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REPRESSION/1704: Deutungshoheit rechtslastig ... (SB)



Parallel zum Prozess gegen die beiden Angeklagten ab Mitte Juni soll in einem Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag zudem der Frage nachgegangen werden, ob es möglicherweise in Kassel eine Zelle des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gegeben hat. Ob die beiden Angeklagten dieser Zelle möglicherweise angehörten. Und: Ob Beamte, etwa des hessischen Verfassungsschutzes und der Polizei, zu Unterstützern dieser möglichen Untergrundstruktur gehörten.
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In der Nacht vom 1. zum 2. Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses aus nächster Nähe erschossen. Seit diesem spektakulären politischen Mord ist ein Jahr vergangen, in dem der Staatsschutz die Aufklärung bis hin zur Prozeßeröffnung vorangetrieben, doch zugleich in eine für ihn unverfängliche Richtung geschoben hat. Wie der sprichwörtliche Elefant steht der Verdacht im Raum, es habe sich wie schon im Falle der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) nicht um Einzeltäter, sondern ein rechtsextremes Netzwerk gehandelt, in das der Inlandsgeheimdienst verstrickt war. Was die Szene in Kassel betrifft, handelte es sich in beiden Fällen um einen nahezu identischen Kreis von etwa 50 Personen, in dem der Verfassungsschutz mindestens ein halbes Dutzend V-Leute plaziert hatte. Es ist daher kaum vorstellbar, daß ihm die Strukturen, Kontakte und Umtriebe der maßgeblichen Akteure entgangen sein sollen.

Walter Lübcke war ins Visier gewaltbereiter Rechtsextremisten geraten, als er am 14. Oktober 2015 in der Stadthalle von Lohfelden 800 Bürger über eine geplante Flüchtlingsunterkunft informieren wollte. Von Aktivisten der Kagida, dem Kasseler Ableger von Pegida, ständig lautstark unterbrochen, setzte sich der CDU-Politiker in Verteidigung der Flüchtlinge mit den Worten zur Wehr: "... es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen." Diese Szene hielt Markus Hartmann, jener der Beihilfe zum Mord an Lübcke angeklagte Freund des ebenfalls anwesenden Stephan Ernst, mit seinem Smartphone fest und stellte sie noch am selben Abend ins Internet. Mit diesem Video sollte die für die Rechte zentrale ideologische Botschaft befeuert werden, in Europa sei eine große "Umvolkung" im Gange, die von "Volksverrätern" betrieben werde, gegen die sich das Volk wehren müsse. [2]

Im Zuge einer systematisch betriebenen Kampagne veröffentlichte der rechtsextreme Blog Politically Incorrect News (PI-News) bereits am nächsten Tag einen Artikel mit Angabe der Adresse, Telefonnummer und E-Mail-Adresse von Walter Lübcke. Die Videosequenz wurde in den folgenden Tagen verlinkt. In der Kommentarspalte riefen Leser dazu auf, "dort vorbeizuschauen", und es wurde ankündigt: "Der Kasper aus Kassel macht es nicht mehr lange." Der Bundesvorstand der AfD postete das Video bei Facebook mit der Parole: "Noch ist es unser Land, Herr Lübcke!" Fünf Tage nach der Veranstaltung griff der Autor Akif Pirincci als Hauptredner der Kundgebung zum einjährigen Bestehen von Pegida in Dresden vor 20.000 Menschen Walter Lübcke scharf an.

Damit waren die Schleusen geöffnet. Auf Youtube, Facebook und Twitter, in Chaträumen und rechten Foren kursierte immer wieder diese Videosequenz und machte Lübcke zur Zielscheibe rechter Angriffe. Ein Shitstorm flutete sein Mailpostfach, und seine Versuche, die Äußerungen klarzustellen, waren in dieser Szene zum Scheitern verurteilt. Er wurde als vermeintlicher Inbegriff eines verhaßten politischen Establishments zur Symbolfigur. Die frühere CDU-Politikerin Erika Steinbach, inzwischen Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung, verlinkte die Videosequenz am 18. Februar 2019 in einem Tweet für ihre 80.000 Follower auf Twitter, worauf die verbalen Angriffe gegen Lübcke abermals losbrachen.

