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REPRESSION/1706: Dortmund - rechte Szene wächst an ... (SB)



Machtdemonstration, Überfälle und Mordanschläge: Der Dortmunder Stadtteil Dorstfeld ist eine Hochburg der rechtsextremen Szene und ein Beispiel dafür, was passiert, wenn Politik und Zivilgesellschaft dem rechten Treiben nicht von Anfang an entschlossen begegnen.
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Dortmund gilt als Hochburg der rechtsextremen Szene in Westdeutschland, die sich in den Stadtteilen Dorstfeld und Marten seit langem eingenistet hat. Dieses Milieu ist geradezu ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn Politik, Polizei und Geheimdienst dem rechten Treiben nicht entschlossen begegnen, es tolerieren und mutmaßlich sogar instrumentalisieren. Was über viele Jahre nur von der linken Antifa aufmerksam verfolgt, dokumentiert und auf der Straße konfrontiert wurde, wird heute auch vom medialen Mainstream wahrgenommen und kritisch kommentiert. Daß der Sicherheitsstaat inzwischen auch in dieser Richtung seine Krallen ausfährt und die extreme Rechte über das Gewaltmonopol lektioniert, hängt jedoch weniger damit zusammen, daß sich der Wind tatsächlich gedreht hätte. Vielmehr gebietet die Staatsräson, angesichts kaum noch zu verschleiernder Verstrickungen des Sicherheitsapparats in rechtsextreme Umtriebe nach Kräften weißzuwaschen, um das Vertrauen der Mehrheitsgesellschaft in den Staatsschutz nicht nur wiederherzustellen, sondern angesichts hereinbrechender Krisen als vermeintlichen Rettungsschirm festzuschweißen. Die weithin durchgesetzte Formel, es habe sich im Falle des NSU, des Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt oder des Lübcke-Mords um eklatantes Behördenversagen gehandelt, dem durch effektivere Geheimdienste und Polizeien wie auch deren Engführung zu begegnen sei, bricht einem Szenario Bahn, das selbst rechtsextreme Machtphantasien in den Schatten zu stellen droht.

Exemplarisch für die Umtriebe in Dortmund waren zwei angemeldete Demonstrationen von Rechtsextremisten, die im September 2018 mit bis zu hundert Teilnehmern durch die Stadtteile Dorstfeld und Marten zogen. Unter Reichsflaggen skandierten sie lautstark: "Wer Deutschland liebt, ist Antisemit!" In einem anderen Video des Umzugs ist zu sehen, wie Demonstranten zwischen zwei Häusern auf einer Garage Pyrotechnik abbrennen. Wie Augenzeugen berichteten, sei es zu keinen gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen, doch habe man die Polizei als deutlich unterrepräsentiert wahrgenommen. Diese rechtfertigte sich nachträglich damit, daß sie vor Gericht mit dem Versuch gescheitert sei, die beiden Aufmärsche verbieten zu lassen, und angemessen präsent gewesen sei. Sind demnach selbst antisemitische Hetzparolen von der Meinungsfreiheit gedeckt, so daß sie keine Handhabe zum Eingreifen bieten?

Wenngleich der harte Kern der Dortmunder Neonazi-Szene kaum mehr als 50 Personen umfassen dürfte, hat er sich doch in den vergangenen dreißig Jahren hervorragend vernetzt und versteht es, schnell und umfassend zu mobilisieren wie auch regelmäßig mit Provokationen oder gar Gewalttaten in die Medien zu kommen. Im November 2014 sorgte ein Vertreter der Partei "Die Rechte" im Dortmunder Stadtrat für internationale Schlagzeilen, als er die Stadtverwaltung aufforderte, die Juden in Dortmund zählen zu lassen. Der antisemitische Antrag wurde begleitet von ähnlichen Anfragen, die sich etwa auf die Anzahl von HIV-erkrankten Menschen in der Stadt oder Adressen von engagierten Lokalpolitikern bezogen. Bereits im Mai 2014 hatten am Abend der Kommunalwahl rund 30 Neonazis zum gewaltsamen Sturm auf das Rathaus angesetzt, um den Einzug ihres Spitzenkandidaten Siegfried Borchardt in den Stadtrat medienwirksam zu flankieren.

