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KULTUR/0830: Elisabeth Noelle-Neumann ... Meinungsforschung - Konsensproduktion (SB)



Mit Elisabeth Noelle-Neumann ist auch ein Stück alte BRD gestorben. Die Grande Dame der deutschen Demoskopie war mit ihrer von Nähe zu den Machthabern nicht unbefleckten Vergangenheit im NS-Staat, mit ihrem Bekenntnis zum Ordoliberalismus Ludwig Erhards, ihrer Rolle als Beraterin Konrad Adenauers und Freundschaft mit Helmut Kohl eine herausragende Erscheinung bundesrepublikanischer Funktionseliten. Fest im liberalkonservativen Mainstream verankert hielt die langjährige Chefin des Instituts für Demoskopie (IfD) bis an das Ende ihres 93jährigen Lebens an einer tiefsitzenden Abneigung gegen die radikale Linke fest, so daß deren Niedergang sie mit großer Befriedigung erfüllt haben dürfte.

Seit die bekannteste deutsche Kommunikationswissenschaftlerin am 8. Mai 1947 in dem kleinen Dorf in Allensbach am Bodensee ihre Arbeit aufnahm, steht ihr Name nicht nur für die Erforschung des Numinosums "Meinung", sondern auch für dessen Prägung. Nicht zuletzt Bundeskanzler Kohl, der Noelle-Neumann in seine Wahlkampfkommission berief, präsentierte in seinen Verlautbarungen zur Lage der Nation unverkennbare Allensbacher Wahrheiten. Was der Bevölkerung als Ratschluß der demoskopischen Auguren mitgeteilt wurde, resultierte zwar aus den Ergebnissen statistischer Erhebungen, doch ist deren Zustandekommen und Rückkopplungswirkung bis heute Anlaß zur Kritik an der Demoskopie als einem unlauteren Mittel der Meinungsmanipulation.

So war der Einfluß, den die Allensbacher Prognosen auf parlamentarische Wahlen nahm, immer wieder Gegenstand erregter Debatten. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg im März 1996 erlebte das IfD sein Waterloo, hatte es der Partei der Republikaner acht bis zehn Tage vor dem Urnengang doch 4,5 Prozent voraussichtlicher Wählerstimmen zugesprochen, die verrufene Schönhuber-Truppe kam jedoch auf 9,1 Prozent und konnte es sich erlauben, die Meinungsforscher mit dem Vorwurf absichtlicher Manipulation zu belegen. Eine Prognose, die einen halben Prozentpunkt unterhalb der Fünf-Prozent-Sperrklausel liegt, kann potentielle Wähler einer kleinen Partei dazu veranlassen, ihre Stimme einer der großen Parteien zu geben, anstatt sie durch das Scheitern der eigenen Favoriten am sogenannten kleinen Parteiverbot im Limbus ausgegrenzter politischer Minderheiten verschwinden zu lassen. Wahlprognosen im unmittelbaren Umfeld der Sperrklausel können wie eine Wahlempfehlung wirken, und da das Institut der in Baden-Württemberg damals unter dem Stimmenzuwachs der Republikaner leidenden CDU politisch verbunden war, bestand einiger Erklärungsbedarf.

Auch die Geschichte Heiner Dorrochs, der 19 Jahre lang unter falschem Namen Mitarbeiter mehrerer Meinungsforschungsinstitute war und seine Erlebnisse beim Fälschen von Fragebögen 1994 in dem Buch "Der Meinungsmacher-Report" veröffentlichte, trug nicht zum Renommee der Allensbacher und anderer Demoskopen bei. Besonders die sogenannte "Sonntagsfrage", bei der die Stimmabgabe einer hypothetischen Wahl ermittelt wird, geriet Dorroch zur schnell erledigten Globaleinschätzung, die sich nicht einmal signifikant von tatsächlich durchgeführten Umfrageergebnissen unterschied:

