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KULTUR/0925: Gewaltverhältnisse totschweigen, Sprache kriminalisieren ... (SB)



Ein 19jähriger Brite migrantischer Herkunft muß vor Gericht, weil er seiner Wut über die Mißachtung der Leiden der afghanischen Bevölkerung auf seiner Facebook-Seite Luft gemacht hat, kurz nachdem sechs britische Soldaten in Afghanistan gefallen sind. Rechtsgrundlage ist der Communications Act 2003, laut dem es verboten ist, Nachrichten im Internet öffentlich zu machen, die auf deren Leser, auch wenn es sich nicht um ihre Adressaten handelt, in hohem Maße anstößig wirken. Zwar wird der zuerst erhobene Vorwurf des Rassismus wieder fallengelassen, weil er sich nicht erhärten läßt, aber aufgrund des Verbots, sich im Internet "auf grobe Weise anstößig" zu äußern, bleibt die Strafanzeige bestehen. Eindeutig rassistische Äußerungen, die die asiatische Herkunft und den muslimischen Glauben des Mannes zum Gegenstand haßerfüllter Beschimpfungen machen, werden von den Strafverfolgungsbehörden dagegen ignoriert. [1]

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton gerät, nachdem sie angeblich einen Vergleich zwischen dem Anschlag auf eine jüdische Schule in Toulouse und dem Leiden palästinensischer Kinder in Gaza gezogen hat, unter schweren Rechtfertigungsdruck. Sie stellte klar, daß es sich bei der Wiedergabe ihrer Worte um eine grobe Entstellung handelte, habe sie doch auch die Leiden der israelischen Kinder in dem von palästinensischen Raketen beschossenen Ort Sderot erwähnt. Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak fordert Ashton auf, ihre Worte zu revidieren, und erklärt, daß die israelische Armee in Gaza mit größter Vorsicht vorgehe, um den Verlust unschuldigen Lebens zu verhindern. Niemand reklamiert die grobe Entstellung seiner Worte, niemand bezichtigt ihn, auf grobe Weise Anstoß erregt zu haben, obwohl die bei dem Abtausch militärischer Gewalt vor zwei Wochen von Barak befohlenen Luftangriffe auf Gaza mit zehn durch palästinensische Raketen verletzte Israelis begründet werden, während 26 Todesopfer und mehr als 80 Verletzte auf palästinensischer Seite zu beklagen sind. Auslöser der schweren Kämpfe war die "extralegale Hinrichtung" des Chefs der Palästinenserorganisation Volkswiderstandskomitee, Zuher al-Kesi, und eines seiner Helfer. Der Angriff wurde mit dem unüberprüfbaren Argument eines angeblich geplanten Terroranschlags gerechtfertigt und setzte, wie schon so oft, fast nach Lehrbuch eine Eskalation in Gang.

Nun droht Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy nach den Anschlägen von Toulouse sogenannten Haßpredigern und ihren Anhängern an, nicht nur das Verbreiten entsprechender Botschaften, sondern schon den Besuch einschlägiger Webseiten mit Freiheitsentzug zu bestrafen. Wie das Beispiel des Briten zeigt, dem sein freimütiger Wutausbruch auf Facebook zum Verhängnis werden könnte, ist es eine Frage der Definitionsmacht, welcher Haß welche Folgen nach sich zieht. Sich gegen Soldaten zu äußern, deren Regierung einen aus ihrer Sicht gerechten Krieg führt, kann zur Straftat erklärt werden, weil dem Kritiker als höchst ungerecht erscheint, was nach Ansicht der ihn strafenden Behörden bloße Kollateralschäden einer an und für sich guten Maßnahme sind. In einem kriegerischen Konflikt daran zu erinnern, daß Gewaltanwendung mindestens zwei Seiten hat, kann zur Bezichtigung führen, die Schuld der Täter zu verharmlosen. Ein mörderischer Gewaltakt kann zum Anlaß genommen werden, das Internet zu zensieren, ohne die Dispositionen dieser Gewalt zu beseitigen, dafür jedoch zahllose Aktivisten, die höchst legitime Ziele verfolgen, in ihrer politischen Arbeit einzuschränken.

