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KULTUR/1017: Geschichtsvergessenheit als kulturelles Pflichtprogramm (SB)



Wird in den alten Bundesländern über Deutschland in der Zeit nach 1945 gesprochen, dann sind sich viele in der BRD aufgewachsene Bürgerinnen und Bürger kaum bewußt darüber, daß sie die Geschichte ihres Landes vor 1990 auf eine Weise verallgemeinern, als hätte es die DDR niemals gegeben. Durch die fast rückstandslose Einverleibung der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes, die Abwicklung wesentlicher Institutionen des untergegangenen sozialistischen Staates in Politik, Kultur und Wissenschaft, den Ausverkauf ihrer Industrien und Wirtschaftsbereiche durch Auflösung der Betriebe oder Umverteilung an die westdeutsche Konkurrenz wurde die Lebenswirklichkeit eines ganzen Landes durch den Fleischwolf einer symbolpolitischen Umwertung gedreht, um als Gegenentwurf zur realkapitalistischen Fassadenkultur für den dauerhaften Gebrauch konserviert zu werden.

Nicht wenige Menschen des untergegangenen Staates sahen sich darin bestätigt, mit dem Zugang zu den gut gefüllten Regalen der Supermärkte, den Urlaubsparadiesen der Tourismusindustrie und den Freiheitsglocken der Marktdemokratie das Ziel ihrer Wünsche erreicht zu haben. Wem es nicht so ging, der mußte nicht nur mit der rückstandslosen Negation der eigenen Lebenswirklichkeit und -geschichte fertigwerden, sondern auch noch die Schmähung über sich ergehen lassen, im konsumfeindlichen Massenknast des Realsozialismus quasi umsonst gelebt zu haben. Bis heute dauert die öffentliche, mit der kulturindustriellen Reproduktion des immer Gleichen die Abwesenheit jeglicher Sozialutopie schmerzhaft unter Beweis stellende Verdammung des Leichnams DDR an. Die anwachsende Legitimationsnot eines Kapitalismus, dessen tagtäglicher Brutalisierung seitdem weniger denn je im Wege steht, könnte die Substanzlosigkeit der eigenen Reproduktionslogik nicht besser unter Beweis stellen als mit dem Abfeiern einer kulturellen Einöde, aus der kein noch so grellbunter Exzeß heraushilft, wenn der humane Betriebsstoff bei der Einspeisung in die große Maschine nach Vergessen und Bewußtlosigkeit schreit.

Hin und wieder flimmern noch Relikte der cineastischen Errungenschaften dieses Landes über den Bildschirm, gilt es doch die Restbevölkerung bei Laune zu halten, die noch in der DDR aufgewachsen ist, weshalb diese Filme denn auch vorrangig auf dem in Neufünfland ausgestrahlten Fernsehkanal MDR zu sehen sind. So brachte man kurz vor dem Jahrestag des Endes des Hitlerfaschismus, der in der zu neuen Großtaten schreitenden Bundesrepublik weder als Tag der Befreiung am 8. noch als Tag des Sieges am 9. Mai besonderer Erwähnung wert ist, den 1965 in die Kinos gekommenen Antikriegsfilm "Die Abenteuer des Werner Holt" zur Aufführung. Diese Produktion der DDR-Filmgesellschaft DEFA, die das Fiasko des militärischen Zusammenbruchs in den letzten Monaten des NS-Staates anhand einiger Akteure schildert, deren prototypischer Charakter dank der erzählerischen Dichte des Films niemals klischeehaft wirkt, ist ein Zeitzeugnis besonderer Art. In fast jeder Szene merkt man dem nach einem Roman von Dieter Noll gedrehten Film an, daß er von Menschen inszeniert wurde, denen das Joch des NS-Regimes und des von ihm entfachten Krieges noch spürbar auf den Schultern lastete.

Dieser im besten Sinne antimilitaristische und antifaschistische Film bedurfte keiner platten Demagogie, um die Indoktrination der Jugend durch einen völkisch-nationalen Opfermythos auch und gerade heute wieder als reale Gefahr begreifbar zu machen. Wie andere DEFA-Filme von weit weniger politischer Ausrichtung wurde er in die Nischen massenmedialer Bespaßung verbannt, wo er nur unter dem Vorbehalt individualgeschichtlicher Nostalgie, aber keineswegs als Beitrag zur aktuellen gesellschaftskritischen Debatte gezeigt wird. Selbst wenn die Vergangenheit und Gegenwart nationalistischer Vereinnahmung und imperialistischer Staatenkonkurrenz kein Thema sind, steht die Unterstellung im Raum, DEFA-Filme seien, weil keiner privatwirtschaftlich organisierten Kulturindustrie entsprungen, Produkte einer staatspropagandistisch aufgeladenen Kinokultur. Dabei wird der künstlerische Wert, den nicht wenige DEFA-Filme auch im Urteil internationaler Betrachter besitzen, durch die parteiliche Positionierung gegen Kapitalismus und Krieg keineswegs geschmälert. Wo dies dennoch versucht wird, blendet die ideologiekritische Brille die nicht nur produktionstechnisch, sondern ganz und gar inhaltlich zur Geltung gelangenden Zwänge einer auf Erfolg am Markt abonnierten Kino- und TV-Kultur einfach aus. Die autoritäre Staatlichkeit der DDR macht die marktliberale Bürgerlichkeit der BRD nicht akzeptabler, sondern demonstriert den regressiven Charakter des Versuchs, deren eingeforderte "Leitkultur" durch ideologische Suprematie zu legitimieren.

"Es wird ständig so getan, als wenn die Geschichte '45 aufgehört hat, und wenn Sie irgendeine Veranstaltung in diesem Studio sehen, tritt bestimmt Ilse Werner auf oder Johannes Heesters, und das ist für mich zum Kotzen" [1]. Was sich der DDR-Regisseur Heiner Carow vor 25 Jahren, als die DEFA privatisiert wurde, von der Seele sprach, hat sich seitdem um keinen Deut verbessert. Der Regisseur des DEFA-Films "Die Legende von Paul und Paula", eines ästhetisch und dramaturgisch gelungenen Beziehungsfilms mit großem Publikumserfolg in der DDR, erkannte schon zwei Jahre nach dem Anschluß der DDR an die BRD, daß in der NS-Zeit beliebte Stars weit repräsentabler für die deutsche Kinogeschichte sind, als es die Schauspieler und Regisseure der DDR jemals sein können. Wenn dem untergegangenen Land dann auch noch die Verantwortung für das Aufkommen neuer Nazis aufgelastet wird, die zum Zeitpunkt seines Endes noch gar nicht geboren waren, dann läßt sich nur noch mit Hildegard Knef, aus heutiger Sicht geradezu die Antithese zur seicht durchformatierten Unterhaltungskultur der frühen BRD, zusammenzählen: "Eins und eins das macht zwei ...".


Fußnote:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/vor-25-jahren-die-defa-filmstudios-in-babelsberg-werden.871.de.html?dram:article_id=386435

19. Mai 2017


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