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REPRESSION/1680: Syrienflucht - gefährliche Sackgasse ... (SB)



Unsere Kernforderung an die Europäische Union ist sehr klar: Sie müssen jetzt diese Menschen aus Moria herausholen. Moria ist einfach kein Ort, wo diese Menschen behandelt oder auch nur geschützt werden können vor einem möglichen Ausbruch des Coronavirus.
Florian Westphal (Deutsche Sektion der "Ärzte ohne Grenzen") [1]

Angesichts der Corona-Pandemie droht in den Flüchtlingslagern ein Massensterben. Mangelernährung, unzureichende Unterbringung, katastrophale hygienische Verhältnisse und fehlende medizinische Versorgung untergraben ohnehin die Gesundheit der auf engstem Raum eingepferchten Menschen, von denen viele bereits krank sind. Kommt nun eine Infektion mit SARS-CoV-2 hinzu, befinden sie sich um so mehr in einer höchst gefährdeten Lage, ohne daß ihnen die Vorsichtsmaßnahmen offenstünden, zu denen gegenwärtig in den europäischen Ländern mit höchster Dringlichkeit geraten wird. Sie können weder Kontakte meiden und Abstand halten, noch Schutzmasken und Desinfektionsmittel einsetzen, geschweige denn im Notfall eine intensivmedizinische Behandlung erwarten. War ihre Situation schon zuvor höchst bedrängt, mutet sie nun vollends ausweglos an.

Wenngleich es notwendig wäre, die Menschen aus den Lagern zu evakuieren, ist das Gegenteil der Fall. Die Grenzen werden geschlossen, so daß selbst die Aufnahme einiger weniger besonders gefährdeter Flüchtlinge in anderen Ländern kein Thema mehr ist. Es werden Maßnahmen getroffen, die Lager abzuriegeln, verschärft zu bewachen und niemanden daraus entkommen zu lassen. Und wenngleich die Behörden behaupten, eine angemessene Versorgung werde sichergestellt, zeichnet sich ab, daß die eingeschlossenen Menschen mehr denn je ihrem Schicksal überlassen werden. Sobald das Coronavirus um sich greift, werden die Lager endgültig zu Todeszonen, aus denen es kein Entrinnen gibt.

Moria, das größte Flüchtlingslager Europas auf der griechischen Ägäisinsel Lesbos, ist für 3000 Menschen vorgesehen, aber mit derzeit rund 20.000 fast siebenfach überbelegt. Der überwiegende Teil befindet sich in einem Olivenhain, vielfach haben sich die Menschen notdürftige Verschläge aus Plastik gebaut. Viele Familien leben zu fünft und sechst in provisorischen Zelten, die drei Quadratmeter groß sind und dicht an dicht stehen. Abstand zu halten ist ebenso illusorisch wie regelmäßiges Händewaschen, da es viel zu wenig sanitäre Anlagen und kein heißes Wasser gibt, wobei an manchen Tagen gar kein Wasser aus der Leitung kommt. In einigen Abschnitten des Lagers gibt es nur einen einzigen Wasserzugang für bis zu 1300 Menschen, im Durchschnitt müssen sich bis zu 160 Menschen eine Toilette teilen. Seife und Desinfektionsmittel gibt es allenfalls dann, wenn Helfer sie verteilen.

Die Lagerbewohner sind dramatisch unterversorgt, es fehlt an Lebensmitteln, viele Menschen sind bereits erkältet und ihr Immunsystem ist geschwächt. In einigen Berichten ist von drei Ärzten die Rede, andere sprechen von einem einzigen für die etwa 20.000 Flüchtlinge. Viele Kinder sind chronisch erkrankt, traumatisiert und psychisch schwer angeschlagen. Oftmals fügen sie sich selbst Schaden zu, verweigern das Essen, reden von Suizid oder verstummen. Überdies brechen immer wieder Brände aus. Im vergangenen September starb eine afghanische Mutter bei einem Feuer in ihrem Container, das durch eine defekte Glühbirne auf einem Stromkabel ausgelöst worden war. In den vergangenen Wochen wurden zudem das Transitlager des UNHCR und eine Schule auf dem Gelände des Gemeinschaftszentrums One Happy Family vermutlich von rechtsradikalen Gruppierungen niedergebrannt. Vor wenigen Tagen starb ein sechsjähriges afghanisches Mädchen bei einem Feuer. Es gibt keine Fluchtwege, Brandmelder und Feuerlöscher, die Feuerwehr traf erst nach einer Stunde ein.