Siegfried Borchardt, weithin als "SS-Siggi" bekannt, wenngleich er persönlich "SA-Siggi" vorzieht, war in den 80er Jahren Anführer des rechten Hooligan-Zusammenschlusses "Borussenfront", der in der Dortmunder Nordstadt Jagd auf Migranten und andere Minderheiten machte. Er galt als zentrale Figur dieser Szene, da er zahlreiche neonazistische Organisationen gründete und enge Kontakte zu Michael Kühnen unterhielt, mit dem er schließlich die "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) unterwanderte und sie zu einer militanten rechtsextremen Kleinpartei umformte. Stets gab es Verflechtungen im Umfeld, und so mischten FAP-Mitglieder bei der Borussenfront mit, die wiederum als Saalschutz für Veranstaltungen der NPD diente. Borchardt verbüßte mehrere kurze Haftstrafen, kehrte aber jeweils um so aktiver zurück. Als die FAP 1995 verboten wurde, baute er die "Kameradschaft Dortmund" auf, deren Mitglieder abermals Jagd auf politische Gegner und Minderheiten machten.

Am 14. Juni 2000 erschoß der Dortmunder Neonazi Michael Berger die beiden Polizisten Thomas Goretzky und Matthias Larisch-von-Woitowitz sowie die Polizistin Yvonne Hachtkemper und anschließend sich selbst. Bis heute gilt der menschenverachtende Spruch "Berger war ein Freund von uns! 3:1 für Deutschland" als Bezugspunkt für die extreme Rechte in der Stadt. Borchardt vernetzte sich deutschlandweit und machte ab 2003 den Weg für die "Autonomen Nationalisten" (AN) frei, aus deren Kreisen ab 2005 der "Nationale Widerstand Dortmund" (NWDO) hervorging. Die beiden Neonazis Christian Worch und Thomas Wulff hatten in Reaktion auf die Verbote rechtsextremer Organisationen mit der Bildung "Freier Kameradschaften" reagiert, die als autonome und regionale Kleinstgruppen operierten. Bei den AN handelte es sich um zumeist junge, äußerst gewaltbereite Neonazis, die sich in Erscheinungsbild und Auftreten an linken Autonomen orientierten.

Zahlreiche Neonazis zogen nach Dortmund, gründeten Wohngemeinschaften und bauten Strukturen auf. Im "Nationalen Zentrum" in Dorstfeld fanden Treffen, Schulungen und Vorträge statt. Der Informatikstudent Dennis Giemsch betrieb den Online-Versand "Resistore", der seit dem Verbot des NWDO von Michael Brück unter dem Namen "Antisem Versand" bis heute weitergeführt wird. Giemsch nutzte das Internet intensiv zur Mobilisierung, die zeitweise bis zu 1.800 Anhänger aus ganz Europa nach Dortmund brachte. Am 28. März 2005 erstach der 17jährige Neonazi Sven Kahlin den Punker Thomas Schulz an der U-Bahn-Haltestelle Kampstraße. Schon kurz nach der Tat verhöhnten Neonazis das Opfer und erklärten: "Die Machtfrage wurde gestellt und für uns befriedigend beantwortet: Dortmund ist unsere Stadt." Am 4. April 2006 ermordete der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU) den Kioskbesitzer Mehmet Kubasik, wobei Dortmunder Neonazis nachweislich intensive Kontakte zum Umfeld des NSU unterhielten. Im Ruhrgebiet existierte eine Zelle von "Combat 18", dem besonders militanten Flügel des schon damals in Deutschland verbotenen "Blood & Honour"-Netzwerkes.

Der NWDO machte weiter durch Einschüchterung und brutale Überfälle auf alternative Kneipen und Büros von Abgeordneten der Grünen und der Linkspartei von sich reden. Die Polizei zeigte sich überfordert und reagierte auffallend verhalten. Am 1. Mai 2009 überfielen mehrere hundert Neonazis eine DGB-Veranstaltung, 2011 bekam Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) einen Tag vor Heiligabend einen bedrohlichen Weihnachtsbesuch, im August 2012 rotteten sich Neonazis vor der Wohnung eines mutmaßlichen Sexualstraftäters zusammen. Nach dem Verbot des NWDO im selben Monat gründeten Dennis Giemsch, Michael Brück und Siegfried Borchardt einen neuen Landesverband der neonazistischen Kleinstpartei "Die Rechte", die Christian Worch in Hamburg gegründet hatte. Diese rief in den folgenden Jahren zu diversen Aufmärschen auf und brachte am 25. Mai 2014 Siegfried Borchardt in den Stadtrat. Daß NPD und DR nicht mehr Stimmen auf sich vereinten als zuvor die NPD allein, lag vermutlich an der AfD, die 3,4 Prozent verbuchen konnte.

Borcherts Platz übernahm später Dennis Giemsch, und bereits im August 2014 startete DR den "Stadtschutz Dortmund", eine rechtsextreme Bürgerwehr, die nach dem Vorbild der SA, nur in gelben Hemden, durch die Straßen patrouillierte und auf vermeintliche "Verbrecherjagd" ging. Neonazis versuchten weiterhin, Bürgerversammlungen zu sprengen, tätliche Angriffe und bedrohliche Hausbesuche nahmen zu, Michael Brück zog seit Anfang 2015 bei "Mahnwachen" gegen angeblichen Asylmißbrauch zu Felde und übernahm im April das Mandat von Giemsch. Am 4. Juni 2016 marschierten fast 1.000 Neonazis von Dorstfeld nach Huckarde, und bei der Landtagswahl am 14. Mai 2017 konnte Siegfried Borchardt als Direktkandidat im Wahlkreis Dortmund II rund 1.000 Stimmen (2 Prozent) auf sich vereinen. Wenngleich die Mobilisierung nicht weiter zugenommen hat, bildet das Netzwerk der DR einen Kristallisationspunkt für Neonazis aus ganz NRW. Sie führen kleinere Kundgebungen und Aufmärsche durch, tun sich auch in internationalen Netzwerken um und sind Teil neuer vermischter Szenen im rechten Umfeld.

Wenngleich die Kader aus verschiedenen Gründen wie etwa der parlamentarischen Präsenz rechter Parteien, aber auch einer gewachsenen Gegenöffentlichkeit tendentiell gebremst worden sind, haben ihre Aggressionen nicht abgekommen. Dies zeigt die Palette verhängter Haftstrafen, welche die Reihen in Dorstfeld doch etwas dezimiert haben. Vor wenigen Tagen hat das Dortmunder Landgericht mit Sascha Krolzig einen führenden Kopf der Neonazi-Szene zu einer Haftstrafe verurteilt. Der Bundesvorsitzende der rechtsextremen Splitterpartei "Die Rechte" muß für ein Jahr und drei Monate ins Gefängnis. Er ist für drei Taten verurteilt worden: In Dortmund hatte er im Dezember 2016 Kneipengäste rassistisch beleidigt und versucht, sie anzugreifen. Außerdem hatte er den Hitlergruß gezeigt. In Bielefeld war Krolzig bereits rechtskräftig wegen Volksverhetzung verurteilt worden. Die Taten wurden jetzt zu einer Gesamtstrafe zusammengefaßt. Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft beantragt, eine alte Strafe, die auf Bewährung ausgesetzt worden war, zu widerrufen. Damit drohen dem Rechtsextremisten noch weitere Monate in Haft. [2]

Im November 2019 mußte Christoph D., Vorstandsmitglied der Partei "Die Rechte", eine Haftstrafe von dreizehn Monaten antreten. Er hatte im Juli 2015 bei einer Versammlung volksverhetzende Aussagen getätigt. Siegfried Borchardt hatte kurz zuvor eine Haftstrafe von vier Monaten wegen Beleidigung von Polizeibeamten im Jahr 2018 abgesessen. Gegen ihn liefen weitere Ermittlungen nach einer gefährlichen Körperverletzung an einer Bahn-Haltestelle im September 2019. Steven F., der mehrere Gewalttaten und weitere Straftaten gegen einen jüdischen Bürger begangen hatte, befindet sich seit September 2018 für zwei Jahre und drei Monate in Haft. Einer weiteren Führungsfigur, Matthias D., wurden unter anderem gefährliche Körperverletzung und Bedrohung vorgeworfen. Gegen acht Personen ist darüber hinaus Anklage beim Landgericht Dortmund erhoben worden. Ihnen wird unter anderem vorgeworfen, am 21. September 2018 durch das Skandieren der antisemitischen Parole "Wer Deutschland liebt, ist Antisemit" Volksverhetzung begangen zu haben. [3]

