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REPRESSION/1645: Den Haag - Justitiabilität staatlicher Verbrechen ... (SB)



Wir überlassen es der Staatsanwaltschaft, im Herzen von Brüssel, Paris, Berlin und Rom zu ermitteln.
Juan Branco (Menschenrechtsanwalt) [1]

Wie alle Gerichtsbarkeit ist auch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag keine wirklich unabhängige Institution der Rechtsprechung, die ausschließlich geltenden Gesetzen verpflichtet wäre. Ohne die Staatsgewalt oder in diesem Fall eine überstaatliche Einrichtung nationalstaatlicher Interessen fehlte ihm jegliche Macht, seine Urteile durchzusetzen. Wer überhaupt vor dem sogenannten Weltgerichtshof angeklagt wird, hängt demzufolge in hohem Maße vom Einfluß der führenden Staaten ab, die ihn für ihre Zwecke geschaffen haben. Unter diesem grundsätzlichen Vorbehalt sind alle Versuche zu sehen, Klage in Den Haag einzureichen, was nicht heißt, daß ein solcher Ansatz von vornherein vergeblich und irreführend wäre. Eingebunden in vielfältige Initiativen der Öffentlichkeitsarbeit kann auch der Rechtsweg ein Impuls sein, der den Stein ins Rollen bringt, der unversehens eine Bresche in die unüberwindlich anmutende Mauer schlägt.

Die hohen Opferzahlen und das unermeßliche Leid in Folge der europäischen Flüchtlingsabwehr sind weithin bekannt, ohne daß dies an maßgeblicher Stelle mehr als bloße Krokodilstränen und haltlose Versprechen auf Besserung provozieren könnte. Das Gegenteil ist der Fall, zeugt doch die Strategie immer weiter vorgelagerter Mechanismen der Abschottung gegen Migration, daß die Grausamkeiten gesteigert und in fernere Weltregionen abgewälzt werden. Inzwischen sterben mehr fliehende Menschen in der Wüste als im Mittelmeer, das lange Jahre die augenfälligste Todesfalle europäischer Flüchtlingspolitik war.

Nun haben Menschenrechtsanwälte die Europäische Union wegen ihrer Migrationspolitik und indirekt wegen der Kooperation mit der libyschen Küstenwache beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angezeigt. Ein entsprechendes Dokument veröffentlichte der Rechtsanwalt Juan Branco auf Twitter. Dieses mehr als 200 Seiten umfassende Dokument mit möglichen Beweisen wurde der Anklage des Strafgerichtshofs überreicht. Darin bitten Branco und der Rechtsanwalt Omar Shatz das Gericht um die Einleitung eines Verfahrens. Die beiden Anwälte machen die EU mitverantwortlich für das Vorgehen der libyschen Küstenwache, die mehr als 40.000 Menschen im Mittelmeer abgefangen und in Haftlager und Folterkammern in Libyen gebracht habe. Mit Wissen von Vertretern der EU und auf Kosten der europäischer Steuerzahler würden schwerste Straftaten verübt.

In Begründung ihrer Anzeige berufen sich die Anwälte auf Dokumente der Europäischen Union wie auch Stellungnahmen von Bundeskanzlerin Angela Merkel, des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und anderer hochrangiger Repräsentanten europäischer Staaten. Wie eingangs zitiert, verbinden Branco und Shatz mit ihrer Initiative die Erwartung, daß die Staatsanwaltschaft ihrem Ersuchen nachkommt und Ermittlungen in Brüssel, aber auch in den Hauptstädten Deutschlands, Frankreichs und Italiens aufnimmt. Und sie verleihen der Hoffnung Ausdruck, daß bei der Durchsuchung der Archive nach Aufzeichnungen entsprechender Verhandlungen möglicherweise herausgefunden werden kann, wer maßgeblich die Politik durchgesetzt hat, die zum Tod von mehr als 14.000 Menschen führte.

Dem Dokument zufolge war die erste Straftat die Entscheidung, im Jahr 2014 die Seerettungsoperation Mare Nostrum einzustellen. Im Verlauf dieser Operation im Mittelmeer waren innerhalb von zwölf Monaten mehr als 150.000 Migrantinnen und Migranten gerettet worden. Diese Operation kostete monatlich mehr als neun Millionen Euro, die überwiegend von Italien aufgebracht wurden. Mare Nostrum wurde durch das Programm Triton ersetzt, das zwar von den 28 EU-Mitgliedstaaten getragen wurde, aber nur einen Bruchteil der vorangegangenen Operation kostete. Zudem patrouillierten die Schiffe nicht mehr nahe der libyschen Küste, wo die meisten der Boote mit Geflüchteten ablegten.

Wie Daten der Internationalen Organisation für Migration belegen, nahm die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Migrantinnen und Migranten in der Zeit zwischen 2014 und 2016 zu. Die EU-Länder wandten sich daraufhin auch an die libysche Küstenwache und boten den lose organisierten Kräften, denen Verbindungen zu verschiedenen libyschen Milizen nachgesagt werden, finanzielle Unterstützung, Schiffe wie auch Schulungen an. Zwischen 2016 und 2918 landeten dem Dossier zufolge rund 40.000 Flüchtlinge in libyschen Gefangenenlagern. Dort herrschen schlimmste Zustände wie Morde, Vergewaltigungen, Folter und Sklaverei.

Die Anklage des Weltstrafgerichts reagierte zunächst nicht auf das Dossier. Bevor ein Verfahren eingeleitet werden kann, müssen die Ankläger eine richterliche Zustimmung dazu erwirken. Indessen untersucht die Anklage des Internationalen Strafgerichtshofs bereits mutmaßliche Verbrechen in den Lagern. So berichtete Chefanklägerin Fatou Bensouda schon im Jahr 2017 von Hinweisen, wonach Tausende Migrantinnen und Migranten unter "unmenschlichen Bedingungen" in libyschen Lagern festgehalten würden. "Verbrechen wie Tötungen, Vergewaltigungen und Folter sollen dort an der Tagesordnung sein." [2]

Seitdem die Greuel in den libyschen Lagern publik geworden sind, haben Vertreter der EU wiederholt anerkannt, daß die Behandlung geflohener Menschen in Libyen besorgniserregend sei. Ihre Unterstützung der libyschen Küstenwache will die EU dennoch nicht einstellen. Daher ist sie nach Auffassung der beiden Anwälte nach internationalem Strafrecht mitschuldig. Eine besondere Verantwortung müsse Deutschland, Frankreich und Italien zugeschrieben werden. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten betrieben seit 2015 eine Migrationspolitik der Abschreckung, die bewußt den Tod von Migrantinnen und Migranten in Kauf nehme.


Fußnoten:

[1] www.zeit.de/politik/2019-06/fluechtlingspolitik-eu-menschenrechtsverstoesse-anzeige

[2] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/juristen-weltstrafgericht-soll-ermitlungen-gegen-eu-einleiten-16220261.html

5. Juni 2019


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