Die Asylbehörden bleiben bis auf weiteres geschlossen. Asylsuchende können nicht befragt werden und bekommen keine Entscheidungen über ihren Status. Selbst die Obststände und Schulen im Lager, die Geflüchtete selbst aufgebaut haben, müssen schließen. Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" verteilt Flugblätter auf Farsi und Arabisch, um die Flüchtlinge über Schutzmaßnahmen aufzuklären. Eine ehrenamtliche Gruppe von Lagerbewohnern und verbliebenen humanitären Helfern zeichnet Schilder mit Tipps zum Händewaschen und verteilt Desinfektionsmittel und Schutzmasken. Doch von offizieller Seite werden keine Maßnahmen ergriffen, um die Menschen zu evakuieren oder zumindest die Ansteckungsgefahr im Falle eines Ausbruchs zu verringern.

In der vergangenen Woche wurde der erste bestätigte Fall einer Coronavirus-Infektion auf Lesbos bekannt. Sollte das Virus Moria erreichen, womit absolut zu rechnen ist, sind ihm die Menschen schutzlos ausgeliefert. Da niemand getestet wird, ist nicht einmal auszuschließen, daß die Pandemie bereits im Flüchtlingslager grassiert. Um die Schutzbedürftigen vollends zu isolieren, wird das Lager umzäunt und von Polizisten bewacht. Derzeit darf nur mehr eine Person pro Familie in geregelten Busfahrten die Hafenstadt aufsuchen, um notwendige Besorgungen zu treffen. Keiner darf auf das Festland übersetzen, nicht einmal Flüchtlinge mit einem blauen Stempel im Ausweis, der bislang in Ausnahmefällen etwa schwer kranken Menschen gestattete, für eine Behandlung auf das Festland zu reisen. Es steht zu befürchten, daß im Falle bestätigter Corona-Erkrankungen im Lager das Camp hermetisch abgeriegelt wird. [2]

Hilfsorganisationen sprechen zwar von angeblichen Diskussionen um eine Art Notfall-Rettungsplan der Behörden, dessen Details ihnen jedoch nicht bekannt sind. Da die Versorgung schon vor der Corona-Krise absolut mangelhaft war und keinerlei aktuelle Maßnahmen zu erkennen sind, gehen sie davon aus, daß es bislang überhaupt keine Pläne gibt und sie möglicherweise auch gar nicht vorgesehen sind. Organisationen wie "Ärzte ohne Grenzen" unterstreichen, daß Moria kein Ort ist, an dem Menschen vor einem Ausbruch des Coronavirus geschützt oder behandelt werden können. Sie sind extrem hilfebedürftig und müssen evakuiert werden, ehe das Lager zur Todesfalle wird. Diese Forderung richte sich an die griechische Regierung, insbesondere aber an die EU, die seit Jahren in Moira auf ihren vielbeschworenen humanitären Werten herumtrample, nun aber endgültig gefordert sei, Menschenleben zu retten, die auf Lesbos nicht weniger schützenswert als in Berlin seien.

Im Nachbarland Türkei lebt zwar nur ein Bruchteil der insgesamt rund 4 Millionen Flüchtlinge in Lagern, da sich die meisten auf eigene Faust in den Städten durchschlagen. Doch an der türkisch-griechischen Grenze spitzte sich bis vor kurzem die Lage zu, da dort Tausende Migranten weitgehend unversorgt im Niemandsland zwischen den beiderseitigen Polizeiketten ausharren mußten. Inzwischen hat Erdogan in einer Kehrtwende die Grenzen geschlossen und läßt die Flüchtlinge ins Landesinnere zurückkehren, wo die Situation insgesamt dramatische Ausmaße annimmt. Das Regime hat die Corona-Gefahr zunächst systematisch geleugnet und verschleiert, so daß sich die Seuche unterdessen sehr viel weiter als offiziell zugegeben verbreitet haben dürfte.

Noch letzte Woche bestritt Gesundheitsminister Fahrettin Koca, daß es im Land Fälle von Infizierten gebe. Wer kritische Fragen stellte und andere Zahlen in Umlauf brachte, wurde verhaftet, und die staatlich kontrollierte Presse behauptete sogar, die türkischen Gene machten die meisten türkischen Völker gegen das Virus immun. Während Schulen und Universitäten, Teehäuser und Nachtclubs seit Wochenbeginn geschlossen sind, blieben die rund 80.000 Moscheen des Religionsamtes Diyanet weiter geöffnet. Ein wesentlicher Grund für diese höchst bedrohliche und kurzschlüssige Vorgehensweise dürfte die Absicht sein, die wirtschaftliche Talfahrt insbesondere im wichtigen Tourismussektor zu bremsen. Dieser allenfalls befristige Aufschub wurde mit der Gefahr erkauft, daß die Bevölkerung inzwischen in katastrophalem Ausmaß infiziert sein könnte. [3]