"Ich wich auch hier nicht von meinem bewährten Muster für derartige Umfragen ab. Für Ruhrgebietsstädte etwa 60 Prozent SPD, 30 Prozent CDU, 5 Prozent FDP, 5 Prozent Die Grünen. In Westfalen notierte ich dagegen 60 Prozent für die CDU und 30 Prozent für die SPD. FDP und die Grünen hatten bei mir in der ganzen Republik Einheitswerte. Wenn ich nach einer Wahl dann die Zeitung aufschlug, konnte ich mit meinen Prognosen zufrieden sein. Sie deckten sich immer recht gut mit den realen Wahlergebnissen."
(Deutschlandfunk, 08.05.1997)

Die mißtrauisch beäugte Auswirkung der "Volkschau", so die deutsche Bedeutung von "Demoskopie", auf Wahlen in Bund und Ländern läßt allerdings auch die Frage aufkommen, in welchem Bereich der politischen Meinungs- und Willensbildung keine Manipulation im Wortsinne der von "Hand" (lt. Manus) gesteuerten "Fertigung" (lt. polire) stattfindet. Da die Entscheidungsbasis des einzelnen Bürgers neben seinen persönlichen Erfahrungen auf dem Studium der diversen Medien, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten nur bedingt als unabhängig gelten können, und den Verlautbarungen der politischen Repräsentanten, die viele Gründe haben, nicht am eigenen Ast zu sägen, beruht, läßt sich kaum ein Bereich der politischen Meinungsbildung ausmachen, der nicht von Sichtweisen dominiert wird, die von Partikularinteressen durchdrungen, symbolisch verklärt, faktisch verzerrt und ideologisch gewichtet sind.

Persönliche Meinungen erscheinen als höchst flüchtiges, von sozialen Zwängen, Orientierungsnöten, Hoffnungen und Wünschen dominiertes Gut, wie auch die Etymologie des Verbs "meinen" zeigt, das auf "Wunsch, Verlangen" basiert und, weiter zu "gewinnen" zurückgeführt, die zugrundeliegende Absicht dokumentiert. Als im demoskopischen Sinne als mehrheitlicher Trend ausgewiesene Meinungen werden zudem von dem Interesse bestimmt, sich der vermeintlichen Stärke der Mehrheit und des allgemein anerkannten Konsenses zu versichern, um frühzeitig auf der Seite des Stärkeren und voraussichtlichen Siegers zu stehen.

Nicht umsonst wird bei abweichenden Tendenzen von Minderheiten- oder Außenseitermeinungen gesprochen. Verwertbar für die Zwecke von Politik und Wirtschaft ist der dominante Trend der Mehrheit, während radikalen Minderheiten Maßnahmen stigmatisierender bis repressiver Art drohen, um zu verhindern, daß sie Meinungsumschwünge bewirken, die nicht im Interesse der Herrschenden sind. Dem zugestandenen Gut der Meinungsfreiheit sind Grenzen gesetzt, die sich nicht erst dann zeigen, wenn Polizei und Staatsanwaltschaft an die Redaktionstür klopfen, sondern schon im Vorfeld durch Unterwerfung des einzelnen Journalisten unter den karriereopportunen Mainstream, durch Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks oder eng an die Interessen der Verlagsleitungen angebundene Chefredaktionen wirksam werden.

Die Fragen der Demoskopen wiederum teilen das Feld zu erforschender Einstellungen in eine begrenzte Anzahl von Optionen auf, während nicht darin enthaltenen Ansichten unter Kategorien wie "Keine Meinung" für irrelevant erklärt werden. In einem gewissen Maße determiniert die Fragestellung die empirische Wirklichkeit, indem sie selektiert und die Aufmerksamkeit des Befragten auf bestimmte Themen und Sichtweisen richtet. Dennoch werden die Antworten als eigenständige, von der Befragung unabhängig entstandene Meinung ausgewiesen. Selbst wenn man einwendet, daß die Befragten doch in den präsentierten Polaritäten und Bewertungen denken, so beziehen sie diese Kategorien aus dem Geflecht einer interessengebundenen Bildungs- und Medienkultur, deren angebliche Wertfreiheit dem "Verblendungszusammenhang" immanent ist, um ein Wort des bei Noelle-Neumann besonders verhaßten Theodor W. Adorno zu verwenden.

