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KULTUR/1049: Hanau - Selbstkritik weit abgeschlagen ... (SB)



Wenn man mich fragt, woher ich komme, sage ich immer: Ich bin gebürtiger Kreuzberger, aufgewachsen in Neukölln, also habe ich einen Kreuzberger Migrationshintergrund.
Ferat Kocak im Gespräch mit dem Schattenblick [1]

Alle bekennen sich nun zur politischen Mitte, da kann man nichts falsch machen. Selbst PolitikerInnen der Linkspartei sind auf den Zug in den sicheren Hafen dieses politisch vermeintlich neutralen Ortes gesprungen. Ganz egal, ob ein Bundesinnenminister Horst Seehofer 2015 bei der "Flüchtlingskrise" den rhetorisch abwehrstarken Heimatschützer gibt oder bei der Aufarbeitung des Anschlags von München 2016, bei dem neun Menschen ermordet wurden und dessen rechtsradikaler Hintergrund lange unterschlagen wurde, Terroristen wie den Täter David Sonboly als "frustrierte Menschen" verharmlost, ganz egal, ob Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier heute noch beteuert, nach dem NSU-Anschlag auf Halit Yozgat in Kassel 2006 als für den Landesverfassungsschutz zuständiger Innenminister korrekt gehandelt zu haben, als er die Vernehmung von V-Leuten durch die Polizei nach dem Mord verhinderte, obwohl ein rechtsradikaler V-Mann von dem verdächtigen Verfassungsschutzbeamten Andreas Temme geführt wurde, um nur zwei Beispiele von vielen zu nennen, heute stehen sie ein für eine stramm gegen Rechtsradikale gerichtete Politik.

Schon aus der Perspektive der sogenannten Wiedervereinigung 1990, als die im Wettstreit der Systeme siegreichen PolitikerInnen der BRD eine strahlende Zukunft von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie verhießen, steht die politische Mitte heute so weit rechts, daß ihre politische Topographie dringend auf die extremismusideologische Abtrennung der jeweiligen Ränder angewiesen ist. Nun werden die Scheuklappen erst recht nicht abgesetzt, ansonsten könnte man etwas über die eigenen Versäumnisse bei der Achtung demokratische Praktiken und der politischen Nähe zu ausgemachten Verächtern der Menschenrechte in Erfahrung bringen. Kein Wunder, daß kaum jemand daran erinnert, daß die Bundesregierung in Nordsyrien die massenhafte Vertreibung der dort seit Jahrhunderten lebenden kurdischen Bevölkerung durch das Erdogan-Regime unterstützt [2], das machte sich gegenüber den kurdischen Opfern von Hanau nicht so gut.

In der politischen Mitte ist es so eng geworden, daß man sich auf die Füße tritt, um ja nicht an den Rändern abzustürzen. Jetzt bloß nicht daran erinnert werden, daß man gerne mit der AfD gekungelt, Herrenwitze über das Reproduktionsverhalten außereuropäischer Kulturen gerissen und sich über schwer auszusprechende Namen von Hauptstädten afrikanischer Staaten lustig gemacht hat. Der Schwur, nun endlich gegen Rassismus vorzugehen, wird in Verhaltensauflagen umgemünzt und mit dem gleichen normativen Druck zur Anwendung gebracht, mit dem zuvor auf die Verwendung rassistisch konnotierter Begriffe insistiert wurde.

Die mit sozialer Ächtung durchgesetzten Normen antirassistischer Sprache waren stets Steilvorlagen für die Neue Rechte, die sich gerne als durch angeblich linke Defintionsmacht verfolgte Unschuld inszeniert. Der dabei von ihnen okkupierte Begriff der Political Correctness, publizistisch markiert durch die vielbesuchte islamfeindliche Webseite Politically Incorrect (PI-News), steht für den Vorwurf, nicht einmal mehr sagen zu dürfen, was man denkt, wenn dort etwa nach dem terroristischen Massenmord Breiviks 2011 erklärt wird "Multikulturalismus ist Völkermord wie der Holocaust, nur subtiler" [3]. Tatsächlich dürfen Rechtsradikale sich außerhalb des für alle BürgerInnen geltenden Schutzes des Persönlichkeitsrechtes über fast alles ungestraft äußern. Einschlägig verboten sind lediglich Aufrufe zur Gewalt, die Leugnung des Holocausts und die Verherrlichung des Nationalsozialismus.

