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KULTUR/0855: Ohne Anonymität wird die Welt immer bunter ... (SB)



Der von Google-Chef Eric Schmidt verlangte vollständige Verzicht auf Anonymität im Internet [1] liegt auf der Bahn einer sicherheitsstaatlichen Entwicklung, der der nicht identifizierbare Mensch ein unerträglicher Kontrollverlust ist. Der Vorstandsvorsitzende des größten Suchmaschinenkonzerns dient sich nicht von ungefähr diesem Interesse an, wenn er von einer "Welt asynchroner Bedrohungen" spricht, in der nicht zu identifizierende Internetnutzer eine Gefahr darstellten. Natürlich möchte Google als Konzern, der das Gros seiner Einnahmen mit nutzerbezogener Werbung erwirtschaftet, deren Wert mit der Treffsicherheit der geschalteten Anzeigen, die aus dem individuellen Nutzerprofil generiert wird, steht und fällt, am liebsten einen informationellen Offenbarungseid einführen. Dies läßt sich jedoch nicht allein mit kommerziellen Erwägungen begründen, also schwadroniert Schmidt düster im Jargon der Sicherheitstechnokraten von numinosen Gefahren.

Im Grunde genommen ist ihm jeder Nutzer, der sich nicht in seinen Vorlieben und Abneigungen, in seinen Gewohnheiten und Obsessionen kenntlich macht, ein, um im Jargon der Terrorkrieger zu bleiben, "Schläfer". Insbesondere die Abwesenheit signifikanter Eigenschaften schürt den Verdacht, daß mehr im Busch ist, als der bloße Schein durchschnittlicher Existenz erkennen läßt. Nicht nur Personen orientalischer Herkunft sind verdächtig, der Schläfer lauert in Gestalt jedes Menschen, dessen informationstechnisches wie physisches Erscheinungsbild keinen Anhaltspunkt auf eine in den Tiefen seiner sozialpsychologischen und humangenetischen Konstitution verankerten Prädisposition zum Verbrecher bietet. Sicherheitstechnisch werden dagegen Maßnahmen wie die Rasterfahndung, die Einführung obligatorischer DNA-Erfassung oder andere Formen biometrischer Identifikation und massenhafter Datenerhebung aufgeboten.

Die Suche nach Auffälligkeiten, die in den Profildateien präventiver Verbrechensbekämpfung vorgegeben sind und weiterführende Ermittlungen auslösen, muß notgedrungen erfolglos bleiben, wenn es die Täter verstehen, sich in der Adaption des statistischen Durchschnittwerts zu verbergen. Die Suche nach besonders unauffällig lebenden Menschen greift mithin nach der Wurzel des Bösen. Sie setzt die Anonymität, die sich mutmaßliche Täter durch besonders angepasstes Verhalten erwirtschaften, mit dem rechtsfreien Raum gleich, von dem schon ein Bundesinnnenminister Manfred Kanther meinte, ihn in "Gangsterwohnungen" ansiedeln zu können, ohne daß deren Insassen zuvor des Verbrechens überführt werden müßten. Heute gilt, wider alle Realität praktischer Strafverfolgung, das Internet als ein solcher Raum, den auszuleuchten bedeutet, aus dem Meer des allgemeinen das besondere herauszufiltern.

Wer als unbeschriebenes Blatt durch jede positive Merkmalsrasterung fällt und als Mensch ohne Eigenschaften eine No-Name-Existenz führt, muß mithin als größte aller "asynchronen", sprich wie eine Zeitbombe unerwarteterweise hochgehende Gefahr gelten. Prävention gelingt daher desto besser, je mehr sich der informationstechnische Schattenkörper durch spezifische Merkmale dingfest machen läßt. Die Verknüpfung der Milliarden Datenspuren mit ihren jeweiligen Urhebern schafft einen neuen Typus des Citoyen. Dieser erfüllt seine staatsbürgerliche Pflicht zuersteinmal dadurch, daß er sich überhaupt der Mittel elektronischer Datenkommunikation bedient. "Internetverweigerer" wäre zumindest ein Ausgrenzungskriterium, wenn nicht Straftatbestand. Einmal zum Netizen geworden entspricht er den an ihn gestellten Erwartungen nicht durch besonders normgerechtes Verhalten und optimale Anpassung, sondern strebt nach unverwechselbarer Individualität selbst mit dem Mittel der gezielten Abweichung. Die Welt wird also immer bunter, alles andere wäre nicht nur verdächtig, sondern sabotierte das große Werk der totalen kognitivkapitalistischen Vergesellschaftung.

Fußnote:

[1] http://www.heise.de/newsticker/meldung/Google-CEO-Schmidt-Mangelnde-Reife-fuer-die-technologische-Revolution-1052185.html

10. August 2010