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REPRESSION/1660: Griechenland - im Stich gelassen ... (SB)



Die Inseln können nicht mehr Lager verlorener Seelen leidtragender Menschen sein.
Kostas Moutzouris (Regionalgouverneur der nördlichen Ägäis) [1]

Der globale Raubzug der führenden Industriestaaten mit seiner exzessiven Ausbeutung von Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft zerstört durch Handel, ökonomische Zwangsregime, Kriege und Klimakatastrophe die Lebensvoraussetzungen in zahlreichen Ländern und ganzen Weltregionen. Dies treibt zahllose Menschen in die Flucht, von denen ein Bruchteil den gefahrvollen Weg auf sich nimmt, ihr Überleben in Europa zu suchen. Aus Perspektive der Metropolen sind sie nicht Opfer der hiesigen Lebens- und Wirtschaftsweise, sondern vergrößern das Millionenheer der für überflüssig Erklärten, die es ebenso zu beherrschen gilt wie die Lohnabhängigen im eigenen Land. Während diese jedoch mit einem gewissen Lebensstandard in ihrer Beteiligung an den gesellschaftlichen Verhältnissen eingebunden werden, sehen sich geflohene Menschen einem repressiven Arsenal von Grenzzäunen, Lagern, Verfolgungen und administrativen Zwängen ausgesetzt, das der Abschreckung, Vertreibung und durchaus auch Vernichtung dient.

Wenn allenthalben davon die Rede ist, man müsse die Fluchtursachen aus der Welt schaffen, ist zumeist das Gegenteil gemeint. Die Protagonisten und Nutznießer des neokolonialen und imperialistischen Übergriffs räumen nicht freiwillig das Feld, sondern wollen die Kriegsführung gegen fliehende Menschen möglichst weit vorverlagern. Bündnisse mit Despoten wie Erdogan, Konzentrationslager in Libyen, Abkommen mit afrikanischen Machthabern, das massenhafte Sterben in der Sahara, im Mittelmeer und in der Ägäis oder erbärmlichste Verhältnisse in den Hotspots auf den griechischen Inseln sind Ausdruck einer Palette von Strategien, deren gemeinsamer Nenner die Unterwerfung und gegebenenfalls Eliminierung eines Lebens ist, das man heute nicht unwert, sondern migrantisch nennt, als "Flüchtlingswelle" wie eine Naturkatastrophe adressiert oder als "Asylproblem" klassifiziert.

Wie jedes repressive System hat auch dieses seine legalen und illegalen, uniformierten oder klammheimlichen Aufseher und Kapos, die als Grenzschützer, Polizisten, Lagerverwalter und Bürokraten oder Schleuser, Menschenhändler, Folterer und Plünderer auf die eine oder andere Weise daran partizipieren, geflohene Menschen einzusperren, zu drangsalieren, auszunehmen oder umzubringen. Empörter Protest, man verabscheue selber diese Mißstände und Auswüchse zutiefst, werde aber keinesfalls alle über einen Kamm scheren, greift zu kurz. Das sogenannte Flüchtlingsproblem kann schon deshalb nicht gelöst werden, weil sich alle maßgeblichen politischen Ansätze auf die Verschiebung, Auslagerung und Umlastung beziehen. Die europäischen Regierungen und Mehrheitsbevölkerungen wollen keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen, weshalb sie auch jegliche Formen der Abschreckung und Zurückweisung nicht nur hinnehmen oder dulden, sondern direkt betreiben oder mittelbar gutheißen.

Daß Griechenland als Pufferstaat im Abkommen der EU mit der Türkei im Stich gelassen wird und die Regierung in Athen wiederum die einheimische Bevölkerung, am allermeisten aber die geflohenen Menschen im Stich läßt, hat System. Es ist in dieser Kette nicht in erster Linie ein Versagen, sondern ein beabsichtigter Prozeß. Gemäß dieser Logik dürfen Flüchtlinge nirgendwo besser als andernorts behandelt werden, da dies zwangsläufig weitere Fliehende anziehen könnte. Malträtiert man sie hingegen exzessiv, wird dieses Signal die Runde machen und abschreckende Wirkung zeitigen. Die europäischen Regierungen und die EU zahlen Milliarden an die Türkei wie auch an Griechenland, halten aber ihren Teil des Abkommens nicht ein, das allein schon aus diesem Grund niemals funktionieren wird. Es soll auch gar nicht funktionieren, da die EU-Staaten keine weiteren Asylberechtigten mehr aufnehmen wollen.

