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REPRESSION/1682: Pandemie und Gemeinsinn - und die Folgen ... (SB)



Pro protectione oboedientia - für den Schutz, den der Staat bietet, haben die Bürger Gehorsam zu leisten.
Herfried Münkler zitiert den englischen Philosophen Thomas Hobbes [1]

Angesichts der Corona-Pandemie werden Grundrechte in einem Ausmaß und in einer Geschwindigkeit eingeschränkt, die sogar dezidierte Kritiker des bürgerlichen Staats überraschen dürften. Selbst wer den Ausbau repressiver Staatlichkeit über die Jahre aufmerksam verfolgt und bewertet hat, sieht sich mit einem Szenario konfrontiert, das man bislang vor allem für Zeiten des Krieges oder innerer Unruhen prognostiziert hatte. Zugleich gilt aber auch, daß die Vorbereitung des Ausnahmezustands in der Bundesrepublik eine lange Vorgeschichte hat, deren erster Höhepunkt die Notstandsgesetze waren und die in jüngerer Zeit in wachsender Schärfe vorangetrieben wurde. Wer von einer Klassengesellschaft ausgeht, als deren Sachwalter die parlamentarische Demokratie fungiert, wird in dieser Entwicklung eine Ratio der Herrschaftssicherung erkennen, diese unter allen Umständen fortzuschreiben und zu perfektionieren, also auch unter zunehmenden sozialen Grausamkeiten der Revolte das Wasser abzugraben. Das deutsche Modell einer systematischen Einbindung der Gewerkschaften auf dem Wege der Mitbestimmung und die Agendapolitik wie insbesondere Hartz IV haben ein System der Befriedung und Kontrolle etabliert, das mittels des größten Niedriglohnsektors Europas die ökonomische Vormachtstellung möglich machte. Hinzu kam als repressiver Flügel des Angriffs auf die Lohnabhängigen oder für überflüssig Erklärten ein massiver Ausbau des Sicherheitsstaats, der Zug um Zug die Werkzeuge für Maßnahmen des nichterklärten oder erklärten Ausnahmezustands schmiedete.

Wenn heute im Zeichen der Corona-Krise Grenzschließungen, Versammlungsverbote, Geschäftsschließungen, Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote verfügt werden, gründet die weitgehende Abwesenheit eines kritischen Diskurses auf einer über Jahrzehnte etablierten gesellschaftlichen Friedhofsruhe, die man als Markenkern des Modells Deutschland ausweisen könnte. Die Beteiligung der Bevölkerung durch in der Gesamtheit bessere Lebensbedingungen als anderswo brachte das Aufbegehren gegen Ausbeutung und Elend im eigenen Land, insbesondere aber in anderen Weltregionen weitgehend zum Schweigen. Dies mag den tiefgreifenden Schockzustand erklären, mit dem eine sich sicher wähnende deutsche Mehrheitsbevölkerung auf den plötzlichen Einbruch der aktuellen Bedrohung reagiert. Sie widersetzt sich nicht einer Regierungspolitik, die auch aus dieser Krise siegreich hervorgehen will, indem die heimische Wirtschaft an die erste Stelle gesetzt wird, während das Wohlergehen der Bevölkerung erst im Nachrang folgt. Daß konsequente Maßnahmen, die Verbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 zu verhindern, erst spät und zögernd ergriffen wurden, zeugt von der grundlegenden Strategie, die Ökonomie wenn irgend möglich am Laufen zu halten, keinesfalls aber vor anderen Ländern und stärker als diese herunterzufahren.

Wenn der eingangs zitierte Thomas Hobbes vom Gehorsam der Bürger spricht, den sie für den Schutz durch den Staat zu leisten haben, müßte man also präziser von ihrer Beteiligung am Schutz des Staates sprechen, der sich gegen sie wendet, wann immer seine Räson dies gebietet. Diesen Widerspruch vermag der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im Spiegel-Gespräch offenbar nicht zu erkennen, wenn er die aktuellen Maßnahmen grundsätzlich von den Notstandsgesetzen unterscheidet. Damals habe es massive Proteste gegeben, weil die Notverordnungen in der Endphase der Weimarer Republik und der NS-Staat noch in frischer Erinnerung gewesen seien. Heute werde jedoch gar nicht mit Gesetzen gearbeitet, schon gar nicht mit Eingriffen ins Grundgesetz, da die Regierungen vor allem administrative Möglichkeiten nutzten. Selbst auf die Nachfrage, ob er es denn unproblematisch finde, daß Regierungen so weitreichende Entscheidungen allein treffen, ohne die Parlamente zu fragen, erwidert Münkler: "Bei uns sehe ich darin keine Gefahr für die Demokratie."