So führte die "Pythia vom Bodensee", die einst die Feder für das NS-Blatt "Das Reich" schwang und auch dadurch nicht zur Widerstandskämpferin wurde, daß sie nach einem Pressegerichtsverfahren wegen eines Artikels über dienstverpflichtete Arbeiterinnen 1943 zur Frankfurter Zeitung wechseln mußte, 1987 eine Untersuchung zum Gemütszustand der Deutschen durch, die im Ergebnis allgemeiner Depression aufgrund mangelnden Nationalstolzes resultierte. Bei der Qualifikation des zentralen Begriffes "Stolz" zeigte Noelle-Neumann, daß auch ein "Bauchgefühl" zur angeblich wissenschaftlichen Präzision beitragen kann:

"Wir stellen fest, und zwar seit 1970, daß die Deutschen bei der Frage 'Sind sie stolz darauf, ein Deutscher zu sein?' innerhalb der inzwischen 37 Länder der Welt, denen diese Frage vorgelegt worden ist, das Schlußlicht bilden. Und nun vergleichen wir diejenigen Menschen, die sagen, daß sie stolz sind auf ihre Nationalität, in ihren anderen Fragen, zum Beispiel in ihrer Frage 'Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden?' oder 'Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden?'. Stolz auf die eigene Nation ist unmittelbar immer häufiger zu finden bei Menschen, die auch stolz auf ihre Kinder sind oder die stolz auf ihre Familie sind oder die stolz auf ihre Arbeit sind. Stolz scheint eine irgendwie warme Eigenschaft zu sein."
(Deutschlandfunk, 08.05.1997)

Stellt man angesichts solcher Mutmaßungen den Einfluß von Umfrageergebnissen in Rechnung, deren Autoren aufgrund der Meinung einer repräsentativen Gruppe von ein- bis zweitausend Personen zu Schlußfolgerungen aller Art gelangen, kann der suggestive Charakter des Demoskopengeschäfts nicht bestritten werden. In einer repräsentativen Demokratie, in der Entscheidungen weitgehend abgekoppelt von der Masse der Bevölkerung gefällt und im Zweifelsfall mit Fraktionszwang durchgesetzt werden, stellen repräsentative Umfragen alles andere als ein nur diagnostisches Werkzeug der Politikberatung dar. Sie fungieren als Element der Steuerung sozialer Prozesse, indem sie den dominierenden Konsens verstärken und, mit empirischer Gültigkeit versehen, die Bewertungsgrundlage für legislative und exekutive Prozesse liefern, an deren Ende mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen konkrete Macht ausgeübt wird.

Die Gültigkeit einer auf handhabbare Größe heruntergebrochenen Repräsentativgesellschaft als Wissensressource der Funktionseliten verallgemeinert Individuen auf eine Weise, die eher formiert denn differenziert. Dem liegt ein Menschenbild zugrunde, dessen elitäres Selbstverständnis wie im Falle Noelle-Neumanns nicht vor biologistischen Erklärungsmodellen zurückschreckt. So trat sie der Kritik am herrschaftsichernden Charakter der Demoskopie mit dem Argument entgegen, daß die Menschen laut den Erkenntnissen der Hirnforschung kaum in der Lage seien, mit dem dabei produzierten Zahlenwerk etwas anzufangen. 90 Prozent der Menschen hätten gar nicht die neuronalen Strukturen entwickelt, um abstrakte Inhalte wie Zahlen aufzunehmen, sprich um auf eine Weise wie ihresgleichen abstrakt zu denken.

