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KULTUR/0873: Britische Hochschulpolitik ... soziale Selektion nach neoliberalen Kriterien (SB)



Mit der massiven Unterdrückung der Studentenproteste gegen die am Donnerstag im britischen Unterhaus beschlossene Erhöhung der Studiengebühren um das Dreifache sollte ein Zeichen gegen jeglichen sozialen Widerstand gesetzt werden. Die Demonstrationen der letzten Wochen richteten sich zwar gegen die weitere Entdemokratisierung und Kommerzialisierung des Bildungswesens, fanden jedoch im größeren Rahmen einer Austeritätspolitik statt, mit der die Regierungskoalition aus Torys und Liberalen die Zeche für die expansiven Aktivitäten der Finanzwirtschaft begleichen will. Das Sparpaket von 81 Millionen Pfund hat nicht nur erhebliche Einschnitte in allen öffentlich finanzierten Bereichen zur Folge, es ist vor allem sozial ungerecht, da es die Armen ärmer macht und die Reichen schont.

Größere Demonstrationen gegen diese Politik sind bislang ausgeblieben, nicht zuletzt aufgrund des wachsweichen Taktierens der britischen Gewerkschaften. Lediglich die Studenten haben sich herausgenommen, der Erhöhung der Studiengebühren von 3000 auf maximal 9000 Pfund im Jahr entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen. Die vereinzelten militanten Aktionen, zu denen es dabei kam, wurden vom Gros der britischen Presse und Politik zum Anlaß genommen, die Proteste rundheraus zu kriminalisieren. Mehrere Zehntausend Studenten und Jugendliche gingen am Donnerstag, als im Unterhaus über die Erhöhung der Studiengebühren abgestimmt wurde, landesweit auf die Straße. Die Londoner Polizei griff von Anfang an zu aggressiven Mitteln, indem berittene Beamte die Menschenmenge attackierte, indem die Demonstranten in Kesseln isoliert wurden, in denen sie bis zu acht Stunden ohne Versorgung und Toilette frierend ausharren mußten, indem reichlich vom Schlagstock Gebrauch gemacht wurde. Mehrere Demonstranten wurden schwer verletzt, als die Polizisten wahllos jede Form des zivilen Widerstands mit brutaler Gewalt zerschlug. Zahlreiche Wortmeldungen von Betroffenen bezeugen übereinstimmend, daß die Polizei in den meisten Fällen ohne jeden Anlaß Gewalt anwendete. Sie hatte zu einer Taktik der räumlichen Beschränkung und Einkesselung der Demonstranten gegriffen, die diese allein zur Wahrnehmung ihres Versammlungsrecht nötigte, andere Wege zu suchen, ihren Protest zu artikulieren. Insgesamt wirkte die Taktik der Londoner Polizei, als habe sie eine Konfrontation nicht erwartet, sondern systematisch provoziert.

In den britischen Medien wurde eine Attacke auf den Wagen des Thronfolgers Prinz Charles und seiner Frau, der Herzogin von Cornwall, in den Vordergrund der Berichterstattung geschoben. Während ihr von bis zu 20 Demonstranten mit Fußtritten, Faustschlägen und einer Farbbombe attackierter Rolls-Royce leichte Schäden davontrug, kamen die Insassen mit einem Schrecken davon. Im London Palladium, wo Charles und Camilla in der königlichen Loge die Darbietungen der britische Unterhaltungsindustrie genossen, die dort alljährlich im Rahmen der Royal Variety Performance aufgeführten werden, erklärte die Herzogin, ganz Aristokratin, mit kühlem Understatement: "Mir geht es gut. Es gibt für alles ein erstes Mal". Der Londoner Polizeichef Sir Paul Stephenson wiederum lobte die Zurückhaltung des bewaffneten Sicherheitspersonals mit den als Drohung nicht mißzuverstehenden Worten, daß die Demonstranten Glück gehabt hätten, nicht erschossen worden zu sein.

