Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


REPRESSION/1615: Dortmunder Rechte - billigend in Kauf genommen ... (SB)



Gerade in Dortmund haben wir uns oft gewundert, wie es sein kann, dass wir solche Dinge tun, wie körperliche Angriffe auf Antifaschisten, ohne dass es Konsequenzen gegeben hat. Dass wir entweder gar nicht festgenommen wurden, es gar nicht zur Anzeige kam oder dass die Anzeige eingestellt wurde.
Neonazi-Aussteiger in einer Sendung des WDR [1]

Während die rechten Ausschreitungen in Chemnitz hohe Wogen schlugen und einen politischen Tsunami auslösten, kam es in Dortmund zu nicht minder bestürzenden und offenbar symptomatischen Vorfällen. Auf zwei angemeldeten Demonstrationen von Rechtsextremisten in den Stadtteilen Dorstfeld und Marten zogen bis zu hundert Teilnehmer mit Reichsflaggen durch die Straßen und skandierten lautstark: "Wer Deutschland liebt, ist Antisemit!" In einem anderen Video auf Twitter ist zu sehen, wie Demonstranten zwischen zwei Häusern auf einer Garage Pyrotechnik abbrennen. Die SPD-Abgeordnete Nadja Lüders schildert, daß sie am folgenden Tag von Anwohnern angerufen worden sei, die von erschreckenden Bildern berichteten. Sie hätten Angst gehabt und weit und breit kaum Polizei gesehen. [2] In den sozialen Netzwerken sagte ein freier Journalist und Aktivist, der bei den Demos vor Ort war, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen sei es zwar nicht gekommen, trotzdem sei die Polizei deutlich unterrepräsentiert gewesen. Bis auf einen Kamerawagen zur Beweissicherung, einen Pkw sowie vereinzelte Motorradpolizisten sollen kaum Beamte vor Ort gewesen sein. Anwohner hätten in Dorstfeld Reichsflaggen ins Fenster gehängt, in Marten soll es Beifall, aber auch Kritik von Anwohnern gegeben haben. [3]

Zeitgleich zu den Demonstrationen am Freitagabend fand in der nur wenige Kilometer entfernten Nordstadt ein Großeinsatz der Polizei gegen Clankriminalität statt. Zahlreiche Polizisten, Zollbeamte und Mitarbeiter des Dortmunder Ordnungsamtes kontrollierten Shisha-Bars, Lokale und hochpreisige Fahrzeuge. Bei dieser Großkontrolle war auch Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) anwesend, der Journalisten erklärte, von der Polizei werde "gerade viel verlangt". Der Dauereinsatz im Hambacher Forst, die Fußball- und Demonstrationseinsätze seien in diesem Herbst eine "riesige Herausforderung".

In Reaktion auf die nächtlichen Szenen im Netz und die anwachsende Kritik warb die Polizei zunächst um Verständnis für die umstrittene Zurückhaltung der eingesetzten Beamten. Rechtsextreme seien meist sehr genau informiert, welche Parolen sie skandieren könnten und welche Gesten gerade noch als straffrei gelten. Die Polizei habe nur wenig Handhabe, um einzugreifen, so der stellvertretende Landesvorsitzende der GdP, Heiko Müller. "Die Rechten gehen regelmäßig an die Schmerzgrenze und kaum darüber hinaus. Das ist für Polizisten oft schwer zu ertragen, aber wir leben in einem Staat, in dem die Meinungsäußerung einen hohen Stellenwert hat."