Wenngleich man einräumen könnte, daß Medien und Öffentlichkeit verborgen geblieben sein mochte, welches Bedrohungspotential sich in der rechten Szene gegen Walter Lübcke aufgebaut hatte, mutet die Reaktion der ermittelnden Behörden nach dem Mord auf entsprechende Fragen von Journalisten doch eigenartig an. LKA Hessen und Staatsanwaltschaft wiesen einen solchen Verdacht als reine Spekulation zurück, welche die Ermittlungen behindere. Ein derartiges politisches Motiv sei nicht ersichtlich, und mit den Anfeindungen gegen Walter Lübcke habe der Mord nichts zu tun. Statt dessen wurden mögliche Spuren im Privatbereich, unter Protesten von Umweltschützern, aber auch ein Raubmord oder Kirmesstreit angeführt.

In einer Kehrtwende folgte am 15. Juni 2019 die Nachricht von der Festnahme eines Mannes im Kasseler Stadtteil Forstfeld, dessen DNA-Spuren am Tatort gefunden worden waren. Der Festgenommene habe einen rechtsradikalen Hintergrund. Zehn Tage später legte Stephan Ernst ein Geständnis ab, zwei Tage darauf führte er die Ermittler zu seinem Waffenversteck in einem Erddepot auf dem Betriebshof seines Arbeitgebers. Dort wurden fünf Schußwaffen, darunter die Tatwaffe gefunden. Ernst verriet das Versteck weiterer Waffen sowie die Namen derer, die sie ihm besorgt hatten. Daraufhin wurden Markus Hartmann in Kassel als mutmaßlicher Vermittler des Waffengeschäftes und Elmar J. als mutmaßlicher Lieferant verhaftet. Am 2. Juli widerrief Ernst mit einem neuen Anwalt sein Geständnis. Am 8. Januar 2020 legte er erneut ein Geständnis ab und belastete Hartmann als Todesschützen. Die Zurücknahme des ersten Geständnisses änderte jedoch an dessen juristischer Bewertung nichts, da die Aussagen umfassendes Täterwissen zeigten.

Erkenntnisse der antifaschistischen Rechercheplattform "Exif", investigativer Journalistinnen und Journalisten sowie der Linksfraktion im Hessischen Landtag ermöglichen es, ein Bild der rechtsextremen Vita von Stephan Ernst und Markus Hartmann zu zeichnen. Ernst hat im Bundeszentralregister etwa ein Dutzend Einträge wegen Kriminalität wie schwerem Diebstahl, Wohnungseinbrüchen und Ladendiebstahl sowie 37 Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund. Schon mit 15 Jahren legte er 1989 in Michelbach ein Feuer im Keller eines Mehrfamilienhauses, das mehrheitlich von Menschen türkischer Herkunft bewohnt wurde. Geahndet wurde diese Tat mit 80 Stunden gemeinnütziger Arbeit und einer Verwarnung. Mit 19 Jahren versuchte er im November 1992 mit einem Messer zum ersten Mal, einen Menschen eigenhändig zu töten. Sein türkisches Opfer konnte nur durch mehrere Notoperationen gerettet werden. Im Dezember 1993 verübte er einen Anschlag auf eine Asylbewerberunterkunft in Hohenstein-Steckenroth bei Wiesbaden. Eine selbstgebaute Rohrbombe zündete nur deswegen nicht, weil ein von ihm gelegtes Feuer rechtzeitig gelöscht werden konnte. Offensichtlich war eine Detonation während der Löscharbeiten geplant, um möglichst viele Menschen zu töten.

Erst nach diesen schweren Straftaten wurde Ernst vom Landgericht Wiesbaden am 12. Juni 1995 wegen Körperverletzung, Brandstiftung und versuchten Mordes zu der verhältnismäßig glimpflichen Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. Schon Ende 1999 wurde er aus der Haft entlassen. Danach wohnte er durchgehend in Kassel und setzte seine Karriere im harten Kern der dortigen rechtsextremen Szene fort. Im Jahr 2000 tauchte Ernst zweimal in Berichten des V-Mannes Benjamin Gärtner alias Gemüse über die "Freien Kameradschaften Kassel" auf, die dieser bei seinem V-Mann-Führer Andreas Temme ablieferte. Ernst wurde von einem Aussteiger als äußerst gefährlich beschrieben und legte ab 2001 eine Liste mit 60 Personen und Objekten an, die mögliche Anschlagsziele sein könnten.

