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KULTUR/1032: Gewalt - mediale Bedrohlichkeit vermeiden ... (SB)



Der Schritt von der Triggerwarnung bis zur Zensur ist nicht groß. Die auch in linken Zusammenhängen verbreiteten Ankündigungen, daß ein Film, ein Artikel oder ein Vortrag auf manche Menschen traumatisch wirkende Inhalte enthält, haben eine mediale Eigendynamik entwickelt, die daran zweifeln läßt, daß es sich nur um eine fürsorgliche und emanzipatorische Praxis handelt. So verdeckt Facebook ein Bild jüdischer Frauen, die im Massaker von Liepeja in Lettland am 15. Dezember 1941 kurz vor ihrer Ermordung von dem SS-Scharführer Karl-Emil Strott fotografiert wurden, hinter der Aufschrift "Dieses Foto zeigt möglicherweise Gewaltdarstellungen oder explizite Inhalte" [1]. Die Frauen sind mit langer Unterwäsche bekleidet, so daß dieses Bilddokument in keiner Weise ihre Würde verletzt. Es zeigt allerdings im Hintergrund zahlreiche bewaffnete Männer, die sie gleich erschießen werden, und ihre offenkundige Angst vor dem, was ihnen bevorsteht.

Das Bild läßt sich ohne weiteres freischalten, doch wer entscheidet darüber, daß eine Fotografie, die die Grausamkeit der NS-Verbrechen dokumentiert, dem Publikum nicht zuzumuten wäre? Was ist der politische Ertrag dessen, wenn empfindsamen Gemütern vorenthalten wird, worauf sie in vergleichbarer Form angesichts der überbordenden Bildproduktion der sozialen Netzwerke an vielen Orten stoßen? Das historische Foto stellt inszenierte Gewaltdarstellungen in den Schatten, weil das Bewußtsein, daß es sich nicht um Fiktion, sondern Wirklichkeit handelt, Folgen bei einzelnen Menschen haben könnte, die der Konsum von Unterhaltungsprodukten in der Regel nicht hat. So könnten sie in Sicht auf die erstarkende Rechte antifaschistisch aktiv werden, anstatt bei der Suche nach Ablenkung tatenlos vor dem Schirm zu sitzen.

Auf dem zentralen Videokanal You Tube werden Szenen von Tierausbeutung hinter Schwellen verborgen, die nur mit einigem Aufwand und der Identifikation des Betrachters zu überwinden sind. Ein Kampagnenfilm der Organisation Soko Tierschutz, der die illegale Schlachtung nicht mehr leistungsfähiger und erkrankter Milchkühe zum Gegenstand hat, bleibt unsichtbar. "Dieses Video ist eventuell für einige Nutzer unangemessen" [2], steht unter der Aufforderung, sich anzumelden und das Alter anzugeben, um das Video betrachten zu können. Das ist nicht das einzige Beispiel dafür, daß die Verbreitung von Bildern, die die Brutalität der industriellen Intensivtierhaltung enthüllen, auf dem Videokanal behindert wird. Wie unangemessen ist es für Menschen, die täglich Tierprodukte zu sich nehmen, zu erfahren, unter welchen Umständen diese hergestellt werden können? Wer entscheidet darüber, daß derartige Szenen nicht gezeigt werden, aber Kriegsbilder in den frei zugänglichen Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufgrund seiner gesetzlich verankerten Informationspflicht verbreitet werden?

Weder Facebook noch You Tube unterliegen dieser gesetzlichen Auflage. De facto handelt es sich bei diesen von Milliarden Menschen genutzten Plattformen um primäre Nachrichtenkanäle, denen in der Bundesrepublik durch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) [3] bestimmte Auflagen hinsichtlich des dabei präsentierten Contents auferlegt wurden. So sehr die Verbreitung von Haß und Hetze zu unterbinden ist, so repressiv und gefährlich für demokratische Gesellschaften können Normen der Zensur sein, die den Sachverhalt des Hasses pauschalisieren und nicht in den Kontext seiner politischen Intentionen stellen. Schließlich ist es nicht das gleiche, zur Gewalt gegen rassistisch oder sexistisch stigmatisierte Minderheiten aufzurufen, oder sozialen Widerstand gegen die Herrschaft des Kapitals zu propagieren. Beides in einen Topf zu werfen, um etwa die legitimen Forderungen sozialer Bewegungen wie die der Gelbwesten in Frankreich auf der Basis einer Extremismusrhetorik zu unterdrücken, die politische Radikalität wie ein störendes strukturelles Phänomen ausgrenzt und kriminalisiert, liegt im Interesse derjenigen, die bislang noch nicht in der Lage sind, in aller Offenheit politische Zensur zu vollziehen und daher zu normativ nivellierenden Vorwänden greifen müssen.