Eine Ausweitung des Strafrechtes wäre denn auch Wasser auf die Mühlen einer staatsautoritären Rechten, die sich im Widerstand gegen die Bundesrepublik wähnt und nach der von ihr angestrebten Machtübernahme selbstverständlich mit weit schlimmeren Mitteln gegen die antifaschistische Opposition vorginge. Zudem läge das auf der gleichen Linie staatsautoritärer Ermächtigung, die sich beispielsweise in der Verschärfung der Polizeigesetze der Länder und in der geplanten Ausweitung möglicher Versammlungsverbote durch die Bundespolizei ausdrückt. Gemeint sind wir alle, das trifft auf staatliche Maßnahmen gegen links allemal zu, die, wie in der Geschichte der Bundesrepublik vom Parteiverbot der KPD bis zum Verbot der Kommunikationsplattform Indymedia linksunten immer wieder vorgeführt, gerne mit dem Argument legitimiert werden, daß mit vergleichbaren Mitteln auch gegen rechtsradikale Organisationen vorgegangen wird.

Der sogenannte Alltagsrassismus, der das vermeintlich unbewußte Reproduzieren rassistischer Klischees meint, unterscheidet sich vom absichtsvollen Rassismus der extremen Rechten nur darin, daß keine mörderischen Konsequenzen in Erwägung gezogen werden. Gemeinsam ist beiden Ausdrucksformen verächtlichen Umgangs mit anderen Menschen, daß nicht weiter darüber nachgedacht werden soll, wie es überhaupt dazu kommt, daß von Rassismus betroffene Menschen erst protestieren müssen, um überhaupt in ihrer Diskriminierung wahrgenommen zu werden. Wieso müssen sich Menschen nichtweißer Hautfarbe erklären, während Biodeutsche selbstverständlich als BürgerInnen dieses Landes durchgehen? Wieso gelten die Eltern bilingual in Deutsch plus Arabisch oder Türkisch erzogener Kinder als Integrationsverweigerer im Unterschied zu Eltern, deren Kinder bilingual auf deutsch und englisch aufwachsen? Wieso wird bei den Namen türkischer oder afrikanischer BürgerInnen häufig angemerkt, daß sie ja ganz und gar nicht deutsch klingen?

Die Reihe der Beispiele ließe sich fast endlos erweitern, aber Herkunftsdeutsche fühlen sich ungerecht behandelt oder gar diskriminiert, wenn sie auf den eigenen Rassismus hingewiesen werden. Die nichtvorhandene Bereitschaft, etwas über die ihn bedingenden Gewaltverhältnisse erfahren zu wollen, ist praktisch endemisch und keineswegs bloß in fauler Ignoranz oder einem aggressiven Grundverhältnis zu von der eigenen Norm abweichenden Lebensentwürfen und Verhaltensweisen verankert. Sie ist begründet im Erhalt von Privilegien, die zu schützen im ersten Schritt erfordert, sie nicht als solche wahrnehmen zu müssen.


Neokolonialismus und Rassismus - zwei Seiten eines Gewaltverhältnisses

Wer ertrinkt am Ende der entbehrungsreichen Flucht aus politisch wie ökologisch lebensfeindlich gewordenen Regionen im Mittelmeer, wer fliegt mit allem Komfort auf dem Weg zum Urlaubsziel über sie hinweg? Wer genießt in dem tourismusindustriell mit allen Finessen ausgestatteten und zugleich von den Problemen des umliegenden Landes hermetisch abgeschotteten Resort das Leben, wer kämpft nur wenige Kilometer davon entfernt gegen die tödlichen Folgen massiver Verarmung? Wer verdingt sich auf der Sojaplantage für einen Hungerlohn und erleidet in der Hitze körperliche Schäden, wer verzehrt das mit diesem Pflanzeiweiß gefütterte Rind im stilvollen Ambiente eines Luxusrestaurantes? Wer verkürzt das eigene Leben durch krankmachende Luft und auszehrende Arbeit in Minen westlicher Bergbaukonzerne, wer amüsiert sich mit dem Smartphone, das es ohne die dort abgebauten Mineralien nicht gäbe?

