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KULTUR/1055: Pandemiegefährdung - wider besseren Wissens ... (SB)



Was es zuerst zu verstehen gilt ist, daß die Bedrohungen, mit denen wir in Zukunft immer wieder konfrontiert werden, bereits existieren; sie zirkulieren in diesem Augenblick durch Wildtiere. Stellen Sie sich das als virale dunkle Materie vor. Ein großer Pool von Viren ist unterwegs und wir lernen sie nicht kennen, bis es zu einem Überschwappen kommt und Menschen krank werden.
Dennis Carroll im Interview mit dem Wissenschaftsmagazin Nautilus [1]

Im Deutschlandfunk bestätigt der Virologe Dennis Carroll, der als Leiter eines Präventionsprogramms der US-Regierung den Ausbruch von Pandemien erforschte, das das Eintreffen eines solchen Ereignisses von WissenschaftlerInnen seit langem erwartet wurde. Er erklärt den Ausbruch dieser und früherer Pandemien mit der expansiven Produktionsweise agrarischer und extraktivistischer Industrien, durch die der Übergang von Viren, die in manchen Wildtieren endemisch sind, auf sogenanntes Nutzvieh und Menschen sehr erleichtert werde.

Von den etwa 1,67 Millionen noch zu identifizierenden Virusarten, deren Zahl aufgrund der Rate bislang entdeckter Viren hochgerechnet wurde, wiesen zwischen 631.000 und 827.000 Viren zoonotische Eigenschaften auf, d.h. sie sind in der Lage, Menschen auf allerdings ganz verschiedene, zwischen krankmachend, indifferent und förderlich oszillierende Art und Weise zu infizieren. Die als ansteckend bekannten Arten belaufen sich auf 263 Virustypen aus 25 der 111 bisher entdeckten Virusfamilien, was Carroll zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß sich epidemische Ereignisse wie das jetzige in Zukunft aufgrund immer günstiger werdender Verbreitungsbedingungen immer häufiger wiederholen werden.

Da Viren Bioorganismen besiedeln, um sich über ihren Stoffwechsel am Leben zu erhalten und zu verbreiten, fänden sich viele dieser Arten in wildlebenden Säugetieren und Vögeln. Die Zunahme der Weltbevölkerung um 6 Milliarden Menschen innerhalb von hundert Jahren und die damit einhergehende Ausweitung von Landwirtschaft, Bergbau und anderen Formen der Kultivierung und Zerstörung natürlicher Habitate habe dazu geführt, daß die Zahl der Kontakte mit Tieren, die möglicherweise gefährliche Viren tragen, drastisch zugenommen hat. Carroll macht die zivilisatorische Veränderung der Landnutzung maßgeblich dafür verantwortlich, daß ansteckende Viren entweder im direkten Kontakt oder via sogenannter Nutztiere die Artenschranke überwinden und auf den menschlichen Wirt übergehen.

Der Wissenschaftler, dessen Regierungsprogramm zur Seuchenprävention letztes Jahr dem Rotstift der Trump-Administration zum Opfer fiel und der heute mit dem Global Virome Project (GVP) versucht, an die dort erarbeiteten Erkenntnisse anzuknüpfen, legt im Deutschlandfunk das Hauptgewicht einer Gegenstrategie auf die weltweite Veränderung der Ernährungsweise:

Die wichtigste Ursache für das Übergreifen von Viren liegt in der Transformation von Ökosystemen durch eine Änderung der Landnutzung. Deren wichtigster Faktor ist wiederum die Rinderhaltung und -produktion. Hinzu kommt die Herstellung von Nahrungsmitteln für diese Rinder. Eine zentrale Herausforderung ist, die Art und Weise, wie wir unseren Proteinbedarf decken, zu überdenken. In dieser Hinsicht glauben wir, dass im Laufe des 21. Jahrhunderts Afrika südlich der Sahara und Südasien immer stärker in den Fokus rücken werden, auch wegen des Bevölkerungswachstums dort. Wenn wir unseren Proteinbedarf weiter auf die bisherige Weise decken - und hier spielt Rindfleisch eine große Rolle - wird die Gefahr des Virenübergreifens rasant wachsen. [2]

Carroll bezeichnet sich als Internationalist. Alle Menschen seien Teil des gleichen Ökosystems und daher gemeinsam dafür verantwortlich, Bedrohungen dieser Art einzudämmen, anstatt die Krisenbewältigung auf miteinander konkurrierende Weise in Nationalstaaten zu organisieren. Seine Empfehlung ist nicht malthusianischer Art, also auf eine drastische Reduzierung der Weltbevölkerung gerichtet, die üblicherweise diejenigen am härtesten trifft, die am wenigsten am gigantischen Ressourcenverbrauch beteiligt sind. Neben einer Veränderung der Landnutzung durch Bevorzugung pflanzlicher Proteine in der Ernährung vertritt er zusammen mit einigen namhaften WissenschaftlerInnen den offensiven Ansatz der Erforschung potentiell gefährlicher Viren und der möglichst frühzeitigen Eindämmung des Übergreifens auf den Menschen. Dementsprechend kritisch beurteilt er die nachlässigen Reaktionen seiner Regierung in den USA wie die ebenfalls zu spät ergriffenen und alles andere als kooperativen Maßnahmen in der EU.


