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KULTUR/0842: Google Street View ... jeder Flaneur sein eigener Beobachter (SB)



Warum noch durch Straßen flanieren, wenn die virtuelle Passage so viel bequemer ist? Mit Google Street View braucht sich der Mensch nicht mehr die Mühe zu machen, Stadt und Land in leiblicher Anwesenheit zu erkunden, er kann dies ganz bequem, wohltemperiert und wetterunabhängig zu Hause am Bildschirm tun. Sich die Welt im Sessel untertan machen - ein Imperialistentraum selbst für den kleinen Geldbeutel. Und das nicht wie in linearen Medien unter Regie eines Reiseführers, dessen ausgetretenen Pfaden Millionen Menschen gleichzeitig mit dem Ergebnis inflationärer Entwertung individuellen Erlebens folgen - die geplante Abbildung möglichst aller Straßen dieser Welt im Internet verheißt Entdeckungsreisen auch in abseitige und entlegene Winkel urbaner Landschaften.

Diesem Versprechen liegt ein rein informationelles Spektakel zugrunde, basiert Google Street View doch auf einer Datensammlung, die abzugleichen und auszuwerten ganz anderen Zwecken dient als der Simulation eines herkömmlichen Spaziergangs. Selbst wenn man sich dieser in Zukunft durch die sinnliche Surround-Vereinnahmung dreidimensionaler Bilder und Mehrkanaltonspuren annäherte, ist die Datenreise ohne die physische Bedingheit des bewegten Körpers ein auf bloße Kognition zurückgeworfenes Rudiment humanen Handlungsvermögens und als solches bescheidener Ersatz für die Vielfalt, die zu erschließen der digitalprothetisch geschiente und getragene Mensch immer weniger Interesse zu haben scheint.

Die Einwände der Menschen, die die Straßen, in denen sie leben, und die Häuser, in denen sie wohnen, nicht im Internet verfügbar machen wollen, meinen denn auch den durch diesen Dienst erbrachten Informationswert. Sie befürchten, daß ihre Lebensverhältnisse zu Zwecken aller Art ausgekundschaftet werden, die für sie nur von Nachteil sind. Dieser Verdacht drängt sich nicht nur in Hinsicht auf mögliche Einbrecher auf, er ist in einer kapitalistischen Gesellschaft stets ad hoc gegeben, werden Informationsvorsprünge doch nicht aus altruistischen Gründen geschaffen, sondern verhelfen ihren marktrationalen Nutzern per Definition zu geldwerten Vorteilen. Die bereits seit längerem erfolgende Einstufung der Kreditwürdigkeit von Bürgern aufgrund der Bewertung ihrer Wohnverhältnisse ist nur ein Beispiel für die zahlreichen kommerziellen Nutzanwendungen eines solchen Informationsdienstes.

Google hat Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner aufgrund von Bürgerprotesten zugesagt, Fotos von Häusern bei Einspruch zu löschen. Dem hält der IT-Berater Jens Best im Deutschlandradio Kultur (04.05.2010) entgegen, daß das Internet als "digitale Ebene unserer Realität" auch Fotos von Häusern wiedergeben solle, und zwar auch diese, die bei Google Street View nun fehlen werden: "Genauso wie ich im Analogen auf einer Straße langlaufen darf und mir die Häuser anschauen darf, finde ich, sollte man sich auch Häuser anschauen können in der digitalen Straße".

Die schlichte Gleichsetzung virtueller und materieller Realität reduziert den Menschen auf eine unsichtbaren Monade, die nicht für alle erkennbar durch Straßen geht, sondern diese wenn auch nicht in direkter Übertragung, so doch in zeitnaher Form beobachtet. Das Verhältnis zwischen Beobachtetem und Beobachter verschiebt sich dadurch ganz zu Lasten des Objekts der Betrachtung. Das gilt auch für das Haus, das in seiner spezifischen Beschaffenheit stets Ausdruck der Menschen ist, die es bewohnen. Je umfassender die Informationsdichte für Beobachter ist, die weder namentlich noch körperlich als Nutzer dieser Information in Erscheinung treten, desto totaler wird das System der panoptischen Gesellschaft. Deren Insassen werden durch die permanente Verfügbarkeit wichtiger Attribute und Merkmale ihrer Existenz auf eine Weise kenntlich gemacht, die die kapitalistische Vergesellschaftung auf die Spitze fremdnütziger Verwertbarkeit treibt.

Wer permanent auf unsichtbare Beobachter reflektiert, wer sich durch die Augen anderer betrachtet und ihre möglichen Interessen abwägt, hat es noch schwerer, eine gesellschaftlich ohnehin nicht vorgesehene Handlungsautonomie zu erlangen. Die Verfügbarkeit exakter geographischer Informationen und ihre Kopplung mit individuellen Lokalisationsdaten ist nicht von ungefähr staatlichen Behörden wie Polizei und Geheimdienst vorbehalten. Es handelt sich um ausgesprochene Machtmittel, dessen ist sich jeder bewußt, der sich nicht damit abfindet, daß die Welt eine Ware sein soll und das Internet ihre Distributionsmaschine. Daß im Rahmen der Erfassung der Straßen auch Informationen offener lokaler Funknetzwerke in die Datensammlung von Google Street View geflossen sind, belegt nur, daß nichts ungenutzt bleibt, wenn es nur verfügbar ist. Das Erstarken der Datenschutzbewegung ist eine notwendige Kampfansage an die Exponenten der totalen panoptischen Gesellschaft, deren vorgeschützte Arglosigkeit einen intellektuellen Niedergang demonstriert, der sich der Verflachung virtueller Selbstreferenz gemäß auf niedrigstem Wasserstand einzurichten scheint.

16. Mai 2010