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KULTUR/1021: Fesseln für alle (SB)



Zweifellos ist es ein Fortschritt, wenn das Zentralinstitut gesellschaftlicher Reproduktion, die Ehe, ihrer heteronormativen Festlegung entledigt wird. Als tief in der christlichen Ideologie kreatürlicher Schöpfung verankert wird im Standesamt und in der Kirche geschlossene Ehe zwischen Frau und Mann bis heute als Hort biologischer Arterhaltung gegen diejenigen verteidigt, die als gleichgeschlechtliche Paare auf die fragwürdigen Segnungen der Reproduktionsmedizin vertrauen, Kinder adoptieren oder gar keine haben. Daß die Ehe für alle nun "von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen" werden kann, wie es neuerdings im Bürgerlichen Gesetzbuch heißt, wird im rechten und wertkonservativen Lager nicht gutgeheißen. Die Legalität der Ehe für alle ist den Verfechtern eines naturalistisch und biologistisch formierten Lebenssinnes ein Greuel, und dieser Kulturkampf wird dem Lager sogenannter Lebensschützer selbst dann Anhänger zutreiben, wenn die betroffenen Paare gar nicht abtreiben können.

Doch auch wenn der rechte Rand nationalchauvinistischer, klerikalkonservativer und patriarchaler Kräfte mit wachsender Aggressivität gegen das vermeintliche Herumpfuschen an der gottgegebenen Ordnung der Geschlechter zu Felde zieht, wird aus der Umwandlung einer Lebenspartnerschaft in eine Ehe oder die Heirat zwischen zwei Frauen oder Männern noch kein Akt der Emanzipation. Was die Menschen in den Hafen einer staatlich geschützten und rechtlich privilegierten Form der Zweierbeziehung treibt, stellt im Kern eine regressive, alles Lebendige am Kontakt zwischen Menschen institutionalisierende und damit abtötende Form des Vertragsschlusses dar. Das abstrakte Prinzip des Rechtes siegt über alles, was der Mensch tun und lassen könnte, um vollständig für Scheitern wie Gelingen verantwortlich zu sein und daran zu wachsen, was ansonsten an ihm fremde Instanzen delegiert wird. Wie alle Gesetzesakte steht auch dieser Vertrag unter dem Vorbehalt seiner immanenten Auflösung in Form der Scheidung, was das damit gegebene Eheversprechen vollends ins Reich einer ritualisierten Symbolhandlung verweist, um über die Untiefen sogenannter Liebe gar nicht erst zu sprechen.

Wenn es nicht allein um die profane Inanspruchnahme der staatlich gewährten Vorzüge eines Eheschlusses gehen soll, die nicht getrauten, in "wilder Ehe" lebenden Paaren weiterhin vorenthalten werden, dann steht ein solcher Vertrag - um nichts anderes handelt es sich bei einem reziproken Treueschwur - jeder Bindungsfähigkeit, die keiner sozialen oder gesellschaftlichen Rückversicherungen bedarf, entgegen. Nur eine solche böte die Verläßlichkeit, unabhängig von sozialer Anerkennung und gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen zu funktionieren, sprich frei von jeder Fremdbestimmung zu sein, die mit Vergesellschaftungsprozessen notgedrungen einhergeht.

Aus diesem Grund waren emanzipatorische Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre strikt gegen die bürgerliche Ehe. Sie traten für ihre Abschaffung ein, weil die durch Eheschließung konstituierte Kleinfamilie als Keimzelle der Reproduktion autoritärer Gesinnung und patriarchaler Unterjochung, der Einübung von Anpassung an und Unterwerfung unter Staat und Nation und die Objektivierung des anderen Menschen zu einer Form des persönlichen Eigentums begriffen wurde. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn Verhaltensweisen und Identitätssignaturen freizügiger angeeignet und inszeniert werden als zu einer Zeit, als die sklavische Einhaltung gesellschaftlicher Verhaltensregeln bei der Wahl schicklicher Kleidung begann und mit ergebenstem Dank für das Lob demütiger Unterordnung nicht aufhörte.

Völlig außer Sicht beim Abfeiern der liberalen Großtat, die Fessel der Ehe nun auch dem Joch normativer Zwänge weniger ausgelieferten Menschen anzulegen, gerät die Frage, wieso überhaupt Partnerschaften tradierter Art den Goldstandard aller sexuell konnotierte Beziehungsformen darstellen? So hoch sich die religiös geprägten Fundamente des patriarchalischen Eigentumsanspruches, der vor allem Frauen zum Objekt männlicher Interessen macht, auch auftürmen mögen, ist selbstverständlich nicht in Stein gemeißelt, daß Menschen vielleicht ganz anders miteinander leben und auch körperliche Beziehungen eingehen könnten als in der tradierten Zweierbeziehung. Wird heute unter dem Stichwort Polyamorie neu über offene Beziehungsformen nachgedacht, so hat es zu allen Zeiten kollektive Lebensgemeinschaften nicht monogamer Art gegeben. Damit sind nicht postmoderne Tauschverhältnisse auf dem Markt der Datingseiten und Kontaktbörsen gemeint, die eine dem Neoliberalismus gemäße Form von Tauschwert und Warenform bedingter Partnerschaften populär machen, sondern gerade die Negation aller nutzen- und zweckorientierten Formen der Vergemeinschaftung.

Bislang bleibt die Utopie der Aufhebung der Eigentumsansprüche unter Menschen eine solche, denn sie die Beendigung sozialer Gewaltverhältnisse, ohne die sie nicht zu verwirklichen wäre, gilt vielen Menschen nicht einmal als erstrebenswert. Wenn sozialdarwinistische Überlebenskonkurrenz den gesellschaftlichen Horizont bestimmt, dann kann das Ausüben von Macht über andere von großem Nutzen sein und auch Lust bereiten. Warum also für die Aufhebung allen Zwanges und aller Not zwischen Menschen streiten? Nicht umsonst liegt das Glück für manche auf dem Rücken der Pferde, und so viel anders sind die Verhältnisse zwischen menschlichen Tieren auch nicht sortiert. Sie verlaufen vornehmlich in vertikaler Ausrichtung, und das ist in der Ehe für alle nicht anders als in der Ehe für Mann und Frau. Für die Befreiung von Zwang und Not Gründe zu nennen, die in Vorteils- und Nachteilserwägungen wurzeln, heißt eben auch, das Kalkül sozialer Konkurrenz und Herrschaft niemals aufgegeben zu haben.

6. Oktober 2017


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