Als Produkt einer auch im NS-Staat, in dem Noelle-Neumann 1940 ihre Dissertation "Meinungs- und Massenforschung in USA" veröffentlichte, geförderten Sozialwissenschaft hat sich die Demoskopie als integrer Teil welcher Herrschaft auch immer bewährt. Die moderne Wahlforschung ist nicht von ungefähr eine akademische Errungenschaft der Vereinigten Staaten, in denen Noelle-Neumann einen Teil ihrer Studentenzeit verbrachte. Schon in den frühen 1930er Jahren prägte Edward Bernays, ein Neffe Siegmund Freuds, der als Begründer der psychoanalytisch orientierten Public Relations gilt, die Aussage, daß das "Herstellen des Konsenses die wesentliche Substanz des demokratischen Prozesses, die Freiheit zu überzeugen und zu empfehlen, ist" ("The engineering of consent is the very essence of the democratic process, the freedom to persuade and suggest"). Bernays vertrat die Theorie einer Elitenherrschaft, die basisdemokratische Willensbildung für gefährlich hielt und daher einem Selbstverständnis des "aufgeklärten Despotismus", so seine Tochter Ann Bernay über die Ideologie ihres berühmten Vaters, frönte.

US-amerikanische Wahlkampftechnik, die wesentlich auf angewandter Demoskopie beruht und ihre Kandidaten mit allem anderen als politischen Inhalten ins Amt katapultiert, ist denn auch ein wichtiges Instrument jenes nicht immer unblutig verlaufenden "Stabilitätsexports", mit dem das westliche Demokratiemodell in den Ländern des Ostens und Südens durchgesetzt wird. Schon Elisabeth Noelles in den 1930er Jahren den USA erlangten Erkenntnisse über die Gallup-Methode der Massenbefragung mündeten in die Empfehlung an das Reichspropagandaministerium: "Das zuverlässige System der Massenbefragung kann der Propaganda zu größerer Wirksamkeit verhelfen."

Der in den 1950er Jahren ebenfalls von den USA ausgehende Boom der "social sciences" schuf mit komplexen Vermarktungsstrategien und der umfassenden Nutzung des neuen Mediums Fernsehen ein, was die technologische Perfektion der Massensteuerung betrifft, dem Goebbelsschen Propagandaarsenal keineswegs unterlegenes Instrumentarium. Auch wenn die einseitige Nutzung dieser Mittel durch demokratische Pluralität und Kontrolle in Grenzen gehalten wird, so verfügen sie über ein manipulatives Potential, das in der Informationsgesellschaft eher perfektioniert denn aufgehoben wurde.

"Die Herrschaft der Zweitausend", so der ehemalige Leiter des Bielefelder Emnid-Instituts, Rolf Fröhner, schon in den 1960er sechziger Jahren über die maßgebliche Rolle der Demoskopie, ist ein Instrument moderner Sozialtechnokratie, das aus der Herrschaftsicherung in hochkomplex organisierten Gesellschaften nicht mehr wegzudenken ist und als Projektionswand nationaler Befindlichkeiten die Aufmerksamkeit vieler Bürger genießt. Mit der Demoskopie hat sich das Bedürfnis nach einer einfachen Weltsicht in Form einer zu Prozenten verdichteten Resultante der Massengesellschaft erfolgreich Bahn gebrochen. Die Subjektivität einer gesellschaftlichen Realität, die sich keiner der vorgegebenen quantifizierbaren Kategorien subsumieren läßt und deren Unverfügbarkeit als gefährlicher Kontrollverlust gilt, wird mit der empirischen Sozialforschung zwar nicht eliminiert, aber in im Wortsinne beherrschbare Bahnen gelenkt.

Der hohe Abstraktionsgrad, den die meisten Bürger laut Noelle-Neumann erfolgreich ignorieren, hat sich zur Bemessungsgrundlage sozialer Wirklichkeit gemausert und weiß konkrete, auf das persönliche Umfeld bezogene Bewertungen als subjektive Verkennung zu disqualifizieren. Dieses Werkzeug des Zugriffs weniger auf viele ermöglicht eine, durch einen biologistischen Positivismus mit naturgesetzlicher Gültigkeit aufgeladene, Sozialkontrolle, vor deren Nutzung Aldous Huxley angesichts des Aufkommens einer elitären Sozialtechnokratie in den Wissenschaften schon 1932 im Rahmen einer sich des Mittels der Konsensproduktion bedienenden "szientistischen Diktatur" ("scientific dictatorship") gewarnt hat.

27. März 2010