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KULTUR/0863: Rechtsaußen ist die neue Mitte ... mit Sarrazin die Krise des Kapitals bewältigen (SB)



Je länger die Debatte um die Thesen Thilo Sarrazins andauert, desto erfolgreicher ist sie im Sinne ihres Urhebers und seiner Anhänger. Diskutiert wird fast nur noch über die wissenschaftliche Relevanz seiner Behauptungen und kaum mehr über die ideologische Position, die ihnen zugrundeliegt. Die Folge ist ein Paradigmenwechsel im gesellschaftspolitischen Diskurs, mit Hilfe dessen der Feind des bürgerlichen Staats in den von seiner Wirtschaftsweise bedingten sozialökonomischen Defiziten verortet wird. Im Gegenentwurf des unproduktiven Menschen schafft sich der Kapitalismus einen Schuldigen, dem angelastet wird, was ihm zugefügt wurde. Auf doppelte Weise zum Opfer gemacht trifft jede noch so elende Inpflichtnahme und jede noch so widersprüchliche Indoktrination der überflüssig Gemachten auf denkbar geringe Gegenwehr.

Wissenschaftliche Untersuchungen gehen von einer präzise umgrenzten Frage aus, deren Stoßrichtung das mit empirischen Mitteln zu erbringende Ergebnis von der Beliebigkeit einer Allerweltsbehauptung unterscheidbar machen soll. Wer nach der Vererblichkeit von Intelligenz fragt, setzt positive Erkenntnisse humangenetischer und psychologischer Forschung voraus, denen die antagonistische gesellschaftliche Entwicklung immanent ist. Überhaupt dahin zu gelangen, genetische Dispositionen sozialer Defizite zu untersuchen setzt die Einbindung der Wissenschaften in gesellschaftliche Interessen voraus, die eine solche Forschung alimentieren und legitimieren. Es ist kein Zufall, sondern Programm, daß in kapitalistischen Gesellschaften industriell und administrativ verwertbare Forschung in weit großzügigerem Ausmaß bemittelt wird als Ansätze, die die Emanzipation des Menschen von kapitalistischer Fremdbestimmung betreiben. Die an öffentlichen und privaten Hochschulen, in Instituten und Think Tanks betriebenen Wissenschaften genügen dem Gebot der Freiheit von Forschung und Lehre bestenfalls nominell. Praktisch handelt es sich zu einem Großteil um Produzenten von Ergebnissen, die von vornherein auf ihre herrschaftsförmige Verwertung ausgerichtet sind.

Indem über die Stichhaltigkeit der statistischen Ergebnisse und der daraus abgeleiteten Schlußfolgerungen Sarrazins debattiert wird, bleibt man unter der Schwelle einer Wissenschaftskritik, die nur mit ideologie- und herrschaftskritischen Mitteln ihre selbstreferenzielle Kurzschlüssigkeit überwinden kann. Es wird nicht danach gefragt, ob eine Wissenschaft, die in ihrer logischen Konsequenz auf genetische Selektion zur Steigerung des allgemeinen Intelligenzniveaus hinauslaufen könnte, im humanistischen Sinne überhaupt akzeptabel und damit förderungswürdig sein kann. Wenn Zusammenhänge zwischen ethnischer Herkunft und durchschnittlicher Intelligenz postuliert und verifiziert werden, dann ist das eine interessengebundene Entscheidung. Ebensogut könnte man die Verbindung zwischen Intelligenz und der Nutzung bestimmter Verkehrsmittel wie vieler anderer Faktoren erforschen.

Hinzu kommt der gesellschaftlich determinierte Charakter einer Intelligenzforschung, die kognitive Kriterien abfragt, die den technischen Stand der Produktivkraftentwicklung abbilden, über die viel wichtigere Befähigung zu menschlicher Empathie aber nichts zu sagen haben. So könnte man Intelligenz verkürzt als Kriterium einer Anpassungs- und Überlebensratio darstellen, die hinsichtlich der Ausbildung eines solidarischen Umgangs der Menschen miteinander eher kontraproduktiver, weil die konkurrenzgestützte Individuation befördernder Art ist.