Was das Asylverfahren als solches betrifft, drängt diese Selektion von Menschen zwangsläufig Erinnerungen an die finstersten Kapitel deutscher Geschichte auf, die angeblich bereits geschrieben sind. Selbst wenn dieses Prozedere entgegen gängiger Praxis mit angemessenem Personal, rechtskonform, sorgsam und zügig durchgeführt würde, änderte sich im Grunde kein Jota an seiner Willkür. Abgelehnte Bewerber würden auch dann in lebensfeindliche Verhältnisse zurückgeschickt, wie dies beispielsweise die Bundesrepublik im Falle Afghanistans praktiziert. Selbstverständlich müssen diese Abschiebeflüge verhindert werden, wobei auch das Argument ihrer Rechtswidrigkeit nicht von der Hand zu weisen ist. Würden sie aber durch eine Gesetzesänderung legalisiert, die Abschiebungen auch in Kriegs- und Krisengebiete für zulässig erklärt, blieben sie nach wie vor ein menschenfeindlicher Akt.

Nachdem auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung im Jahr 2015 etwa eine Million Menschen über die Türkei nach Europa geflohen waren, schloß die EU im März 2016 ein Abkommen mit der Türkei sowie Griechenland. Dieses sah unter anderem vor, daß alle auf griechisches Hoheitsgebiet geflüchteten Menschen in Lagern auf fünf Inseln in der Ägäis bleiben sollen, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Die Türkei sollte abgelehnte Migranten zurücknehmen, und die EU-Staaten wollten Griechenland Zehntausende Flüchtlinge abnehmen. Auch wurde genügend Personal zugesagt, um die Asylanträge zügig zu bearbeiten. Die Realität sieht ganz anders aus. Die Türkei hat ihren Teil des Abkommens erfüllt und nicht zuletzt aus eigennützigen Gründen 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, mehr als alle anderen Länder zusammengenommen. Griechenland hat jedoch nur sehr wenige Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt, wobei völlig unklar ist, ob dort überhaupt Zwangsrückkehrer in größerer Zahl aufgenommen würden. Ein Memorandum, das Griechenland im Frühjahr 2019 mit dem Appell an die EU schickte, sofort 20.000 Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen, blieb unbeantwortet.

Das mit 6 Milliarden Euro an Ankara und über 2 Milliarden an Athen erkaufte Abkommen wurde als Erfolgsmodell gepriesen, und die EU erklärte die sogenannte Flüchtlingskrise offiziell für beendet. Unter den Geflüchteten auf den fünf Inseln stammen 40 Prozent aus Afghanistan, die mit 27 Prozent zweitgrößte Gruppe kommt aus Syrien. Von den zeitweise rund eine Million Afghanen im Iran sind angesichts des rapiden Verfalls der Lebensverhältnisse infolge der Sanktionen viele Menschen über die Türkei weitergeflohen. Dort hat sich durch die wirtschaftliche Talfahrt die Situation der syrischen Flüchtlinge dramatisch verschlechtert, die unter massiven Druck wachsender Ressentiments in der Bevölkerung und Repression seitens der Regierung geraten. Präsident Erdogan plant eine ethnische Säuberung im eigenen Land und insbesondere in Nordsyrien, wohin er mehr als eine Million Flüchtlinge umsiedeln will, um die dort lebende kurdische Bevölkerung dauerhaft zu vertreiben. Die Kämpfe um den Kanton Idlib können dazu führen, daß bis zu zwei Millionen Menschen in die Flucht getrieben werden.

Erdogan droht in dieser Gemengelage immer wieder, er werde "die Tore öffnen" und Europa mit Flüchtlingen überschwemmen, sollte ihm die EU bei seinen diversen Plänen nicht entgegenkommen. Offenbar lockert die Türkei ihre Kontrollen an der Grenze zu Griechenland, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die EU und die griechische Regierung schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die menschenunwürdigen Zustände auf den Inseln zu. So fordert die EU-Kommission, Athen müsse eine effektive und nachhaltige Strategie entwickeln, bleibt aber entscheidende Unterstützung schuldig.

Griechenland war 2019 Hauptziel von Flüchtlingen in Europa. Neben den rund 210.000 Bewohnern der Inseln Lesbos, Leros, Kos, Chios und Samos leben dort aktuell mehr als 42.000 Flüchtlinge, während die Kapazitäten der als Hotspots bezeichneten Registrierlager bei gerade einmal 9.000 Personen liegen. Viele Menschen sind gezwungen, auf der Straße, unter Plastikplanen, ohne Strom und fließendes Wasser zu hausen. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, es fehlt an medizinischem Personal, bei Regen steht alles unter Wasser und im Winter spitzen sich die absolut menschenfeindlichen Verhältnisse lebensbedrohend zu.