Mit Debatten um die Details eines spezifischen Gewaltverhältnisses kommt man hier nicht weiter, mit der einseitigen Anwendung repressiver Gewalt jedoch sehr wohl. Es geht darum, die Verfechter bestimmter Argumentationen und Positionen so sehr zu bedrohen, daß sie schon aus Gründen des Selbstschutzes verstummen. Anzunehmen, daß sich die Androhung freiheitsberaubender Maßnahmen auf Gesinnungsdelikte sogenannter Haßprediger beschränkt, ist so irreführend wie die Annahme, dabei gehe es lediglich um ethnisch-religiöse Ressentiments. Die immer weiter um sich greifende Bedrohung des bloßen Worts durch die Maßgaben einer Gesinnungspolizei, die im Falle der NATO-Staaten den angeblich guten Ruf ihrer im nah- und mittelöstlichen Ausland eingesetzten Truppen schützt, findet ihren wesentlichen Zweck in der Unterdrückung des Sozialkampfes, der in den Kriegsgebieten der NATO ebenso tobt, wie er in den Gesellschaften virulent ist, die fernab der eigenen Grenzen mit militärischer Gewalt hegemoniale und geostrategische Ziele verfolgen.

Wie dünn der Firnis liberal-demokratischer Systemapologie geworden ist, belegt die immer unverhohlener vollzogene Praxis der Kriminalisierung der Sprache. Durch Erinnerungsgesetze, die die Geschichtsschreibung auf strafbewehrte Weise kodifizieren [2], durch ein öffentlich-demokratische Anliegen den Interessen privatwirtschaftlicher Akteure nachordnendes Marken-, Patent-, Urheber- und Presserecht und durch politische Zensur im Internet wird das zentrale Credo der Meinungsfreiheit perforiert und eingeschränkt. Gemeinsames Merkmal der Kanalisierung und Formatierung des öffentlichen Diskurses ist der Versuch, Einzelinteressen auf legalistische Weise zu verabsolutieren und sie damit aus jeglichem Kontext zu lösen, der Auskunft über das fungierende Gewaltverhältnis einer Konfliktkonstellation erteilte. Der bloße Gedanke daran, daß stets mehrere Akteure involviert sind, wenn geschossen und gestorben wird, soll einer klaren, den herrschenden Interessen zu singulärer Gültigkeit verhelfenden Täter-Opfer-Dichotomie weichen.

Wo an dieser Strategie gerüttelt wird, indem politisch mißliebige Vergleiche gezogen oder dominante Interessen benannt werden, die etwas über den materialistischen Charakter herrschender Gewaltverhältnisse verraten, schlägt die Keule der Moral um so aggressiver zu. Dies führt zur doppelten Ohnmacht der davon Betroffenen. Die aus nämlichem Gewaltverhältnis resultierende Bedrohung wird dadurch verstärkt, daß unter dem Mantel der Freiheit autoritäre Maßregelungen durchgesetzt werden, gegen die sich zu wehren die Betroffenen vollends ins Unrecht setzt. Nichts könnte besser geeignet sein, als den sozialen Bewegungen, die den Kampf gegen die Übermacht des Kapitals und seiner Sachwalter in Staat und Gesellschaft aufnehmen, den Garaus zu machen. Auch für die Herrschenden geht es immer ums Ganze. Die Unangreifbarkeit ihrer hegemonialen und ideologischen Vormacht zu sichern erfolgt im Doppelschritt von politischer Kriminalisierung und massenmedialer Stigmatisierung. Fällt das zentrale demokratische Recht, sich unbeschadet von Angst vor Strafe in Wort und Schrift zu äußern, dann wird sich zeigen, wie weit der Abbau demokratischer Rechte in weniger aufmerksam verfolgten Bereichen der Gesellschaft bereits fortgeschritten ist.

Fußnoten:

[1] http://www.opendemocracy.net/ourkingdom/fahad-ansari/racially-aggravated-prosecution-case-of-azhar-ahmed

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar578.html

27. März 2012