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REPRESSION/1703: Überreaktion Erdogans auf linken Hackerstreich ... (SB)



Als vor rund 10 Tagen in der westtürkischen Millionenmetropole Izmir das italienische Partisanenlied Bella Ciao aus den Lautsprechern einiger Moscheen erklang, konnte niemand in Zweifel darüber sein, daß es nicht Absicht der islamischen Gemeinden war, eine Hymne der kommunistischen und anarchistischen Linken zu verbreiten. Mitten im Ramadan anstelle des zu erwartenden Rufes zum Gebet das weltweit vielleicht bekannteste Lied linker WiderstandskämpferInnen erklingen zu lassen ist ein gelungenes Beispiel für den sogenannten Hacktivism, die Kaperung informationstechnischer Systeme zur Verbreitung sozial fortschrittlicher bis revolutionärer Botschaften, die dort ansonsten keinen Platz hätten. Unblutig und gewaltfrei Zeichen in einer ansonsten gegen politische Abweichungen weitgehend abgeschirmten Öffentlichkeit zu setzen ist gerade in der Türkei, wo viele Menschen für harmlose Gesinnungsdelikte zu Haftstrafen verurteilt wurden, Beweis für die Existenz einer ansonsten kaum sichtbaren Opposition.

Diese gerät nun verstärkt unter Druck, scheint das Erdogan-Regime den gelungenen Hack doch zum Anlaß zu nehmen, verstärkt gegen die linke Opposition vorzugehen. So wurde die stellvertretende CHP-Parteichefin in Izmir, Banu Özdemir, festgenommen, weil sie auf Twitter die Noten von Bella Ciao unkommentiert veröffentlicht hatte[1]. Wie sie müssen alle Menschen, die Informationen über die Aktion im Netz verbreiten, um ihre Freiheit fürchten, denn Propagandadelikte werden in der Türkei aufs schärfste verfolgt. Die linke Musikgruppe Grup Yorum, in deren Liverepertoire Bella Ciao einen festen Platz hat, weiß ein trauriges Lied davon zu singen, wie der Staat ihre künstlerische Arbeit unterdrückt und der dagegen gerichtete Widerstand immer wieder Todesopfer fordert, so zuletzt die hungerstreikenden MusikerInnen Helin Bölek und Ibrahim Gökcek sowie der mit ihnen solidarische Mustafa Kocak.

Da AktivistInnen der türkischen und kurdischen Linken in der Bundesrepublik ebenfalls politisch verfolgt werden, wird zu Solidarität mit den politischen Gefangenen in der Türkei nur in Kreisen entschiedener InternationalistInnen und der dem kurdischen Freiheitskampf unterstützenden Linken aufgerufen. Der Protest gegen die diktatorischen Praktiken des Erdogan-Regimes findet nurmehr im engen Rahmen menschenrechtsbewegter AktivistInnen statt, richtet er sich doch gegen das Interesse der Bundesregierung, mit Erdogan über einen Unterstützer des deutschen Imperialismus zu verfügen, auf den Verlaß ist nicht zuletzt bei der Unterdrückung der linken Opposition. Schon wird wieder dafür geworben, daß deutsche UrlauberInnen in die Tourismushochburgen an der türkischen Mittelmeerküste reisen - so wenig sie die Leichen ertrunkener Flüchtender zu interessieren scheinen, so egal ist ihnen, wie nur wenige Kilometer von ihren Betonburgen entfernt die politische Opposition in den Knästen des Landes schmort. Ihre Gefangenen wurden als einzige Gruppe kollektiv davon ausgeschlossen, in den Genuß der coronabedingten Amnestie für Strafgefangene zu gelangen.

Von einer demokratischen Opposition, die in früheren Jahrzehnten linke Bewegungen in der Türkei lautstark unterstützt hat, ist auch deshalb wenig zu spüren, weil die Pandemie zu einer massiven Nationalisierung aller Krisenbewältigungsstrategien geführt hat. Dabei handelt es sich auch historisch um eine unheilige Tradition, Geschäfte mit türkischen Despoten zu machen, wie die Kollaboration des Deutschen Reiches mit den Urhebern des Genozides an der armenischen Bevölkerung vor einem Jahrhundert belegt. Heute muß die Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe auf die Kriminalisierung der aramäischen Volksbewegung Revolutionäre Suryoye [2], deren eigene Geschichte mit diesem Genozid eng verknüpft ist, in Deutschland hinweisen.

