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REPRESSION/1690: Corona, Brasilien - erst kleingeredet, dann mißbraucht ... (SB)



Das ist eine Form von Klassenkampf. Die so genannte herrschende Klasse war in der Regierungszeit von Lula und Dilma etwas ins Hintertreffen geraten und sieht in Bolsonaro jemanden, der ihr den angestammten Platz im Machtgefüge zurückbringen und Brasilien von jeder Form von fortschrittlichem Denken "reinigen" wird.
Bernardo Carvalho (Brasilianischer Schriftsteller und Publizist) [1]

Jair Messias Bolsonaro wurde Ende 2018 zum brasilianischen Präsidenten gewählt, nachdem er versprochen hatte, "Extreme" zu "beseitigen". Unterstützt von Großgrundbesitzern, Militärs, Evangelikalen, Bankiers und Investoren macht er sich daran, eine so radikale ideologische Kehrtwende durchzusetzen, wie sie noch nicht einmal die Generäle während der Militärdiktatur in den 1960er bis 1980er Jahren angestrebt haben. Angesichts der Entwicklungen in Venezuela, Bolivien, Ecuador und der Kirchners in Argentinien wurde in der jüngeren Vergangenheit das Phantasma einer kommunistischen Bedrohung in Lateinamerika in die Welt gesetzt, die auch Brasilien umzingele und in dessen Inneren von Lula da Silva und Dilma Rousseff betrieben werde. Wenngleich sich die Situation angesichts eines massiven Rollbacks längst verändert hat, halten die brasilianischen Eliten an diesem Konstrukt fest, um ihr Regime der Ausbeutung und Verfügung uneingeschränkt zu exekutieren.

Bolsonaro, der als Hauptmann der Fallschirmjäger nicht der Großbourgeoisie angehört, ähnelt in seinem heftig oszillierenden Auftreten nicht von ungefähr seinem großen Vorbild Donald Trump. In einer Mischung aus Machthaber und Marionette der einflußreichsten Kreise des Landes verspricht er diesen, ihre Privilegien uneingeschränkt wiederherzustellen und ihrer Sklavenhaltermentalität freie Bahn zu schaffen. Sein Kampf richtet sich gegen all das, was er als "marxistische Kultur" bezeichnet, also jegliche Institutionen und Quellen unabhängigen Denkens. Er höhlt das Justizwesen aus, greift die Pressefreiheit an, befeuert rassistische Übergriffe, schleift soziale Reformen und gibt den Amazonasregenwald zur ungehinderten Ausplünderung frei. Nie zuvor seit der Militärdiktatur wurde ein Konter der Bourgeoisie so weitreichend und in derart kurzen Fristen durchgetragen.

Dabei kam Bolsonaro zustatten, daß wie so oft in Brasilien eine ursprünglich sozialkämpferische Bewegung wie die Schülerproteste gegen die Bildungsreform 2013 von reaktionären Strömungen okkupiert und zu Demonstrationen für das Impeachment gegen Dilma Rousseff umfunktioniert wurde, die dann in einem kalten Putsch des Amtes enthoben werden konnte. Eine Massenbewegung gegen die Arbeiterpartei hielt die Anhängerschaft Lulas in Schach, der als aussichtsreichster Präsidentschaftskandidat mittels eines politischen Prozesses verurteilt, inhaftiert und somit aus dem Weg geschafft wurde. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei hatte in ihren vierzehn Jahren an der Regierung bedeutende Sozialreformen auf den Weg gebracht und angesichts hoher Rohstofferlöse zugleich die Wirtschaftseliten zufriedengestellt, wobei auch die PT tief in Korruption und Kollaboration verstrickt war. Lulas reformerischer Gegenentwurf zum sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts, wie ihn insbesondere Hugo Chavez verkörperte, galt befristet als Erfolgsmodell einer sozialen Verbesserung, ohne an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu rühren. Dies schwächte die brasilianische Linke in hohem Maße und führte dazu, daß heute, anders als etwa in Chile, Argentinien, Mexiko oder Peru, in Brasilien keine oppositionelle Massenbewegung existiert, die einen längeren Atem hätte.