Sarrazins zentrale Stoßrichtung, die unterstellte Verdummung der Bevölkerung in sozialökonomisch und ethnisch bestimmten Gruppen demografisch zu verankern, ist daher ohne große Schwierigkeiten in ihrem rassistischen Kern offenzulegen. Zum ersten ist zu fragen, inwiefern das Kriterium der Dummheit die ungeteilte Inanspruchnahme sozialer und egalitärer Rechte tangiert. Wenn dies nicht der Fall wäre, dann fände die Debatte im luftleeren Raum statt, da es keinerlei Handhabe gäbe, die von Sarrazin postulierten Unterschiede politisch wirksam werden zu lassen. Genau das ist jedoch beabsichtigt, wie die von ihm erhobenen Forderungen an den Umgang mit angeblich unproduktiven Minderheiten zeigen.

Rassistisch ist nicht nur der stigmatisierende Charakter soziologischer und ethnischer Verallgemeinerungen, sondern jeglicher Versuch, Menschen in ihrer Befähigung, seien sie nun durch genetische oder soziale Faktoren erworben, in vergleichender Weise gegenüberzustellen, um daraus Schlußfolgerungen zu ihrer gesellschaftlichen Partizipation respektive Ausgrenzung zu ziehen. Hier zeigen sich die Grenzen der ethnisch-religiösen Bestimmtheit des Rassismusbegriffs, bleibt die sozialdarwinistische Diskriminierung nicht davon betroffener Menschen doch durch ihn ungedeckt. Der Begriff des Sozialrassismus befindet sich eher auf der Höhe einer Ausgrenzungsstrategie, die eine angeblich ungenügende ökonomische Leistungsfähigkeit erbbiologisch und kulturalistisch verankert.

Zum zweiten ist nach der Bedeutung des Bezugsrahmens "Deutschland" für die Einteilung in volkswirtschaftlich mehr oder weniger nützliche Menschen zu fragen. Sarrazin macht sich den neoliberalen Sachzwang der Standortkonkurrenz zu eigen, um eine Bedrohung des nationalen Kollektivs durch seine angeblich unproduktiven Mitglieder an die Wand zu malen. Damit stellt er die Lebensrechte aller nicht in Deutschland lebenden und aller hierzulande über keinen legalen Aufenthaltstatus verfügenden Menschen ad hoc in Abrede. Wenn die Stärkung national ausgewiesener Interessen im Vordergrund steht, dann werden imperialistische Strategien, ohne dies aussprechen zu müssen, als notwendige Maßnahmen zur Sicherung des eigenen Wohls empfohlen. Hier findet die Diskriminierung von Muslimen ihre geopolitische Entsprechung, werden die Kriege der europäischen und transatlantischen Wertegemeinschaft doch vorwiegend in Ländern des islamischen Kulturkreises geführt.

Mit der Erhebung des nationalen Kollektivs zum Subjekt der neokonservativen Antikritik wird die soziale Polarisierung der deutschen Gesellschaft als in erster Linie zu bewältigendes Problem in Abrede gestellt. Indem jeglicher Klassenantagonismus in dieser Debatte von vornherein negiert und statt dessen über Integrationpolitik geredet wird, wird der sozialrassistische Tenor nationalistisch scharf gemacht. Der konstitutive soziale Konflikt wird damit gegen den äußeren Feind gekehrt, der im Falle muslimischer Bürger zu dessen fünfter Kolonne gerät. Den sozial ausgegrenzten Bundesbürgern unterbreitet Sarrazin ein Angebot zur Identifikation, das die tätige Anerkennung dieses Feindbilds voraussetzt. Sich in ihrer desolaten Lage dem als Universalaxiom gesetzten Rentabilitätszwang zu unterwerfen verlangt ihnen ab, ihre sozialrassistische Nemesis gutzuheißen. Parallelgesellschaften werden denn auch nur dort angeprangert, wo die Verfügbarkeit des Menschen für fremdnützige Zwecke in Frage gestellt wird. Der Zugang zu den exklusiven Zirkeln der Kapitalmacht, deren boulevardeskes Zerrbild in Gestalt skandalträchtiger Celebrities die Herabsetzung der "Unterschichten" bestätigt und beschwichtigt, mag noch so versperrt sein, ohne daß der Vorwurf vergesellschaftungsferner Eigenständigkeit erhoben würde.

