen ausstattet, über die kein türkischer Politiker seit Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk verfügte, zeugt sein faschistoider Rekurs auf den Willen des Volkes von den diktatorischen Zügen seiner Alleinherrschaft.

Die tiefgreifendste Änderung des politischen Systems der Türkei seit Jahrzehnten entmachtet das Parlament, beseitigt die demokratische Kontrolle und schafft die Gewaltenteilung de facto ab. Konnte Erdogan bereits durch den Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch Mitte Juli 2016 gilt, per Dekret regieren, so darf er fortan sogar Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, wobei die bislang geltende nachträgliche Zustimmung durch das Parlament entfällt. Die Dekrete werden nur dann unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Thema selbst ein Gesetz verabschiedet. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft, der Staats- und Regierungschef wird von Vizepräsidenten vertreten, wobei er für die Ernennung und Absetzung seiner Stellvertreter und der Minister zuständig ist. Der Präsident kann das Parlament auflösen, den Ausnahmezustand erklären, und ein Amtsenthebungsverfahren wäre nur unter extremen Bedingungen möglich. Zudem bekommt er größeren Einfluß auf die Justiz: Der Rat der Richter und Staatsanwälte wird auf dreizehn verkleinert, der Staatschef ernennt vier Mitglieder, das Parlament drei weitere. Damit haben der Präsident und das von AKP und MHP kontrollierte Parlament bei der Neubesetzung die Mehrheit. Der Präsident darf maximal zweimal für jeweils fünf Jahre amtieren, so daß Erdogan für mindestens zehn Jahre an der Macht bleiben könnte.

Wenn er erklärt, die Türkei habe der Welt eine Unterrichtsstunde erteilt und ein "Fest der Demokratie" gefeiert [2], verschweigt er geflissentlich, unter welchen Bedingungen dieses Ergebnis zustande gekommen ist. In welchem Maße es zugunsten Erdogans und seines Regimes manipuliert worden ist, wird man wohl nie im einzelnen erfahren. Das im Frühjahr beschlossene Wahlgesetz hatte jedenfalls diverse Türen möglicher Einflußnahme beim Urnengang wie etwa die Zulassung ungestempelter Wahlzettel geöffnet. Grundsätzlich konnte von demokratischen Wahlen ohnehin keine Rede sein. Viele Oppositionelle insbesondere von der HDP sitzen im Gefängnis, darunter auch deren Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtas, andere mußten das Land verlassen. Kritische Journalisten wurden verhaftet oder gingen ins Exil. Die Medien werden fast ausnahmslos von Erdogan kontrolliert, der den oppositionellen Wahlkampf weitgehend verhinderte. Das Staatsfernsehen widmete ihm im Wahlkampf 180 Stunden Sendezeit, fast zehnmal so viel wie den fünf Gegenkandidaten zusammen. Auch spannte er Polizei, Justiz und Verwaltung für seine Kampagne ein.

Daß trotz der enormen finanziellen, logistischen und machtpolitischen Vorteile sein Sprung über die 50-Prozent-Marke wie schon beim Verfassungsreferendum 2017 relativ knapp ausgefallen ist, läßt darauf schließen, daß er unter regulären Bedingungen keine Mehrheit auf sich vereinigt hätte. So hat die AKP bei den gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahlen deutlich Stimmen verloren und liegt nun nur noch bei 42,5 Prozent, das sind sieben Prozentpunkte weniger als nach den Parlamentswahlen im Jahr 2015. [3] Auch das erfreuliche Abschneiden der HDP, die ungeachtet aller Verfolgung durch die AKP-Regierung auf rund 11 Prozent kam und damit ins Parlament einziehen kann, zeugt davon, daß sich Erdogan einer gesammelten Opposition geschlagen geben müßte, bediente er sich nicht repressivster Zwangsmittel. So verwies die Kurdische Gemeinde in Deutschland darauf, daß Erdogan "trotz zahlreicher Unregelmäßigkeiten" insgesamt nur 52,5 Prozent erreicht und in seinem Land selbst anteilig deutlich weniger Wählerzuspruch bekommen habe. Der Bundesvorsitzende Toprak sagte, wer trotz der massiven Behinderung der Opposition, unter Nutzung sämtlicher staatlicher Ressourcen und Medien sowie dokumentierter Wahlmanipulationen auf dieses Ergebnis komme, habe eigentlich verloren. [4]

Als zweiter große Sieger des Wahlabends ist Devlet Bahceli zu nennen, Vorsitzender der rechtsextremen MHP, der ein Wahlbündnis mit Erdogan eingegangen ist. Abgeordnete um die frühere Innenministerin Meral Aksener hatten sich abgespalten und die IYI-Partei gegründet. Ungeachtet dieses Aderlasses hat Bahceli 11 Prozent geholt, so viel wie bei den Parlamentswahlen 2015, und Erdogan damit die Mehrheit im Parlament gesichert. Der Erfolg der MHP wird den Rechtsruck in der Türkei weiter verschärfen, zumal Erdogan gegenüber dem Koalitionspartner in der Pflicht steht.