Dieser Zwischenfall könnte den Klassencharakter der Auseinandersetzungen nicht besser dokumentieren. Die Selbstverständlichkeit, mit der Mitglieder des britischen Königshauses ihren Gewohnheiten inmitten einer eskalierenden sozialen Konfrontation nachgehen, steht in krassem Mißverhältnis zu den Problemen der Studenten und Hochschullehrer, die in großer Zahl an den Demonstrationen teilnahmen. So werden nicht nur die Studiengebühren in einem Maße erhöht, das sicherstellt, daß höhere Bildung künftig wieder ein Privileg der Eliten ist. Selbst wenn sie als Kredit gewährt werden und erst nach dem Studium zurückzuzahlen sind, werden sie Kinder mittelloser Familien davon abhalten, ihr Berufsleben mit Schulden in Höhe von 35.000 bis 40.000 Pfund zu beginnen.

Zudem werden im Rahmen des Sparpakets die staatlichen Zuschüsse für die Hochschulen um bis zu 80 Prozent reduziert. Dies geht mit einer qualitativen Auswahl der geförderten Fächer nach marktwirtschaftlichen Kriterien einher, die ein bezeichnendes Licht auf die antidemokratische, kulturell regressive Zielsetzung der neoliberalen Doktrin wirft. Generell gilt, daß alle für innovative Technologieentwicklung wichtigen Diszipline wie Naturwissenschaften, Ingenieurswissenschaften, Informatik oder Medizin bevorzugt werden, während die Geistes- und Sozialwissenschaften und die Künste praktisch keine staatliche Unterstützung mehr erhalten. Der Hochschulverband UCU geht davon aus, daß mehr als ein Drittel der britischen Universitäten und Fachhochschulen von der Schließung oder der Einstellung wesentlicher Teile ihres Fächerangebots betroffen sein könnten.

Mit der Fortsetzung des neoliberalen Strukturwandels in der Hochschulbildung wird ein Prototyp des Verbrauchers von Bildungsleistungen propagiert, der individuell je nach persönlicher oder familiärer Kassenlage in seine Selbstoptimierung investiert. Der Staat will sein Geld nur noch dort anlegen, wo es absehbar Rendite in Form von Steuern abwirft. Was sich nicht ökonomisch verwerten läßt, wird auch nicht gefördert, das gilt insbesondere für alle Gesellschaftswissenschaften, in denen noch auf diese oder jene Weise Kritik an der kapitalistischen Verfaßtheit der Gesellschaft geübt werden könnte. So etwas wie Gesellschaft gebe es nicht, nur Individuen, lautete das Credo der 1979 zur Regierungschefin gewählten Margaret Thatcher. Sie leitete zusammen mit dem 1980 zum US-Präsidenten gewählten Ronald Reagan die Ära des Neoliberalismus ein, die eine durch und durch von marktwirtschaftlicher Ideologie bestimmte britische Gesellschaft hervorgebracht hat.

Dieser Kurs wurde von der Labour-Regierung unter Premierminister Tony Blair fortgesetzt. Sie hat vor fünf Jahren Studiengebühren eingeführt und damit den Weg zu einer sozialen Selektion geebnet, die die ohnehin starken Klassengrenzen im britischen Königreich weiter vertieft. Die Studentenbewegung steht mithin vor dem Problem, zum einen um die Chance auf berufliche Teilhaberschaft am herrschenden Verwertungssystem zu kämpfen, während die Beseitigung der ihm inhärenten sozialen Ungerechtigkeit weit mehr als das erforderte. Die massive Repression, mit der die Forderungen der jungen Briten unterdrückt werden, könnte im besten Fall dazu führen, daß sie nicht mehr nur gegen ihre eigene Benachteiligung antreten, sondern Widerstand gegen ein Projekt der sozialen Transformation leisten, mit dem das sozialdarwinistische Konkurrenzprimat unumkehrbar gemacht werden soll.

12. Dezember 2010