Ausdrücklich wies die Polizei darauf hin, daß sie vor dem Verwaltungsgericht und dem Oberverwaltungsgericht versucht habe, die beiden Aufmärsche verbieten zu lassen, damit aber gescheitert sei. Es sei eine "angemessene" Zahl von Polizeikräften im Einsatz gewesen. Wäre die Situation eskaliert, hätte man zusätzliche Kräfte vom Einsatz in der Nordstadt dorthin verlegen können. Die Dortmunder Polizei habe viel Erfahrung mit rechtsextremistischen Demonstrationen. Eben weil das so ist, mutet die Zurückhaltung der Einsatzkräfte vor Ort befremdlich an. Daß selbst offen antisemitische Hetzparolen von der Meinungsfreiheit gedeckt seien und keine Handhabe zum Eingreifen böten, ist schlichtweg nicht nachvollziehbar. Sollten sich die späteren Angaben zufolge 80 Polizeibeamten am Rande der Aufmärsche unterlegen gefühlt haben, widerspräche das ihrer angeblich angemessenen Zahl.

In einem gemeinsamen Brief fragen die SPD-Landtagsabgeordneten Sven Wolf, Nadja Lüders und Hartmut Ganzke den Innenminister, "wie die Einsatzprioritäten an diesem Abend gesetzt" wurden. Und weiter: "Wir glauben nicht, dass Ihnen die polizeiliche Begleitung Ihrer medienwirksamen Aktion gegen Clan-Strukturen am Freitagabend wichtiger war." Die SPD-Opposition will wissen, "ob so die Null-Toleranz-Strategie der Landesregierung gegenüber dem Rechtsextremismus in unserem Land aussieht". "Haben wir in Dortmund rechtsfreie Räume und tolerieren rechte Parallelgesellschaften?", fragte der Grünen-Politiker Volker Beck auf Twitter. Die Demonstrationen sollen am kommenden Donnerstag in der Sitzung des Innenausschusses des Landtags zur Sprache kommen.

Angesichts des politischen Nachspiels der nächtlichen Ausschreitungen sah sich der stellvertretende Dortmunder Polizeipräsident Walter Kemper am Sonntag in einer Pressemitteilung zu der Erklärung veranlaßt, er schaue "besorgt" auf den Polizeieinsatz und die "verstörenden" Bilder zurück. Deshalb setze die Polizei mit sofortiger Wirkung eine Nachbereitungsgruppe ein. "Es wird zu überprüfen sein, ob wir in der Einsatzbewältigung unserem Anspruch gerecht geworden sind und ob bei dem Einsatz alle rechtlich und einsatztaktischen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden."

Innenminister Reul kündigte am Sonntag eine penible Aufarbeitung des Polizeieinsatzes bei der Nazi-Demo an. Für ihn persönlich sei es "unerträglich, dass 70 Jahre nach Ende des dunkelsten Kapitels unserer Geschichte Neo-Nazis durch unsere Städte ziehen". Allerdings seien offenbar auch solche Demonstrationen von der Versammlungsfreiheit gedeckt. "Selbst die widerwärtigen antisemitischen Parolen dieser rechtsradikalen Hetzer sind möglicherweise durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Das kann ich nicht verstehen, aber man muss es dann in einem Rechtsstaat akzeptieren." Wo Reul persönliche Empörung vorhält, klingt das doch eher nach einem Versuch, sich aus der Affäre zu ziehen. Wenn er noch vor jeder näheren Überprüfung der Vorfälle Versammlungs- und Meinungsfreiheit im Munde führt, scheint der defensive Umgang mit der extremen Rechten geradezu Programm zu sein.