Als Apologet der herrschenden Verhältnisse bekannt, verkürzt er seine Einwände auf Staaten, in denen autoritäre Regierungschefs wie Trump, Bolsonaro, Putin, Erdogan oder Xi Jinping an der Macht seien, welche die Pandemie zum Einfallstor für weitreichende Veränderungen der politischen Ordnung nutzen könnten. Das könne damit beginnen, daß sich jemand als charismatischer Bezwinger der Krise präsentiere, wie sich das in China andeute. Mangels einer Staatskritik, die von gesellschaftlichen Verhältnisse ausgeht, deren Systemkrisen in Rechnung stellt und politische Führungsfiguren in diesen Gesamtkomplex einbindet, verortet Münkler das Gefahrenpotential in einer personifizierenden Sichtweise bei autoritären Staatschefs.

Historisch mit der Coronakrise vergleichbar sei vielleicht die große Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts, die sich 1348 aus südeuropäischen Hafenstädten wie Venedig, Genua und Marseille über ganz Europa ausbreitete, wo sie in gut einem Jahrzehnt 25 Millionen Menschen und damit etwa ein Drittel der damaligen Bevölkerung dahinraffte. Sie brachte das öffentliche Leben zum Erliegen, jedoch nicht, weil ein gut organisierter Staat Ausgangssperren angeordnet hätte, sondern weil die Menschen aus Angst vor Ansteckung nicht mehr auf die Straße gingen. Auch damals seien die Begüterten im Vorteil gewesen, weil sie sich in Landhäuser zurückziehen konnten.

Die Pest blieb eine Dauerbedrohung für Europa, und so reglementierten die Staaten, die sich nach dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert herausbildeten, immer stärker das Alltagsleben der Menschen, nicht zuletzt, um Katastrophen vorzubeugen. Sogenannte Policey-Ordnungen entstanden, etwa zur Ausweisung Kranker im Seuchenfall oder zur Müllbeseitigung. Für die Obrigkeiten sei das durchaus ein positiver Effekt gewesen, da die Angst vor Krankheiten auf ganz besondere Weise Maßnahmen rechtfertigte, um Ordnung und Disziplin durchzusetzen. "An solchen Herausforderungen wuchsen die frühneuzeitlichen Staaten und etablierten sich - die Herrschaft konnte sich legitimierten, indem sie dabei erfolgreich war."

Münkler faßt Herrschaft nicht als menschheitsgeschichtlichen Grundkonflikt zu Lasten der Beherrschten, den es im Sinne einer emanzipatorischen Umwälzung aus der Welt zu schaffen gilt, sondern als Entwicklungsprozeß im Zuge bewältigter Herausforderungen, der die Staatsgewalt mit Legitimation ausstattete. Das wird noch deutlicher im Übertrag auf die Gegenwart, in der sich der Staat in Ausnahmezeiten wie diesen bewähren müsse, um der ihm angetragenen Schutzerwartung gerecht zu werden. Es sei gewissermaßen die Stunde der Exekutive, in der die regierenden Parteien politisch im Vorteil seien, da sie nicht nur reden, sondern auch handeln könnten. Diese Selbstermächtigung der Exekutive ficht den Politikwissenschaftler keineswegs prinzipiell an, weshalb er auch die daraus erwachsenden Gefahren herunterspielt.