Neokolonialistische Gewaltverhältnisse verlaufen nicht nur geographisch in eine Richtung, sie sind auch national, ethnisch, geschlechtlich und klassengesellschaftlich eindeutig markiert. Wer auf dieser Welt über die weiße Hautfarbe verfügt, männlichen Geschlechtes und heterosexuell orientiert ist, über die Staatsbürgerschaft eines westeuropäischen oder nordamerikanischen Landes verfügt, Eltern von gehobenem Sozialstatus hat und keine ökonomische Not erleidet, hat die Trumpfkarte gezogen. Für wen dies nicht gilt, erleidet zum Teil mehrere Unterdrückungsverhältnisse. Die Komplexität dieser bis in soziale Bewegungen hineinreichenden Gewaltverhältnisse [4] ist in die Forderung gemündet, das jeweilige politische Ziel intersektionell einzubinden. Klassen- und identitätspolitische Konflikte sollen nicht mehr in einem einander ausschließenden, sondern einander ergänzenden und vervollständigenden Verhältnis verstanden werden, so der derzeitige, von vielen insbesondere jüngeren AktivistInnen vertretene Stand der Diskussion, wie am besten mit der Vielfalt erlebter und erkannter Gewaltverhältnisse umzugehen sei.

Sich mit derartigen Fragen nicht befassen zu wollen, weil man es als InhaberIn eines Maximums an privilegierten Attributen nicht nötig hat oder antirassistische und antidiskriminierende Politik auf ein parteipolitisches Machtmittel reduziert, ist auch in der vielberufenen politischen Mitte keine Seltenheit. Ein wesentlicher Grund dafür, lieber zum Wundpflaster strafrechtlicher Verschärfungen zu greifen, die auch noch der politischen Karriere nützen, und sich im Pathos vollmundiger Appelle zu üben, die vergessen sind noch bevor die dazu vergossenen Krokodilstränen verdunsten, liegt in den vielen Vorteilen, die die neokolonialistische Politik Deutschlands und der EU mit sich bringen. Sich hingegen mit dem Problem rassistischer, antisemitischer und sexistischer Menschenverachtung auf fundamentale Weise auseinanderzusetzen bringt nur Schwierigkeiten mit sich. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe, durch die die Frage der europäischen Vorteilsnahme gegenüber dem Globalen Süden neu aufgeworfen wurde. Die dabei sichtbar gewordene Bringschuld würde zum Beispiel erfordern, die administrative Flüchtlingsabwehr einzustellen und den Menschen, die von den Folgen der eigenen fossil befeuerten Entwicklung betroffen sind, Zuflucht zu bieten.

Wer will schon so weit gehen, in der Bewältigung der Gewalt zwischen Menschen liebgewordene Privilegien und angenehme Konsummöglichkeiten preiszugeben? Ein eher symbolpolitischer Antirassismus, der niemandem wirklich wehtut und den potentiellen Betroffenen rechtsradikaler Aggression zumindest das Gefühl gibt, Rückhalt zu haben, steht auf dem ziemlich brüchigen Boden der in inhaltlicher Fundierung letztlich frei schwebenden politischen Mitte. Die im Gedenken an die Opfer der NS-Diktatur vielgelobten Beispiele für den Mut, verfolgte JüdInnen zu verstecken oder den Befehl zum Massaker zu verweigern, erweisen sich dann als haltbar, wenn es eng und unangenehm wird, weil der neue Faschismus auch die eigene Existenz bedroht. Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen wäre schon viel getan, wenn die Ursachen, Artikulationen und Auswirkungen rassistischer, antisemitischer und sexistischer Gewalt konsequent ergründet und ihnen auf jeder Ebene und in jeder Form entgegengetreten wird.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0471.html

[2] https://www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Merkels-zivilisatorischer-Tabubruch-4645780.html

[3] https://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2011/07/27/pi-news-der-hassblog-der-rechtspopulisten_6714

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1046.html

22. Februar 2020


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