Wie man dazu wissen muß, gilt der Dortmunder Stadtteil Dorstfeld als Hochburg der rechtsextremen Szene in Westdeutschland und Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn Politik, Polizei und Geheimdienst dem rechten Treiben nicht entschlossen begegnen, es mutmaßlich sogar gezielt tolerieren und instrumentalisieren. Obgleich der harte Kern der Dortmunder Neonazi-Szene vermutlich kaum mehr als 50 Personen umfaßt, hat er sich doch in den vergangenen dreißig Jahren hervorragend vernetzt und versteht es, schnell und umfassend zu mobilisieren und regelmäßig mit Provokationen oder gar Gewalttaten in die Medien zu kommen. Im November 2014 sorgte ein Vertreter der Partei "Die Rechte" im Dortmunder Stadtrat für internationale Schlagzeilen, als er die Stadtverwaltung aufforderte, die Juden in Dortmund zählen zu lassen. Der antisemitische Antrag wurde begleitet von ähnlichen Anfragen, die sich etwa auf die Anzahl von HIV-erkrankten Menschen in der Stadt oder Adressen von engagierten Lokalpolitikern bezogen. Bereits im Mai 2014 hatten am Abend der Kommunalwahl rund 30 Neonazis zum gewaltsamen Sturm auf das Rathaus angesetzt, um den Einzug ihres Spitzenkandidaten Siegfried Borchardt in den Stadtrat medienwirksam zu flankieren.

Siegfried Borchardt ("SS-Siggi") war in den 80er-Jahren Anführer des rechten Hooligan-Zusammenschlusses "Borussenfront", der in der Dortmunder Nordstadt Jagd auf Migranten und andere Minderheiten machte. Er galt als zentrale Figur dieser Szene, da er zahlreiche neonazistische Organisationen gründete und enge Kontakte zu Michael Kühnen unterhielt, mit dem er schließlich die "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) unterwanderte und sie zu einer militanten rechtsextremen Kleinpartei umformte. Stets gab es Verflechtungen im Umfeld, und so mischten FAP-Mitglieder bei der Borussenfront mit, die wiederum als Saalschutz für Veranstaltungen der NPD diente. Borchardt verbüßte mehrere kurze Haftstrafen, kehrte aber jeweils um so aktiver zurück. Als die FAP 1995 verboten wurde, baute er die Kameradschaft Dortmund auf, deren Mitglieder abermals Jagd auf politische Gegner und Minderheiten machten.

Am 14. Juni 2000 erschoß der Dortmunder Neonazi Michael Berger die beiden Polizisten Thomas Goretzky und Matthias Larisch-von-Woitowitz sowie die Polizistin Yvonne Hachtkemper und anschließend sich selbst. Bis heute gilt der menschenverachtende Spruch "Berger war ein Freund von uns! 3:1 für Deutschland" als Bezugspunkt für die extreme Rechte in der Stadt. Borchardt vernetzte sich deutschlandweit und machte ab 2003 den Weg für die Autonomen Nationalisten (AN) frei, aus deren Kreisen ab 2005 der "Nationale Widerstand Dortmund" (NWDO) hervorging. Die beiden Neonazis Christian Worch und Thomas Wulff hatten in Reaktion auf die Verbote rechtsextremer Organisationen mit der Bildung "Freier Kameradschaften" reagiert, die als autonome und regionale Kleinstgruppen operierten. Bei den AN handelte es sich um zumeist junge, äußerst gewaltbereite Neonazis, die sich in Erscheinungsbild und Auftreten an linken Autonomen orientierten.

Zahlreiche Neonazis zogen nach Dortmund, gründeten Wohngemeinschaften und bauten Strukturen auf. Im "Nationalen Zentrum" in Dorstfeld fanden Treffen, Schulungen und Vorträge statt. Der Informatikstudent Dennis Giemsch betrieb den Online-Versand "Resistore", der seit dem Verbot des NWDO von Michael Brück unter dem Namen "Antisem Versand" bis heute weitergeführt wird. Giemsch nutzte das Internet intensiv zur Mobilisierung, die zeitweise bis zu 1.800 Anhänger aus ganz Europa nach Dortmund brachte. Am 28. März 2005 erstach der 17jährige Neonazi Sven Kahlin den Punker Thomas Schulz an der U-Bahn-Haltestelle Kampstraße. Schon kurz nach der Tat verhöhnten Neonazis das Opfer und erklärten: "Die Machtfrage wurde gestellt und für uns befriedigend beantwortet: Dortmund ist unsere Stadt." Am 4. April 2006 ermordete der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) den Kioskbesitzer Mehmet Kubasik, wobei Dortmunder Neonazis nachweislich intensive Kontakte zum Umfeld des NSU unterhielten. Im Ruhrgebiet existierte eine Zelle von "Combat 18", dem besonders militanten Flügel des in Deutschland verbotenen "Blood & Honour"-Netzwerkes.