Würden in der Verfassung verankerte Freiheitsrechte unter Verweis auf das Gemeinwohl eingeschränkt, könne man gut mit der Kantschen Formel argumentieren, daß die Freiheit, die ich für mich in Anspruch nehme, die Freiheit eines anderen nicht einschränken oder bedrohen darf: "Wenn die Einschränkungen, die wir gerade erleben, das Leben anderer zu sichern helfen, dann halte ich sie für gerechtfertigt." Entscheidend sei, ob der Ausnahmezustand zeitlich begrenzt oder zur Einbruchsstelle für eine fundamentale Veränderung der sozio-politischen Ordnung werde. Hat Münkler eben noch den permanenten Ausnahmezustand als Gefahr an die Wand gemalt, gibt er sich im selben Atemzug unbesorgt, was Westeuropa angeht, zumindest im Augenblick. Doch in autoritären Staaten wie China sei die Pandemie eine gute Begründung, das ohnehin schon herrschende Kontrollsystem mit Handyüberwachung und Bewegungsprofilen weiter auszubauen. Besiege man auf diese Weise die Krankheit, lasse sich einiges rechtfertigen, orakelt der Politikwissenschaftler mit ominösen Andeutungen.

Kann sich Münkler mit Maßnahmen der inneren Abschottung und Isolation durchaus anfreunden, erteilt er Grenzschließungen eine harsche Absage. Das sei absurd, reine Symbolpolitik und nicht umsonst von rechtspopulistischen Ländern wie Österreich und Dänemark begonnen worden. Ohnehin würden die Grenzen nicht wirklich geschlossen, da Warenströme sie weiter passierten, was in einer global vernetzten Welt unverzichbar sei. Deutlicher könnte man den Primat ökonomischer Vorteilserwägungen kaum zum Ausdruck bringen, wobei sich Münkler gar nicht erst in die Niederungen konkreter Überlegungen begibt, wie die Waren strömen, aber die Coronaviren aufgehalten werden sollen. Folglich stolpert er auch nicht über diese Widerspruchslage, in der bei einer anders gewichteten Priorität die Türen sehr viel schneller geschlossen worden wären, als dies tatsächlich der Fall war.

Vollends aufs Glatteis führt ihn seine Argumentation, daß sich Epidemien schon früher über Handelswege verbreiteten, aber oftmals mit Kriegen einhergingen. War die Bevölkerung geschwächt von Krieg und Hunger, hatten die Krankheitserreger leichtes Spiel. Im Dreißigjährigen Krieg starben mehr Menschen an Hunger oder Krankheiten als an Kriegshandlungen und auch die Ausbreitung der Spanischen Grippe 1918 wurde vom Ersten Weltkrieg begünstigt. Erschreckend sei heute, daß die Ansteckungsgefahr früher mit dem Kriegsende sank, während die Erreger nun eher vom Frieden profitierten. Je friedlicher die Zeiten, um so mehr Touristen reisten durch die Welt, desto länger seien die Lieferketten der Wirtschaft.

Wie kann man die Verwundbarkeit durch die Globalisierung minimieren, ohne wirtschaftliche und persönliche Freiheiten auf Dauer einzuschränken? Mit der so formulierten Fragestellung setzt sich Münkler die Brille all jener auf, die von der vorherrschenden Wirtschaftsweise profitieren, aber deren dramatisch eskalierenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Schadensfolgen ausblenden. Schlägt nun ein Bruchteil der weltweiten Verheerungen in Gestalt der Pandemie auch auf die Metropolen zurück, beschwören deren Regierungen den Gemeinsinn, alle Einschränkungen freiwillig auf sich zu nehmen, die andernfalls aufgezwungen würden. "Unsere Demokratien werden die Krise wohl gut überstehen", übt sich Münkler in Zuversicht, daß die führenden westeuropäischen Mächte das Heft in der Hand behalten. Ganz sicher ist er sich aber nicht, da massive wirtschaftliche Einschnitte wahrscheinlich seien. "Ich halte es für möglich, dass man später von einer Epochenwende im Jahr 2020 sprechen wird", schließt er seine Ausführungen zur bedrückenden Gegenwart im Stile eines Chronisten, der sich selbst angesichts eines dystopischen Ausblicks auf der sicheren Seite staatlicher Ordnung wähnt.


Fußnote:

[1] www.spiegel.de/geschichte/herfried-muenkler-ueber-die-coronakrise-keine-gefahr-fuer-unsere-demokratie-a-8e31ed5f-af12-4ad9-96ba-c64776f760e7

25. März 2020


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