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KULTUR/0872: Pisa-Studie - Deutschland Schlußlicht bei Bildungschancen für Unterprivilegierte (SB)



Welches Land hat die schlausten, fleißigsten, durchsetzungsfähigsten, anpassungsbereitesten Kinder? Diese Frage treibt die Regierungen der Industriestaaten seit langem um. Nicht primär, weil sie sich unbedingt untereinander messen wollen, sondern weil sie die Ergebnisse nutzen können, um den Druck auf die Bildungseinrichtungen zu erhöhen und ihnen sowie ihren Zöglingen die verbliebenen Reste gesellschaftskritischer Reflektionsbereitschaft und -fähigkeit auszutreiben.

Als Deutschland vor zehn Jahren im Ranking der Pisa-Studie einen hinteren Platz belegte, gaben sich Politiker aller Couleur schockiert und mahnten Bildungsreformen an. Die wurden auch eingeleitet und waren, wie sollte es anders sein, von Anfang an darauf ausgerichtet, den Nachwuchs noch zielgerichteter auf die Sicherung Deutschlands als Exportweltmeister heranzuziehen. Das hat bekanntlich nicht perfekt geklappt - China hat sich mit Vehemenz an die Spitze der internationalen Konkurrenzgemeinschaft gesetzt -, doch welche Vorteile es dem deutschen Kapital bringt, wenn die Handelsbilanz der Bundesrepublik auf Kosten anderer Staaten verbessert wird, zeigt die aktuelle EU-Krise. Da sollte die pädagogisch getrimmte Brut der nächsten Generation wenigstens das Zählen beherrschen! Zehn Jahre nach dem ersten Pisa-Test zeigt sich, daß in Deutschland "Bildung" nur auf eine Weise verstanden wird, nämlich als abrufbare, im Produktions- und Reproduktionsprozeß verwertbare Leistung.

Dagegen hat die Regierung in ihrem Reformeifer die eklatante Diskrepanz bei der Bemittelung von Bildungseinrichtungen nicht in Angriff genommen. Wer in Deutschland aus einer ärmeren Familie stammt oder auf eine Schule in einer "sozial ungünstigen" Region geht, schneidet im Pisa-Test schlecht ab. In keinem anderen Land sticht dieses Phänomen so krass hervor wie in der Bundesrepublik, stellten die Ermittler der am Dienstag bekanntgegebenen Pisa-Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fest. Offensichtlich wird die Chancengleichheit hierzulande nicht verbessert. Im Gegenteil, durch die neue Hartz-IV-Regelung - Erhöhung des Regelsatzes um lediglich fünf Euro und mehr vorgegebene Sachleistungen für Kinder und Jugendliche - wird die Regierung noch mehr Armut produzieren. Auf der anderen Seite ist ein Trend zu beobachten, daß immer mehr reichere Eltern ihre Kinder auf Privatschulen, die in der Regel besser als ihre staatlichen Pendants ausgestattet sind, schicken. Die gesellschaftliche Spaltung vertieft sich.

Die meisten Medien deuten das Ergebnis der jüngsten Pisa-Studie anders. Für sie hat Deutschland aufgeholt und befindet sich nun zumindest im Mittelfeld des Staatenvergleichs. Besonders in Naturwissenschaften und Mathematik zeigten sich deutsche Schüler bewandert. Das einstige gesellschaftliche Ziel, daß auch Arbeiterkinder - ein Sozialwissenschaftler würde heute vom Prekariat sprechen - studieren können sollten, ist längst der Geschichte überantwortet und wird unter anderem durch das Zentralabitur karikiert.

So unausgegoren die einstige Forderung nach "gleichen" Bildungschancen für alle auch gewesen war, immerhin wurde hierdurch an einen gesellschaftlichen Widerspruch erinnert, der heute nicht mal mehr bedeckt gehalten, sondern sogar massiv gegen die Unterprivilegierten in Stellung gebracht wird. Sozialrassismus hat die Mitte der Gesellschaft erreicht und sich dort festgesetzt. Schwer vorstellbar, daß es zu dieser Entwicklung gekommen wäre, wenn der Bildungsbegriff nicht darauf ausgerichtet wäre, Menschentypen wie den des Diederich Heßling hervorzubringen.

7. Dezember 2010