Bolsonaro ist aus der katholischen Kirche ausgetreten und ließ sich 2016 von einem evangelikalen Pastor im Jordan neu taufen. Sein Pakt mit den mächtigen Evangelikalen, die ein Wählerpotential von 30 Prozent und 30 Abgeordnete im Parlament sitzen haben, so daß an ihnen niemand mehr vorbeikommt, ist, wiederum vergleichbar mit Trump, ein wesentlicher Rückhalt des brasilianischen Präsidenten. Er dankt es ihnen mit seiner Repression gegen progressive wissenschaftliche Projekte und Bildungsreformen wie auch individuelle Freiheitsrechte von Minderheiten. Ob er tatsächlich auf die zutiefst reaktionären Einflüsterungen der Kreise hört, mit denen er sich umgibt, oder als extremer Opportunist heute verkündet und morgen verwirft, ganz wie es seinem Kalkül zupaß kommt, ändert unter dem Strich nichts daran, daß er ein höchst gefährlicher Staatschef ist, die unabsehbare, womöglich sogar unumkehrbare Zerstörungsprozesse forciert.

Wie mächtig Bolsonaro in seinem Amt und doch zugleich ersetzbar ist, sollte er nach Einschätzung der brasilianischen Eliten aus dem Ruder laufen, unterstreicht seine jüngste Kehrtwende im Umgang mit der Corona-Pandemie. Diese Krise wird offensichtlich als gravierende Bedrohung der Ökonomie eingeschätzt - zu gefährlich, um den dilettierenden Präsidenten nicht zurückzupfeifen. Dieser hatte zuvor wiederholt eine "Hysterie" um das Virus angeprangert, die von dem Erreger ausgelöste Lungenkrankheit Covid-19 in einer Fernsehansprache als "kleine Grippe" heruntergespielt und den Sinn der von zahlreichen brasilianischen Regional- und Kommunalbehörden im Kampf gegen das Virus erlassenen Restriktionen in Zweifel gezogen. In Videos forderte er die Menschen zum Weiterarbeiten auf. Nur wer über 65 Jahre alt sei, solle zu Hause bleiben. Umstehenden und Journalisten erklärte er, daß das Land mit 60 bis 70 Prozent Infizierten immun werde und ein Medikament gegen die Krankheit "bereits eine Realität" sei, wie er ohne jeden Beleg behauptete.

Nicht nur mit seinen maßlos verharmlosenden Äußerungen, sondern auch seinem persönlichen Verhalten hatte Bolsonaro viel Kritik auf sich gezogen. Der Präsident und sein Sohn Flavio verbreiteten über Facebook ein Video, das einen Autokorso zeigte, dessen Teilnehmer die Wiedereröffnung von Geschäften und Schulen im südlichen Bundesstaat Santa Catarina bejubelten. Zudem teilten Jair und Flavio Bolsonaro ein Video der umstrittenen Kampagne. In dem Clip werden die Menschen aufgerufen, ihrem Alltag trotz der Coronavirus-Pandemie weiterhin nachzugehen. Bolsonaro inszenierte sich als Präsident "zum Anfassen" und unternahm einen Ausflug zu noch geöffneten Geschäften, besuchte einen Supermarkt, schüttelte Hände auf der Straße und posierte mit Anhängern für Selfies. Dabei hatte sein Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta gerade am Tag zuvor die Bevölkerung aufgerufen, zu Hause zu bleiben und die Kontakte einzuschränken, um der weiteren Ausbreitung des Coronavirus entgegenzuwirken. Auf Anordnung des Gouverneurs sind im Hauptstadtdistrikt seit dem 19. März die Kirchen sowie die meisten Geschäfte, Bars und Restaurants geschlossen.

Als sich jedoch nicht mehr verheimlichen ließ, daß Brasilien das von der Pandemie am härtesten betroffene Land in Lateinamerika ist, wuchs der Widerstand gegen Bolsonaro. Sao Paulos Gouverneur Joao Doria von der großbürgerlichen PSDB warf ihm vor, das Land "zu spalten, statt zu regieren". Eine "Politik, die Leute tötet, rettet nicht die Wirtschaft", erklärte der Gouverneur. Auf Druck der linken Opposition verabschiedete der Kongreß ein Programm, in dem eine monatliche Nothilfe in Höhe von umgerechnet 106 Euro für von der Corona-Krise betroffene Erwerbslose, Niedriglöhner und informell Beschäftigte vorgesehen ist. Familien und alleinstehende Mütter sollen das Doppelte erhalten.