Die verheerenden Bedingungen in den Lagern führen zu Überlebenskämpfen, Gewalttaten und sexuelle Übergriffe gegen Frauen und Kinder sind an der Tagesordnung. Im Lager Moria auf Lesbos wurden allein in diesem Monat bereits mehrere Menschen getötet sowie Dutzende verletzt. [2] Über allem schwebt die Ungewißheit über das weitere Schicksal. Die Flüchtlinge werden de facto in den Lagern gefangengehalten, die sie bis zum Abschluß ihres Asylverfahrens, das sich über Jahre hinziehen kann, nicht verlassen dürfen. Wer heute auf Lesbos ankommt, muß nach Angaben aus Kreisen griechischer Behörden bis zum Frühjahr 2022 auf sein erstes Asylinterview warten.

Die Geduld der griechischen Inselbewohner ist erschöpft, zumal der Tourismus und damit ihre Haupteinnahmequelle dramatisch eingebrochen ist. Bürgermeister und verschiedene Berufsverbände haben einen Generalstreik ausgerufen, der dazu führte, daß das öffentliche Leben auf den Inseln weitgehend stillstand. Regional- und Kommunalbehörden sowie ein Großteil der Geschäfte blieben geschlossen, Tausende Menschen fanden sich zum Protest in den Ortschaften ein. Dieser richtete sich nicht so sehr gegen die geflohenen Menschen, als vielmehr gegen die hoffnungslos überfüllten Lager und die Flüchtlingspolitik der griechischen Regierung. Die Inseln könnten "nicht mehr Lager verlorener Seelen leidtragender Menschen sein", erklärte der Regionalgouverneur der nördlichen Ägäis, Kostas Moutzouris, im Fernsehen. Die Regierung in Athen solle dafür sorgen, daß die fast täglich aus der Türkei übersetzenden Flüchtlinge nach ihrer Registrierung umgehend weiter auf das griechische Festland gebracht werden.

"Wir wollen unsere Inseln zurück, wir wollen unser Leben zurück!", skandierten Einwohner bei ihren Kundgebungen. "Ich schäme mich, gegen die Flüchtlinge zu sein", sagte eine junge Griechin, die auf Lesbos gemeinsam mit anderen für die sofortige Entlastung der Inseln demonstrierte. "Ich sehe, dass es ihnen schlecht geht." Aber die Insulaner litten nun schon seit Jahren. [3] "Wir können diese Situation in unserer Kleinstadt nicht mehr ertragen", sagte Giorgos Stantzos, der Bürgermeister von Vathy auf Samos. "Wir haben auch Menschenrechte." [4]

Der konservative Premier Kyriakos Mitsotakis hatte nach seinem Amtsantritt im vergangenen Juli ein neues Migrationsministerium geschaffen und einen Masterplan vorgelegt. Er kündigte an, die bestehenden, zumeist unorganisierten Lager zu schließen und dafür neue, geschlossene Lager zu errichten. Dagegen laufen die Inselbewohner Sturm, die zu Recht befürchten, daß dadurch dauerhaft Flüchtlingsinseln etabliert würden. Von einer Umsetzung der weiteren vollmundigen Versprechen des Regierungschefs ist vor Ort nichts zu spüren. Wenngleich sich der Zorn der griechischen Inselbewohner in erster Linie gegen die Regierung richtete, wurden auch Forderungen an Brüssel erhoben. Die Menschen fühlen sich auch von der EU alleingelassen, die sich nicht auf eine Verteilungsquote für Flüchtlinge einigen kann.

Zwar drängt die EU-Kommission Griechenland seit Jahren, Asylverfahren schneller durchzuführen, und macht geltend, sie habe dafür schon Hunderte Millionen Euro bereitgestellt. Auch Seehofer hatte dazu im Oktober Gespräche in Athen geführt. Neben personeller Unterstützung ist demnach die Lieferung von IT-Hilfsmitteln für das griechische Asylsystem geplant. Tatsächlich geht es jedoch auch auf EU-Ebene nur langsam voran. Beschleunigen könnte sich die europäische Migrationspolitik frühestens, wenn die EU-Kommission im Frühjahr ihre Vorschläge für die seit Jahren blockierte Asylreform vorgelegt hat. Doch wie eingangs thematisiert ist diese Verschleppung integraler Bestandteil einer Strategie, die Lasten auf Vorposten der Flüchtlingsabwehr abzuwälzen.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/371158.hilferuf-aus-der-ägäis.html

[2] www.faz.net/aktuell/politik/ausland/migranten-in-griechenland-widerstand-der-bevoelkerung-waechst-16594916.html

[3] www.zdf.de/nachrichten/politik/bewohner-proteste-auf-fluechtlingsinseln-100.html

[4] www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-01/griechenland-fluechtlingslager-lesbos-chios-samos-generalstreik

24. Januar 2020


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