Weil die Repression in der Türkei in Deutschland erhobene Forderungen für mehr Menschenrechte etwa in China auf peinliche Weise konterkariert, macht hierzulande auch der Fall eines 20jährigen Kurden keine Schlagzeile, der in Ankara mutmaßlich erstochen wurde, weil er kurdische Musik gehört hatte [3]. Die aggressive Unterdrückung künstlerischer Aktivitäten aufgrund von politischen Inhalten, die Kunst in erster Linie zu einer wichtigen, über harmlose Dekoration hinausgehende Form kultureller Arbeit machen, hat in Deutschland eine so grausame Geschichte, daß aller Grund bestände, anhand eines solchen Falles vor der Wiederkehr faschistischer Gefahr zu warnen.

Internationale Solidarität wird beim stürmischen Anwachsen krisenhafter Entwicklungen - Pandemie, Klimawandel, Hunger, Vertreibung, neokolonialistische Ausbeutung, Stellvertreterkriege - und des weltweit zu beobachtenden Rückzuges auf nationale Bewältigungsstrategien immer wichtiger. Während die von COVID-19 erschütterte Weltwirtschaft mit aller Kraft wieder angeschoben wird, um bestenfalls auf das Krisenniveau von zuvor gehoben zu werden, fehlen linken Bewegungen häufig die Worte, um eine streitbare Position gegen den Ausverkauf der Interessen der Lohnabhängigenklasse und aller überflüssig gemachter Menschen zu beziehen. In diesen Raum stößt nicht nur die radikale Rechte vor, er wird auch von staatlicher Repression so wirksam unter Kontrolle gebracht, daß eine den krisenhaften Verhältnissen angemessene Radikalisierung vor allem jüngerer Menschen kaum noch stattfindet.

Nationalchauvinistische und rassistische Herrschaftssysteme wie in der Türkei und den USA, um nur zwei zur Zeit besonders prominente Beispiele zu nennen, kritisch in den Blick zu nehmen empfiehlt sich auch deshalb, weil die ambitionierten AktivistInnen anderer sozialer Bewegungen wie derjenigen, die für Klimagerechtigkeit eintritt, eher früher denn später mit der harten Hand staatlicher Repression konfrontiert werden [4]. Das ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn die Einsicht in das bloße Vortäuschen regierungsamtlichen Klimaschutzes so unausweichlich wird, daß radikalere Aktionsformen ergriffen werden müssen, um überhaupt noch irgendeinen Effekt in den Zentralen administrativer Verfügungsgewalt zu erzielen.

Die Hoffnung darauf, um eine die kapitalistische Gesellschaftsordnung in Gänze in Frage stellende Bewältigung der sozialen Folgen von Klimawandel und Naturzerstörung herumzukommen, weil eine erfolgreiche Umkehr des Wirtschaftswachstums sich ohne das Stellen der Eigentumsfrage quasi systemimmanent erzielen ließe, wird seit Jahrzehnten durch die faktischen Ergebnisse hegemonialen Regierungshandelns überzeugend dementiert. Hier etwas zu ändern verlangt mehr Einsatz und vor allem politisches Bewußtsein als auf den verschiedenen Feldern des Klimaaktivismus bislang üblich. Eine fundierte materialistische Kritik an Staat und Kapital wäre ein Anfang, auf den die Einsicht in die Notwendigkeit zur Solidarität mit den um ihr Leben kämpfenden Menschen in aller Welt auf den Fuß folgt.


Fußnoten:

[1] https://www.sueddeutsche.de/politik/bella-ciao-tuerkei-1.4918726

[2] http://rotehilfeaugsburg.blogsport.eu/2020/06/01/volksrat-der-aramaeer-aus-europa/?fbclid=IwAR0tfehrONCImN_dBiI_Vk68NnFLNv5PnE9W-8mMvMa2yAff3oD8zSuf1XI

[3] https://anfdeutsch.com/kultur/20-jaehriger-kurde-in-ankara-erstochen-19500

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1892.html

1. Juni 2020


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