Der NWDO machte weiter durch Einschüchterung und brutale Überfälle auf alternative Kneipen und Büros von Abgeordneten der Grünen und der Linkspartei von sich reden. Die Polizei zeigte sich überfordert und reagierte auffallend verhalten. Am 1. Mai 2009 überfielen mehrere hundert Neonazis eine DGB-Veranstaltung, 2011 bekam Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) einen Tag vor Heiligabend einen bedrohlichen Weihnachtsbesuch, im August 2012 rotteten sich Neonazis vor der Wohnung eines mutmaßlichen Sexualstraftäters zusammen. Nach dem Verbot des NWDO im selben Monat gründeten Dennis Giemsch, Michael Brück und Siegfried Borchardt einen neuen Landesverband der neonazistischen Kleinstpartei "Die Rechte", die Christian Worch in Hamburg gegründet hatte. Diese rief in den folgenden Jahren zu diversen Aufmärschen auf und brachte am 25. Mai 2014 Siegfried Borchardt in den Stadtrat. Daß NPD und DR nicht mehr Stimmen auf sich vereinten als zuvor die NPD allein, lag vermutlich an der AfD, die 3,4 Prozent verbuchen konnte.

Borcherts Platz übernahm später Dennis Giemsch, und bereits im August 2014 startete DR den "Stadtschutz Dortmund", eine rechtsextreme Bürgerwehr, die nach dem Vorbild der SA, nur in gelben Hemden, durch die Straßen patrouillierte und auf vermeintliche "Verbrecherjagd" ging. Neonazis versuchten weiterhin, Bürgerversammlungen zu sprengen, tätliche Angriffe und bedrohliche Hausbesuche nahmen zu, Michael Brück zog seit Anfang 2015 bei "Mahnwachen" gegen angeblichen Asylmißbrauch zu Felde und übernahm im April das Mandat von Giemsch. Am 4. Juni 2016 marschierten fast 1.000 Neonazis von Dorstfeld nach Huckarde, und bei der Landtagswahl am 14. Mai 2017 konnte Siegfried Borchardt als Direktkandidat im Wahlkreis Dortmund II rund 1.000 Stimmen (2 Prozent) auf sich vereinen. Wenngleich die Mobilisierung nicht weiter zugenommen hat, bildet das Netzwerk der DR einen Kristallisationspunkt für Neonazis aus ganz NRW. Sie führen kleinere Kundgebungen und Aufmärsche durch, tun sich auch in internationalen Netzwerken um und sind Teil neuer vermischter Szenen im rechten Umfeld.

Wenn heute in Chemnitz und anderen ostdeutschen Städten die breitgefächerte Rechte auf die Straße geht und Jagd auf Menschen macht, die durch ihr nationalistisches und rassistisches Raster fallen, wenn gar der Bundesinnenminister, der ehemalige Verfassungsschutzpräsident und die feixende AfD im Bundestag zum großen Treiben blasen, wittert auch die Dortmunder rechtsextreme Szene Morgenluft.


Fußnoten:

[1] www.belltower.news/artikel/kontinuitaet-des-hasses-dortmund-teil-313263.html

[2] www.ruhrnachrichten.de/Nachrichten/Dortmund/Polizei-reagiert-auf-Kritik-an-ihrem-Einsatz-nach-Nazi-Aufmarsch-1331042.html

[3] www.ruhrnachrichten.de/Nachrichten/Dortmund/Antisemtische-Aeusserungen-bei-Demo-von-Rechtsextremisten-in-Dorstfeld-und-Marten-1330793.html

25. September 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang