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KULTUR/0796: Ich-AGs in der Heldenmaschine ... wider Leistungswahn und Konkurrenz (SB)



Die inflationäre Explosion von Weltrekorden im Schwimmsport hat den Ruf nach regulativen Eingriffen in die Ausrüstung der Sportler laut werden lassen. Insbesondere die Halter nun massenhaft überwundener Bestleistungen klagen darüber, daß die Vergleichsgrundlage aufgrund neuer Bedingungen obsolet geworden wäre. Die zeitliche Distanz, die es zum Überwinden einer Strecke bedarf, schrumpft nicht nur aufgrund der genuinen Anstrengung der Schwimmer, sondern wird mit dem Mittel des technischen Fortschritts, der ihnen besonders wasserwiderstandsarme, auftriebsintensive und den Bewegungsverlauf elastisch unterstützende Anzüge bescherte, auf unter vorherigen Bedingungen nicht zu erreichende Kürze zusammengepreßt.

Sportliche Wettbewerbe erfreuen sich beim Publikum auch deshalb großer Beliebtheit, weil der eigenständigen Erarbeitung physischer wie psychischer Leistungsfähigkeit im Verhältnis zu unverdienten Formen der Bevorteilung ein hochgradiger Anteil am Erfolg zugeschrieben wird. Übertragen auf die Leitdoktrin neoliberaler Marktwirtschaft wird in der Person des Leistungsportlers die Forderung nach Selbstoptimierung auf eine Weise idealisiert, die erklärt, wieso dieser Bereich der Unterhaltungsindustrie so unbestrittene Ergebnisse systemkonformer Legitimation produziert. Im Leistungssport fallen liberale Individualisierungideologie und marktwirtschaftlicher Sozialdarwinismus auf perfekte Weise in eins. Der Wettbewerb produziert, wiewohl maximal reguliert, Helden der persönlichen Selbstüberwindung und Einsatzbereitschaft am Band. Die technische Angleichung ihrer Trainingsmethoden und die Uniformität ihres Auftretens stehen dazu nicht im Widerspruch, wird dem Sieger doch eine persönliche Leistungsbilanz und biografische Unverwechselbarkeit gutgeschrieben, die ihn zum Herren über sein Schicksal zu machen scheint.

In dem beim Weltschwimmverband FINA bereits auf Resonanz gestoßenen Ruf nach Abschaffung der Hochleistungsanzüge wird ein Dilemma manifest, das der Masse der gesellschaftlichen Verlierer längst auf schmerzhafte Weise bewußt ist. Ihre für die profitable Verwertung nicht mehr benötigte Existenz wird durch die Bezichtigung in Frage gestellt, aufgrund eigenen Versagens schuld an ihrer desolaten Lage zu sein. Wiewohl der Abgleich zwischen sozialökonomischen Faktoren - hohe Arbeitslosigkeit, ungenügende Ausbildungsmöglichkeiten, Diskriminierung des Alters, des Geschlechts, der Hautfarbe, des sozialen Habitus - auf der einen und der Person zugeschlagenen Defiziten - ungenügende Leistungsbereitschaft, indolente Lebensführung, bornierter Widerstand gegen die Anforderungen der Modernisierung, Flexibilisierung und Globalisierung - auf der anderen Seite unschwer ein gesellschaftliches Gewaltverhältnis erkennen läßt, nehmen die Verlierer ihr vermeintliches Schicksal in der Hoffnung, durch klaglose Subordination der materiellen und sozialen Anerkennung doch noch habhaft zu werden, meist widerspruchslos auf sich.

Dem arbeitet nicht zuletzt die medial inszenierte Heldenmaschine des Sports zu, suggeriert sie doch, daß disziplinierte und harte Arbeit im Rahmen gegebener Regeln und Parameter ein unschlagbares Erfolgsrezept ist. Nun zeigt sich nicht nur im Schwimmsport, sondern in fast allen Wettkampfdisziplinen, daß die unter großen Mühen und Entbehrungen erarbeitete Höchstleistung nur mit Hilfe einer technischen Rationalisierung zum Sieg führt, die den Schlüssel zu diesem in die Hände der Sportwissenschaftler, der Ausrüster und Verbandsfunktionäre legt. Ohne bereitwillige Adaption dieser Produktionsbedingungen lassen sich nicht nur keine Siege erringen, ihre Mißachtung etwa durch die Einnahme verbotener leistungssteigernder Substanzen mündet geradewegs in das Gegenteil der erhofften Anerkennung, in den Spießrutenlauf öffentlicher Verurteilung und in ein Dasein als Paria des Leistungsethos.

Äquivalent zu den von Optimierungsforderungen getriebenen, sich dem Diktum des "lebenslangen Lernens" gemäß auf den Leisten fremden Nutznießes spannenden Ich-AGs erweist sich der Heros des Sports als Lohn einer Unterwerfung, die das gefeierte Individuum als austauschbares Partikel des gesellschaftlichen Verwertungszusammenhangs erkennen läßt. In einem Bereich, in dem der Körper als Produzent und Produkt, als Mittel und Zweck der ihm abverlangten Höchstleistung in Erscheinung tritt, wird seine Zurichtung auf das Gardemaß des Homo oeconomicus um so rücksichtsloser betrieben. Die vielbeschworene Vorbildfunktion des Sportlers gipfelt in besonders strikten Formen seiner Maßregelung, wie der gegen leistungsstarke Athleten präventiv erhobene Generalverdacht des Doping und die öffentliche Anprangerung überführter Täter zeigen.

Die Zurücknahme des apparativen Aufwands im Schwimmsport wie die Kriminalisierung des pharmazeutischen Leistungsexzesses sind denn auch dem Versuch gewidmet, über die keine Faser und Funktion seines Bioorganismus auslassende Modellierung des Sportlers zu einem universal verfügbaren Komplex biomechanischer Kraftakkumulatoren, physiologischer Normwerte und motivationspsychologischer Dispositionen hinwegzutäuschen. Es geht nicht um die postulierte Objektivität des Leistungsvergleichs, ist der Widerspruch zwischen beanspruchter Gleichheit der Ausgangsbedingungen und Differenz im Ergebnis doch wie im gesamtgesellschaftlichen Rahmen, in dem Gleichheit auf der Basis gravierender Klassenunterschiede suggeriert wird, nur dadurch zu lösen, daß man materielle Ungleichheit in gewissem Maße in Kauf nimmt oder aber die Vergleichbarkeit von Menschen grundsätzlich bestreitet.

Wenn der zur Identitätstiftung dienende Wettkampfsport seine Akteure in ein Prokrustesbett kommerzieller und industrieller Interessen zwängt, so daß sie von virtuellen Akteuren aus der Welt der PC-Spiele ununterscheidbar werden, droht der wesentliche Zweck des athletischen Spektakels, die Schaffung positiver Identifikationsangebote und die damit betriebene gesellschaftliche Befriedung, in sein Gegenteil, den Aufbruch zu autonomen, vom gnadenlosen Zwang der Konkurrenz und dem menschenfeindlichen Primat wissenschaftlich-industrieller Verdinglichung befreiten Formen gesellschaftlicher Praxis umzuschlagen.

Letzteres könnte alle, die in Fabrik und Büro, als Jobber und Erwerbslose, als Verbraucher und Verbrauchte ihre Pflicht für Produktion und Reproduktion erfüllen, von der Bürde in vorauseilender Zustimmung akzeptierter und als Ausdruck des eigenen Willens larvierter Zwänge befreien. Was im Wettkampfsport als Schaufenster der normativen Vergewisserung herrschender Werte zelebriert wird, findet seinen Niederschlag in der alltäglichen Angst, den Ansprüchen anderer nicht zu genügen. Ob der Widerspruch rauborientierter Menschheitsentwicklung, wie die neoliberale Leitdoktrin glauben macht, als finaler sozialdarwinistischer Entwurf gesellschaftlich zementiert werden muß oder ob darüber hinausweisende Möglichkeiten solidarischer Lebenspraxis entwickelt werden können, ist keine Frage der Wahl zwischen Cola und Pepsi, sondern wurde durch den, der sie stellt, längst beantwortet.

31. Juli 2009