Wie die Dortmunder Polizei geltend macht, sei seit Einrichtung ihrer "Sonderkommission Rechts" im Jahr 2015 die Zahl rechtsextremistischer Straftaten um circa 40 Prozent gesunken. Allerdings kann die brachiale Rezeptur, auf eine polizeiliche Drohkulisse zu setzen, durchaus nach hinten losgehen. So hat die örtliche Polizei jüngst eine herbe Niederlage bezogen, da sich Bewohner des sogenannten Nazis-Kiezes in Dorstfeld vor Gericht erfolgreich gegen eine geplante Videoüberwachung gewehrt haben, was ihnen nun Gelegenheit gibt, sich als Opfer zu inszenieren.

Die Pläne sahen vor, die Emscherstraße, in der mehrere Häuser komplett von Neonazis bewohnt werden, mit Kameras zu überwachen. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen räumte zwar ein, daß es ein berechtigtes Anliegen der Polizei sei, der Schaffung sogenannter Angsträume zu begegnen. Die polizeirechtlichen Voraussetzungen für eine Videoüberwachung gäben das jedoch in diesem Fall nicht her, weil es nicht gelungen sei zu belegen, daß es sich im Vergleich zu anderen Stadtteilen um einen Kriminalitätsschwerpunkt handelt. Und die Kammer habe auch keine belastbaren Unterlagen dafür gesehen, daß dort erhebliche Straftaten drohen.

Das ist Wasser auf die Mühlen der dort wohnenden Rechtsextremisten. Der zu den Klägern gehörende Michael Brück erklärt denn auch unverhohlen: "Propagandistisch ist es für uns gut, das auszuschlachten, dass wir sagen können: Seht ihr, der Staat überwacht hier eine Nebenstraße mit Kameras, während wir Stadtteile haben, wo wirklich massive Straftaten begangen werden, wo überhaupt keine Überwachung stattfindet." Das Urteil bestätige, daß die Straße kein Hotspot sei, weil es dort kaum Kriminalität gebe. Da die Polizei ohnehin dabei sei, Videoüberwachungen in der Stadt einzurichten, habe man gezielt die Partei "Die Rechte" in Dorstfeld aufs Korn genommen. Jasper Prigge, Rechtsanwalt mit Sitz im Landesvorstand der Linkspartei, spricht von einem fahrlässigen Versuch, der die rechte Szene bestärke. Lege die Polizei keine konkret begangenen Straftaten und keine dezidierte Gefahrenprognose vor, gäben die Rechtsgrundlagen keine Videoüberwachung her. Dann sei vor Gericht eine Niederlage vorprogrammiert. [4]

Die Kontroverse um die Wirksamkeit polizeilicher Maßnahmen sollte ohnehin nicht zu dem Eigentor verleiten, verschärfte Maßnahmen der Staatsgewalt per se gutzuheißen, nur weil sie sich hier nicht gegen die radikale Linke, sondern gegen rechtsextremistische Umtriebe richten. Dortmund ist nach mehr als dreißig Jahren rechtsextremer Kontinuität ein erschreckendes Beispiel für von Neonazis geschaffene Angsträume, in denen sie ein Klima der Bedrohung verbreiten können. Dagegen wurde jedoch in den vergangenen Jahren eine engagierte Netzwerkstruktur entwickelt, die ausdauernd und mit wachsendem Erfolg gegen Neonazis zu Felde zieht.


Fußnoten:

[1] www.belltower.news/artikel/kontinuitaet-des-hasses-dortmund-teil-313263

[2] www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/neonazi-dortmund-haft-verurteilt-100.html

[3] www.ruhrnachrichten.de/dortmund/so-kriminell-sind-die-neonazis-in-dortmund-1472842.html

[4] www.deutschlandfunk.de/klage-gegen-videoueberwachung-erfolg-fuer-dortmunds.862.de.html

5. Juni 2020


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