2003 würgte er bei einer Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung in Neumünster eine Antifaschistin und wurde zu einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen zu je zehn Euro verurteilt. Im Januar 2004 demonstrierte er in Gladenbach mit Mitgliedern der verbotenen Organisation "Blood and Honour" und führte eine verbotene Waffe mit sich. Es folgten Verurteilungen wegen Beleidigung und Körperverletzung (2005) sowie Besitz verbotener Gegenstände (2006). Bei weiteren ihm zur Last gelegten Straftaten wie Brandstiftung, Totschlag, gefährlicher Körperverletzung und Raub wurden die Verfahren mangels Beweisen eingestellt.

Auch Markus Hartmann war schon als Jugendlicher in der rechtsextremen Szene aktiv. Als 17jähriger fiel er 1993 dem Verfassungsschutz auf, weil er unter anderem Szeneveranstaltungen in Mainz besuchte, wo die NSDAP-Verehrer Ursula und Curt Müller den harten Kern der militanten Szene um sich scharten. Hartmann war früh von Waffen fasziniert, trat in Schützenvereine ein, legte sich Schußwaffen zu und war im Internet als Händler bei eGun aktiv. Zusammen mit Stephan Ernst gehörte er jahrelang der gewaltbereiten Neonaziszene an und war mit ihm im "Freien Widerstand Kassel" aktiv. 2006 wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er in einer Gaststätte den Hitlergruß gezeigt und "Sieg Heil" gerufen hatte.

Wenig später war er nach dem NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel sogar kurz in den Fokus der Ermittler geraten, weil er eine Website der Behörden zu der ungeklärten Mordserie ungewöhnlich oft besucht hatte. Im Verhör begründete er dies damit, Yozgat über einen Nachbarn kennengelernt zu haben. Auf seine aktenkundigen rechtsextremen Aktivitäten wurde er nicht einmal angesprochen, und auch nach der späteren Enttarnung des NSU luden ihn die Ermittler nicht noch einmal vor. Im November 2008 ging er in Fulda mit der NPD auf die Straße. [3]

Am 14. Februar 2009 nahmen Stephan Ernst und Markus Hartmann in Dresden an einem der größten Aufmärsche der neonazistischen Szene im Nachkriegsdeutschland teil, wo sie ein Transparent "Wir vergessen nicht" der neonazistischen Kameradschaft "Freier Widerstand Kassel" trugen. Am 1. Mai 2009 beteiligten sie sich am Angriff von 400 Rechtsradikalen auf die 1.-Mai-Demonstration des DGB in Dortmund. Die Polizei konnte die Angreifer nicht stoppen und wurde überrannt, worauf die Neonazis nach ihrer äußerst brutalen Attacke randalierend durch die Innenstadt zogen und erst mittels polizeilicher Verstärkung festgesetzt werden konnten. Ernst wurde wegen Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu einer siebenmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Hartmann kam sogar ohne Strafe davon.

Wenngleich die langjährig notorische Milde von Strafverfolgung und Justiz im Umgang mit rechtsextremen Tätern sattsam bekannt ist, bleibt doch mit Zweifeln behaftet, wieso der einschlägig vorbestrafte Ernst und der ebenfalls behördlich bekannte Hartmann damals ungeschoren davonkamen. Auffällig ist, daß Stephan Ernst nach 2009 nicht mehr mit gerichtlich verfolgten Straftaten in Erscheinung getreten war, obgleich er seine Aktivitäten bruchlos fortsetzte und noch bis 2011 mit Markus Hartmann in der "Freien Kameradschaft Kassel" aktiv war. Nicht auszuschließen ist, daß Ernst angesichts einer drohenden erneuten Haftstrafe eine wie auch immer geartete Absprache mit dem Staatsschutz getroffen hat, die ihn nach offizieller Lesart erkalten ließ. Nach dem Mord an Walter Lübcke hieß es denn auch, der Tatverdächtige sei seit zehn Jahren nicht mehr in der rechtsextremen Szene aktiv gewesen und deshalb vom behördlichen Radar verschwunden.

Daß das nicht den Tatsachen entspricht, muß jedoch zumindest dem Verfassungsschutz bekannt gewesen sein, der die Kasseler Szene von innen her beobachtet hat. Nachdem das NSU-Trio im November 2011 aufgeflogen war, hielten sich die Neonazis zunächst bedeckt und organisierten sich neu. Neben den Freien Kameradschaften gewannen eine Gruppe des Netzwerks "Combat 18" und ein Kasseler Ableger der "Streetfighting Gang" um die Band "Oidoxie" aus Dortmund an Einfluß, die beide zum Unterstützernetzwerk des NSU gezählt werden. Ernst führte nach außen hin ein eher unauffälliges Familienleben und arbeitete bei einem Bahntechnikhersteller. Im Internet war er jedoch weiter in der rechtsextremen Szene aktiv.