Bestürzend aus deutscher Perspektive ist nicht zuletzt das Wahlverhalten der hier lebenden Türkinnen und Türken. Fand Erdogan unter ihnen schon bei früheren Abstimmungen deutlich mehr Rückhalt als zu Hause, so konnte er diesmal fast zwei Drittel der Stimmen auf sich vereinen. In mehreren deutschen Städten feierten Erdogan-Anhänger lautstark dessen Wiederwahl, darunter in Berlin und Duisburg. Wie Cem Özdemir von den Grünen dazu anmerkte, hätten sie nicht nur gefeiert, "dass ihr Alleinherrscher jetzt noch stärker Alleinherrscher wird, sondern die haben natürlich damit auch ein bisschen eine Ablehnung zur liberalen Demokratie zum Ausdruck gebracht, ähnlich wie es die AfD macht, und das sollte uns beschäftigen, auch mit Blick auf die Integrationsdebatte". [5] Ähnlich argumentierte Toprak, der das Verhalten der türkischen Wähler in Deutschland scharf kritisierte: "Alle Türken, die die Errichtung eines Ein-Mann-Regimes auf deutschen Straßen feiern, zeigen damit, dass sie unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen."

Die Türkische Gemeinde in Deutschland versuchte offenbar, den Ball flach zu halten, und brachte ihre Hoffnung zum Ausdruck, daß die Spannungen zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern nach den Wahlen in der Türkei abnehmen. Nach den Worten des Bundesvorsitzenden Sofuoglu dreht sich seit Jahren alles um Politik, die Menschen in der Türkei brauchten endlich Ruhe und ein Ende des Ausnahmezustandes. Auch viele der in Deutschland lebenden Menschen türkischer Herkunft hätten den Wunsch, nun zum Alltag zurückzukehren. Daß Präsident Erdogan bei den Türken in Deutschland deutlich besser abgeschnitten habe als in der Türkei, sei eine Folge der Arbeitsmigration, wie sie die Bundesrepublik einst betrieben habe. Diese Arbeitsmigranten stammten vorwiegend aus einem konservativen Milieu. Menschenrechtsfragen interessierten sie weniger, für sie sei Erdogan derjenige, der Krankenhäuser, Autobahnen und Einkaufszentren gebaut habe, sagte Sofuoglu. Auch dies ein Aspekt des Aufstiegs Erdogans, der staatliche Leistungen und Investitionen als paternalistische Geschenke maskiert hat.

So verständlich der Wunsch nach Ruhe anmuten mag, steht doch zu befürchten, daß dies unter dem Präsidialregime in der Türkei nur eine Friedhofsruhe sein kann. Frieden wird es für Kurdinnen und Kurden, für andere drangsalierte Minderheiten, für Oppositionelle und kritische Medien, für säkulare Bestrebungen und emanzipatorische Bewegungen nicht geben. Erdogan ist mit den vorgezogenen Neuwahlen der einsetzenden Wirtschaftskrise im letzten Moment zuvorgekommen, ehe sie seinen Rückhalt untergraben konnte. Nun hält er die Machtmittel in Händen, die absehbaren sozialen Verwerfungen mehr denn je mit harter Hand zu regulieren und jegliches Aufbegehren niederzuschlagen.

Sollte deutsche Regierungspolitik Krokodilstränen ob des Scheiterns der türkischen Opposition vergießen, ist ihr zu entgegnen, daß ihr das Hemd der politischen, wirtschaftlichen, militärischen und geheimdienstlichen Kollaboration mit dem Regime in Ankara stets näher als der Rock der Menschen- und Freiheitsrechte für alle Unterdrückten und Verfolgten in der Türkei war.


Fußnoten:

[1] www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_83995920/nach-wahlsieg-in-der-tuerkei-jetzt-ist-erdogan-am-ziel.html

[2] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-wahl-2018-wie-recep-tayyip-erdogan-den-staat-umbaut-kommentar-a-1214732.html

[3] www.dw.com/de/kommentar-erdogan-hat-gewonnen-die-demokratie-verloren/a-44379430

[4] www.deutschlandfunk.de/wahlen-in-der-tuerkei-kritik-an-deutsch-tuerken.1939.de.html

[5] www.deutschlandfunk.de/cem-oezdemir-von-einer-fairen-wahl-in-der-tuerkei-kann.694.de.html

25. Juni 2018


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