In einem der größten Flüchtlingslager der Welt, Cox's Bazar im Süden von Bangladesch, fanden im Spätsommer 2017 Hunderttausende Rohingya nach der Vertreibung aus ihrer Heimat Myanmar Zuflucht. Rund 850.000 Menschen und damit mehr, als Frankfurt am Main Einwohner hat, drängen sich auf einem Zehntel der Fläche dieser deutschen Stadt. Bangladesch ist eines der am dichtesten bevölkerten Länder der Welt, und sein Gesundheitssystem gilt schon jetzt als weithin überfordert. Zwar gibt es bislang erst wenige bestätigte Corona-Fälle im Norden des Landes, doch kann sich die Situation sehr schnell ändern. Helfer versuchen deshalb zu verhindern, daß das Virus ins Lager überspringt. Die WHO verteilt am nahegelegenen Flughafen Infrarot-Thermometer, womit ankommende Reisende auf Fieber getestet werden sollen. Krankenhäuser in der Umgebung wurden mit zusätzlicher Schutzkleidung ausgestattet. Daß diese Maßnahmen ausreichen, muß in Zweifel gezogen werden.

In Kenia, wo rund 500.000 Menschen aus Somalia und Südsudan leben, verschickt das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) Handy-Nachrichten mit der Bitte, Symptome möglichst schnell zu melden. An den Eingängen zu den Lagern Kukuma und Dadaab wurden die Kontrollen verstärkt: Wer hinein will, wird nun befragt, wo er oder sie in den vergangenen Wochen war. Vor allem will man dort verhindern, daß Ausländer oder heimkehrende Urlauber das Virus ins Camp bringen.

Noch größer ist die Gefahr in jenen Gegenden, in denen Flüchtlinge nicht offiziell in das System integriert sind und deshalb keinen Anspruch auf medizinische Hilfe haben. Im Libanon leben Schätzungen zufolge mehr als eine Million Menschen, die aus Syrien geflohen sind. Es gibt zwar informelle Zeltstädte, aber keine staatlichen Flüchtlingslager. Wer krank ist, muß seine Behandlung zumeist selbst bezahlen, zumal das Gesundheitssystem ohnehin größtenteils privatisiert ist. Dabei gelten über 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge als arm und leben von weniger als vier Dollar am Tag.

Am allerschlimmsten ist gegenwärtig die Lage der geflohenen Menschen rund um die Region Idlib in Nordsyrien, wo so gut wie keine medizinische Versorgung existiert. Auf der Flucht vor dem Krieg, der jederzeit wieder voll ausbrechen kann, und eingekeilt an der geschlossenen und scharf bewachten türkischen Südgrenze sind mehr als eine Million Menschen in vielfacher Hinsicht akut bedroht. Werden sie überdies von der Pandemie heimgesucht, sind sie mehr denn je in einem tödlichen Kessel gefangen. [4]

Werden Flüchtlinge ohnehin in den meisten Ländern ferngehalten oder wie ungebetene Gäste behandelt, die man schnell wieder loswerden möchte, zeichnet sich angesichts der Pandemie eine sprunghafte Verschärfung der Feindseligkeit gegen Schutzbedürftige ab. Anflüge von Empathie und zumindest selektiv gewährtem Asylrecht waren gestern, heute werden Fremde als potentielle Seuchenträger ausgegrenzt. Geschähe dies in weltweit konzertierter Aktion, transparent und unter Einbeziehung der Bevölkerungen, ließe sich womöglich die unüberprüfte These, wonach Menschen in schweren Zeiten ihre bessere Seite zum Vorschein bringen, zumindest nicht ganz von der Hand weisen. Danach sieht es jedoch überhaupt nicht aus. Vielmehr scheint sich der Drang, der Seuche die Schwächsten zum Fraß vorzuwerfen, als ließe sich ihr Hunger damit stillen, auf breiter Front durchzusetzen.


Fußnoten:

[1] www.focus.de/politik/ausland/virus-angst-im-fluechtlingscamp-kinder-fuegen-sich-schaden-zu-und-reden-von-suizid_id_11786306.html

[2] www.zeit.de/politik/ausland/2020-03/pandemie-fluechtlingslager-lesbos-moria-eu-grenze/seite-2

[3] www.heise.de/tp/features/Corona-Verschleierung-in-der-Tuerkei-4685866.html

[4] www.spiegel.de/politik/ausland/coronavirus-die-angst-in-den-fluechtlingslagern-griechenland-libanon-bangladesh-kenia-a-b9dffd13-47b2-4c2e-ae12-5acb7391e444

20. März 2020


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