Zwei über den offiziellen Twitter-Kanal des Präsidenten verbreitete Videos von seinem Ausflug wurden von dem Kurzbotschaftendienst wenig später gelöscht. Sie verstießen gegen dessen Regeln, durch die Beiträge verhindert werden sollen, die die von Wissenschaftlern und Gesundheitsbehörden empfohlenen Maßnahmen gegen die Verbreitung des neuen Coronavirus zu untergraben versuchen, hieß es zur Begründung. Zudem untersagte ein Gericht in Rio de Janeiro dem Präsidenten, Empfehlungen gegen Ausgangsbeschränkungen aufgrund des Coronavirus zu verbreiten. Regierungsvertreter und mit ihnen in Verbindung stehende Personen müßten es unterlassen, Informationen zum Coronavirus ohne wissenschaftliche Grundlage zu verbreiten oder "agitatorisch" einzusetzen. Die Kampagne "Brasilien darf nicht stillstehen" halte wissenschaftlichen Kriterien nicht stand und sei einzustellen. Auch stoppten Richter ein Dekret des Präsidenten, in dem Kirchen und andere Gotteshäuser von den in einigen Bundesstaaten geltenden Ausgangsbeschränkungen wegen der Pandemie ausgenommen wurden. [2]

Mit seinem Kurs gegen einen Lockdown hatte sich Bolsonaro derart isoliert, daß sich Medienberichten zufolge hohe Vertreter des Militärs trafen und dem Vizepräsidenten, General Hamilton Mourao, Unterstützung für den Fall einer Ablösung Bolsonaros signalisierten. Diese Drohung veranlaßte Bolsonaro endlich zu einer Kehrtwende. In seiner vierten Fernsehansprache zur Corona-Krise gab er sich ungewohnt empathisch und erklärte: "Das Virus ist eine Realität. Wir stehen vor einer der größten Herausforderungen unserer Generation." Er mache sich Sorgen um das Leben, aber auch um den Erhalt der Arbeitsplätze. Das Mittel gegen die Pandemie könne nicht schlimmer als deren Auswirkungen sein, plädierte er trotz seines demonstrativen Einlenkens für eine rasche Rückkehr zur Normalität im öffentlichen Leben. "Was wird mit dem Straßenverkäufer, der Haushaltshilfe und anderen Selbständigen, mit denen ich während meines ganzen öffentlichen Lebens Kontakt halte?", fragte Bolsonaro, als sei er ein Anwalt der einfachen Leute. Mehr als 40 Prozent der Brasilianer gehen einer informellen Arbeit nach und haben kaum Rücklagen. [3]

Der Schwerpunkt der Epidemie liegt im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Sao Paulo. Die Mehrheit der Menschen ist auf das mangelhafte und unterfinanzierte öffentliche Gesundheitssystem SUS angewiesen. Wegen des eklatanten Ärztemangels in den ärmeren Gebieten und im Hinterland hatten unter der Präsidentin Dilma Rousseff seit 2013 insgesamt etwa 11.000 Mediziner aus Kuba im Rahmen des Programms "Mehr Ärzte" die gesundheitliche Versorgung zahlloser Menschen gesichert. Bolsonaro erklärte sie zu Spionen und zwang Havanna Ende 2018 zum Abzug der Spezialisten. Die so gerissenen Lücken konnten bis heute nicht geschlossen werden. [4]

Eine ungebremste Verbreitung des Virus zum schnellen Aufbau einer "Herdenimmunität" würde vor allem die Leben von Hunderttausenden in den überfüllten Gefängnissen und der mehr als 11 Millionen Einwohner der Favelas aufs Spiel setzen. Die Wohnverhältnisse in den Armensiedlungen sind häufig beengt, die Generationen leben eng beieinander, die sanitären Bedingungen sind katastrophal. Eine Isolierung von Risikogruppen ist hier undurchführbar. Tag für Tag haben zahlreiche Menschen in verschiedenen Städten gegen den Präsidenten protestiert, indem sie auf Töpfe und Pfannen schlugen, aus den offenen Fenstern "Bolsonaro weg" und "Mörder" riefen. Als der Machthaber im vergangenen Jahr an seine Grenzen zu stoßen schien, verliefen Massenproteste im Sand. Nun könnte die Corona-Pandemie Prognosen zufolge Hunderttausende Todesopfer in Brasilien nach sich ziehen. Schwer vorstellbar, daß die Menschen in ihrer Not vergessen, wer durch die Leugnung dieser Gefahr und das Beharren auf eine uneingeschränkt funktionsfähige Wirtschaft maßgeblich zu dieser Eskalation des Verhängnisses beigetragen hat.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/regierung-bolsonaros-brasiliens-kehrtwende-in-der-kultur.1184.de.html

[2] www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/jair-bolsonaro-twitter-loescht-zwei-nachrichten-des-brasilianischen-praesidenten-a-60fbb870-f6dc-4585-a671-1dc3ccb4364e

[3] www.n-tv.de/politik/Bolsonaro-rudert-in-der-Corona-Krise-zurueck-article21683843.html

[4] www.jungewelt.de/artikel/375603.brasilien-bolsonaro-isoliert-sich.html

6. April 2020


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