Seit Markus Hartmann 2003 sein Arbeitskollege geworden war, wurden ihre Beziehungen enger und die Gespräche radikaler. Die Rollenverteilung der beiden war nach Einschätzung der ehemaligen Lebensgefährtin von Hartmann so, daß Ernst eher der "Macher" und Hartmann eher der "Denker" war. Ab 2014 begann Ernst, sich zu bewaffnen. Hartmann, der 15 Jahre einen Onlinewaffenhandel betrieb, vermittelte ihm zwischen 2014 und 2018 den Kauf von fünf Waffen. 2016 setzte Ernst seine rechtsextremen Aktivitäten fort, postete im Internet, spendete Geld an den "Flügel" der AfD, nahm an rechten Demonstrationen teil, kaufte die Tatwaffe und begann mit Schießtrainings.

Ab Mitte 2016 entwickelten Ernst und Hartmann nach Bewertung der Bundesanwaltschaft den Plan, einen Anschlag auf Walter Lübcke zu verüben. Beide trainierten professionell am Schießstand und blieben parallel zu den heimlichen Vorbereitungen des Mordes öffentlich aktiv. Am 1. September 2018 nahmen sie an der spektakulären Demonstration in Chemnitz teil, bei der AfD und Neonazis gemeinsam auf die Straße gingen und es zur Jagd auf Ausländer kam. Ein Foto der Plattform Exif belegt die Teilnahme der beiden und widerlegt die Behauptung der Sicherheitsbehörden, Ernst sei seit Jahren inaktiv gewesen, ebenso wie ein später vom MDR veröffentlichtes Video von der Demonstration, in dem er ebenfalls zu sehen ist. Wahrscheinlich nahm er am 23. März 2019 an einem konspirativen Treffen der international agierenden neonazistischen Terrorgruppe "Combat 18" in Sachsen teil, das der Vernetzung mit der dortigen Neonazibruderschaft "Brigade 8" dienen sollte. Da dieses Treffen nur einem exklusiven Kreis von Kadern zugänglich war, würde eine mögliche Teilnahme Ernsts darauf hindeuten, daß er zum inneren Zirkel von "Combat 18" gehörte.

Die Bundesanwaltschaft verdächtigt Stephan Ernst inzwischen auch, am 6. Januar 2016 einen Mordanschlag auf einen irakischen Asylbewerber verübt zu haben. Der Mann war von hinten mit einem Messer in den Rücken gestochen worden und hatte den Anschlag, der 2,5 Kilometer von Ernsts Wohnhaus entfernt verübt wurde, nur mit Glück überlebt. Hingegen war der Mord an Lübcke akribisch geplant. Im Mai 2019 legte Hartmann seinen Account zum Waffenverkauf still. Ernst verabredete mit einem Arbeitskollegen, ihm für die Tatnacht ein Alibi zu verschaffen. Am Tatabend schaltete er sein Smartphone aus. Kurz vor Mitternacht am 1. Juni 2019 wurde Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses mit einem Revolver erschossen. Aufgrund der kriminaltechnischen Untersuchungen gehen die Ermittler davon aus, daß ein selbst hergestelltes Projektil mit geringerer Durchschlagskraft verwendet wurde. Wenngleich bekannt ist, daß Hartmann Munition anfertigte, gibt es bislang keinen Beweis, daß er konkret in die Tatplanung eingeweiht oder gar selbst am Tatort war und geschossen hat, wie dies Ernst in seinem zweiten Geständnis erklärt hatte.

Bereits Ende 2018 hatte Hartmanns Ex-Freundin im Rahmen eines Sorgerechtsstreits das Familiengericht gewarnt, er besitze illegale Waffen wie auch Chemikalien zur Sprengstoffherstellung und stelle Munition her. Seine Gesinnung beschrieb sie als "rechtsextrem". Diese Vorwürfe leitete das Gericht offenbar nicht an die Strafverfolger weiter. Nach dem Geständnis von Stephan Ernst wurden bei der Durchsuchung von Markus Hartmanns Wohnung im Juni 2019 drei Pistolen, fünf Gewehre, mehr als 5000 Patronen wie auch Handgranatenattrappen, Luftdruckwaffen und Deko-Waffen sichergestellt. Zudem fanden die Ermittler rechtsextreme Devotionalien, unter anderem ein Feuerzeug mit der SS-Losung "Meine Ehre heißt Treue", eine antisemitische Propagandaschrift und Rechtsrock-CDs. [4]