Fragt man drittens nach den ideologischen Vordenkern Sarrazins, so stößt man mit Francis Galton auf den Urvater einer eugenischen Bevölkerungspolitik, die nicht nur bei der Rasseideologie der Nazis Pate stand, sondern sozialtechnokratische Maßnahmen zur Elimination vermeintlich minderwertigen Lebens in vielen westlichen Staaten initiierte. Des weiteren sind die Psychologen Charles Murray und Richard Herrnstein zu nennen, deren 1994 veröffentlichtes Buch ~The Bell Curve~ zu den bekanntesten Versuchen zählt, Intelligenzforschung sozialpolitisch gegen bestimmte Gruppen der Bevölkerung wie in diesem Fall die afroamerikanischen US-Bürger in Stellung zu bringen. Murrays und Herrnsteins Zukunftsvision von einer Gesellschaft, in der eine ~kognitive Elite~ vom großen Rest der weniger intelligenten Bevölkerung separiert wird, um die Reproduktion vermeintlich höherwertiger Menschen zu sichern, verschafft Politikern und Experten, die die Sanierung gesellschaftlicher Produktivität durch die sozialpolitische Aushungerung angeblich unproduktiver Menschen propagieren, bis heute argumentative Munition.

Ideengeschichtlich läßt sich Sarrazins sozialchauvinistischer Elitismus auf Philosophen wie Leo Strauss zurückführen, die einem elitären und antidemokratischen Nitzscheanismus huldigten. Von den neokonservativen Vordenkern der Bush-Regierung dankbar aufgegriffen wurde er in einen Vormachtanspruch umgemünzt, dessen zerstörerische Auswirkungen insbesondere in der Region des Nahen und Mittleren Ostens zu studieren sind. Ob in der Abstrafung sozialer Delinquenz in den hochproduktiven Staaten des Westens, den Spaltungsstrategien internationaler Arbeitsteilung, der marktfundamentalistischen Zurichtung eroberter Staaten oder dem antiislamischen Charakter des Globalen Kriegs gegen den Terrorismus, die Unterdrückung aller Versuche, den Klassenantagonismus aufzuheben, steht im Mittelpunkt neokonservativer Herrschaftsstrategien.

Wie sehr die sozialrassistische Demagogie eines Sarrazin in der Bundesrepublik auf fruchtbaren Boden fällt, belegt das allgemeine Zurückrudern im Streit um seinen Ausschluß aus der SPD. Nach anfänglicher Verurteilung seiner Thesen erfreut sich Sarrazin einer medialen Akzeptabilität, die einem NPD-Politiker, der nichts anderes als er sagte, niemals zugebilligt würde. Indem Forderungen, die früher als rechtsextrem verworfen worden wären, mit Hilfe eines von den Medien salonfähig gemachten SPD-Politikers in der Mitte der Gesellschaft artikuliert werden, wird der gesellschaftspolitische Diskurs von rechtsaußen in die bürgerliche Mitte verschoben. Um die Krise des Kapitals nicht zum Aktionsfeld emanzipatorischer Kräfte werden zu lassen, wird ein Paradigmenwechsel vorangetrieben, dessen sozialrassistisch markierte Freund-Feind-Kennung den Platz notwendiger Kapitalismuskritik besetzt.

24. September 2010