Wird der selektive Charakter präsentierter Inhalte schließlich, wie bei Triggerwarnungen üblich, mit der Gefahr begründet, Traumata von Menschen, die etwa Opfer sexueller Gewalt geworden sind oder Bekanntschaft mit dem Polizeiknüppel gemacht haben, durch ein Schlüsselsignal zu reaktivieren, dann werden nicht nur die Betroffenen, sondern auch die ihnen unzumutbaren Inhalte pathologisiert. Wie jedoch sollen Menschen in einer von Konflikten aller Art durchzogenen Welt handlungsfähig werden, wenn ihnen nicht einmal die medienkommunikative Konfrontation mit den daraus hervortretenden Brutalitäten zugemutet werden kann? Wie lernen AktivistInnen, mit der Ohnmacht umzugehen, die sie erleiden, wenn sie bei einem Akt zivilen Ungehorsams von der Polizei auf schmerzhafte Weise traktiert werden, sich der Maßnahme jedoch nicht entziehen dürfen, weil ihnen dies als Widerstand gegen die Staatsgewalt ausgelegt und mit einer möglichen Haftstrafe sanktioniert werden kann?

Die Auseinandersetzung mit dem staatlichen Gewaltmonopol kann so traumatisierend sein wie die Überwältigung durch einen Vergewaltiger, und niemand, dem so etwas nicht angetan wurde, kann von sich behaupten, eine solche Gewalterfahrung schadlos zu überstehen. So kann eine Triggerwarnung durchaus berechtigt sein, selbst wenn sie nur das Sprechen über Gewalt oder die bildhafte Repräsentation eines Gewaltaktes betrifft.

Zugleich bleibt zu fragen, wie mit Gewalterfahrungen auf eine Weise umgegangen werden kann, die dem Erlittenen nicht noch mehr traumatisierende Wirkung gibt, sondern zu seiner Überwindung beiträgt. Ein positives Verhältnis zur eigenen Streitbarkeit und das Fassen von Mut, sich auch von übermächtig wirkenden Gegnern nicht einschüchtern zu lassen, sollte als selbstbestimmte Möglichkeit des Umgangs damit nicht gänzlich außer Betracht gelassen werden. Jegliche Beunruhigung von vornherein zu vermeiden und das Recht auf Nichtwissen auf eine Weise zu beanspruchen, die das kognitive Umfeld in eine klinisch sterile Filterblase verwandelt, während im Unterhaltungszirkus rundherum Szenen massiver Gewalt und sozialer Erniedrigung allgegenwärtig sind, können sich nur sozial privilegierte Menschen leisten.

In einer Welt nicht nur zu überleben, sondern zu leben, deren gesellschaftliche Widersprüche in Form von Konkurrenz, Unterwerfung und Erniedrigung sozial feindselige Gestalt annehmen, läßt dem Traum von friedlicher Harmonie und natürlicher Idylle wenig Raum. Milliarden Menschen können sich nicht einmal vorstellen, daß ein solches Leben überhaupt möglich wäre, so elementar und existenziell sind die Herausforderungen, die sie täglich zu überstehen haben. Keine Triggerwarnung schützt sie davor, von autoritären Despoten in den Knast geworfen und gefoltert zu werden, von Großgrundbesitzern vertrieben und umgebracht zu werden oder in Kriegen fast nach Belieben um Besitz und Leben gebracht zu werden. Was bleibt, ist der Kampf um eine bessere Welt, der, wie alles Leben, in engem Kontakt mit schmerzhaften Erfahrungen geführt wird, die nicht zu scheuen zur Überwindung realer Ohnmachtserfahrungen beitragen kann.


Fußnoten:

[1] https://www.facebook.com/AntifaschistischeAktionTrier/photos/a.1644611012281805/2054460341296868/?type=3&theater

[2] Die Bauern von nebenan - Das Schicksal der Downer-Kühe - SOKO Tierschutz e.V.
https://www.youtube.com/watch?v=ykVGizpn2PM

[3] KULTUR/1016: Vom Gerücht zur Falschnachricht ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1016.html

24. April 2019


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