Drei Kurz- und zwei Langwaffen waren auf Hartmanns Waffenbesitzkarten eingetragen und somit legal. Die Stadt Kassel hatte ihm zwar zunächst aufgrund seiner rechtsradikalen Aktivitäten 2007 und 2012 keinen Waffenbesitz erlaubt, aber er zog dagegen vor Gericht und bekam 2015 Recht. Dabei profitierte er davon, daß der Verfassungsschutz keine aktuellen Erkenntnisse zu ihm vorlegte. Zuletzt kontrollierte ihn die Waffenbehörde im Februar 2019 ohne Beanstandungen. Da Hartmann bei einer Rüstungsfirma gearbeitet hatte, wurde er der obligatorischen Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Dabei teilte das Polizeipräsidium Nordhessen in Kassel dem Verfassungsschutz mit, daß "keine aktuellen staatsschutzpolizeilichen Erkenntnisse" vorlägen. Die Antwort der Polizei erfolgte fünf Tage nach dem tödlichen Attentat auf Lübcke, doch wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegen Hartmann wegen Beihilfe ermittelt. [5]

Der Bundesgerichtshof geht davon aus, daß Hartmann spätestens seit Juli 2016 wußte, daß Ernst ein Attentat plante. Er habe dessen "Motive und Ziele" geteilt und ihn darin bestärkt, "das Vorhaben tatsächlich auszuführen". Beide hätten sich spätestens ab 2014 gemeinsam weiter radikalisiert und gegenseitig darin bestätigt, "zur Abwendung der aus ihrer Sicht bedenklichen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland sich bewaffnen und nunmehr aktiv werden zu müssen". Markus Hartmann ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt, für einen direkte Tatbeteiligung fand die Bundesanwaltschaft jedoch keine Beweise.

Wie jüngst bekannt wurde, fanden die Ermittler auf einem Mobiltelefon Hartmanns ein abfotografiertes Dokument der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung, das als "Verschlusssache - nur für den Dienstgebrauch" eingestuft war. Wie Hartmann in den Besitz einer Schulungsunterlage zur Polizistenausbildung, in der es um Fahndungen in Fällen "terroristischer Gewaltkriminalität von bundesweiter Bedeutung" ging, gekommen ist, konnte bislang nicht geklärt werden. [6] Daß Stephan Ernst mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet haben könnte, wird sowohl vom Landesamt selbst, von dessen Dienstherrn Innenministerium und auch von der Bundesanwaltschaft entschieden verneint. Bei Markus Hartmann sieht das etwas anders aus. Als die entsprechende Frage im Januar 2020 im Innenausschuß des hessischen Landtags an eine Vertreterin der Bundesanwaltschaft gerichtet wurde, erklärte sie, sie sei nicht befugt, darüber Auskunft zu geben.

Nach dem Mord an Walter Lübcke wurden Forderungen laut, die für 120 Jahre verschlossene NSU-Verfassungsschutzakte zumindest für parlamentarische Gremien offenzulegen. Die einzige Maßnahme der hessischen Landesregierung war jedoch, die Sperrfrist auf 30 Jahre zu verkürzen. Nun will ein Untersuchungsausschuß im Landtag der Frage nachgehen, ob es in Kassel eine Zelle des NSU gegeben hat, ob die beiden Angeklagten dieser Zelle angehörten und ob Beamte des Verfassungsschutzes und der Polizei zu Unterstützern dieser möglichen Untergrundstruktur gehörten.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/ein-jahr-nach-mord-an-walter-luebcke-zaesur-in-der.2897.de.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/377228.prozess-gegen-rechtsterroristen-tödliche-ignoranz.html

[3] www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-03/mordfall-walter-luebcke-markus-h-rechtsextremismus-festnahme

[4] www.tagesschau.de/investigativ/ndr/mord-luebcke-helfer-101.html

[5] www.jungewelt.de/artikel/375676.mordfall-lübcke-sicherheitsüberprüfung-bestanden.html

[6] www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/walter-luebcke-mord-ermittlungen-mordhelfer-markus-h-vertrauliche-polizeiunterlagen

2. Juni 2020


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