Mit Weitblick gegen die Wand fahren

Die nun eingetretene Pandemie stand auch in der Bundesrepublik als potentielle Bedrohung im Raum, wie das 2012 durchgespielte Katastrophenschutzszenario "Pandemie durch Virus 'Modi-SARS'" belegt:

Das Szenario beschreibt ein außergewöhnliches Seuchengeschehen, das auf der Verbreitung eines neuartigen Erregers basiert. Hierfür wurde der zwar hypothetische, jedoch mit realistischen Eigenschaften versehene Erreger "Modi-SARS" zugrunde gelegt. Die Wahl eines SARSähnlichen Virus erfolgte u. a. vor dem Hintergrund, dass die natürliche Variante 2003 sehr unterschiedliche Gesundheitssysteme schnell an ihre Grenzen gebracht hat. Die Vergangenheit hat bereits gezeigt, dass Erreger mit neuartigen Eigenschaften, die ein schwerwiegendes Seuchenereignis auslösen, plötzlich auftreten können (z. B. SARS-Coronavirus (CoV), H5N1-Influenzavirus, Chikungunya-Virus, HIV). Unter Verwendung vereinfachter Annahmen wurde für dieses Modi-SARS-Virus der hypothetische Verlauf einer Pandemie in Deutschland modelliert, welcher sowohl bundesrelevant als auch plausibel ist. [3]

Wie der ab Seite 55 des "Berichtes zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012" detailliert ausgearbeitete Entwurf eines pandemischen Ernstfalls in der Bundesrepublik zeigt, herrscht in den zuständigen Stäben und Behörden der Bundesregierung wie der Landesregierungen kein Mangel an Information über den möglichen Verlauf einer solchen Katastrophe und ihrer sozialen wie administrativen Implikationen. Um so unverständlicher erscheint die zögerliche Reaktion der zuständigen MinisterInnen auf die in China seit dem 23. Januar über die Stadt Wuhan verhängte Quarantäne. An eben diesem Tag verglich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der ARD-Tagesschau [4] die durch den neuartigen Coronavirus hervorgerufene Lungenerkrankung mit der alljährlichen Grippe, die um diese Zeit in Deutschland um sich greift, und erklärte, daß das Infektionsgeschehen bei der neuen Lungenkrankheit im Vergleich dazu milder verlaufe.

Erst fast zwei Monate später wurden vergleichbare Quarantänemaßnahmen angeordnet, allerdings ohne die in China wie in Südkorea aufwendige Identifikation einzelner Infizierter, die Nachverfolgung ihrer Kontakte und eine strikte Quarantäne der betroffenen Personen für 14 Tage vorzunehmen. Die Chance, die Pandemie im Frühstadium durch die Verhinderung der Einreise aus China kommender Reisender und die konsequente Isolation bereits vorhandener Infektionscluster und -ketten auf einen kleinen Kreis Betroffener zu beschränken, wurde vertan. Die schon damals zu vernehmenden Einwände, man dürfe vor allem der Wirtschaft nicht schaden, haben dem absehbar größten Schadensfall in der Geschichte der Bundesrepublik den Weg geebnet.

Das deutsche Krisenmanagement widmet sich zwar dem intensiven Schutz sogenannter Kritischer Infrastrukturen, zu denen auch Kernbereiche von Industrie und Wirtschaft gehören, wie überhaupt im Fall von Terrorabwehr und Kriegführung nicht genug Vorkehrungen getroffen und Finanzmittel freigesetzt werden können. Der Schutz besonders verletzlicher Gruppen der Bevölkerung jedoch wird bis heute nicht besonders bemüht betrieben, wie das Übergreifen von COVID-19 auf ganze Pflegeheime belegt. In Anbetracht des vorhandenen Vorwissens und der aufwendigen Modellierungen des Katastrophenschutzes muß befürchtet werden, daß den Interessen der Menschen auch in Zukunft weniger Gültigkeit zukommt als dem Bestandsschutz staatlicher und privatwirtschaftlicher Strukturen und Institutionen.

Das praktische Verstummen des parlamentarischen Betriebes und die Einebnung aller klassengesellschaftlichen Widersprüche zugunsten eines Ethos vermeintlicher Solidarität, der schon durch die höchst unterschiedlichen Lebens- und Versorgungsbedingungen in Zeiten der Quarantäne gebrochen ist, vermittelt nicht die Zuversicht, daß aus dieser Krise Lektionen sozial gerechter und ökologisch weniger destruktiver Art gezogen werden. "Der Begriff der Solidarität hat mit dem vorläufigen Ende einer revolutionären Arbeiterbewegung seinen Kampfcharakter verloren und ist zur moralischen Tugend, zum Synonym für Unterwerfungsbereitschaft und nationalen Zusammenhalt verkommen", lautet die traurige Bilanz, die Arian Schiffer-Nasserie in einem aktuellen Beitrag [5] zu diesem so oft mißbrauchten und gegen sich selbst gewendeten Ideal sozialkämpferischen Zusammenhaltes zieht. Gerade jetzt bedarf es einer Kritikfähigkeit, die immun dagegen ist, unter die Räder des staatlichen Krisenmanagements zu geraten, das derartige Gegenpositionen zum erwünschten Konsens in einer hoffentlich hypothetisch bleibenden Zukunft sanktionieren und unterdrücken könnte.


Fußnoten:

[1] http://nautil.us/issue/83/intelligence/the-man-who-saw-the-pandemic-coming

[2] https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-forscher-hatten-so-einen-virus-schon-laenger.694.de.html?dram:article_id=473757

[3] https://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/120/1712051.pdf

[4] https://www.tagesschau.de/inland/spahn-coronavirus-101.html

[5] https://www.jungewelt.de/artikel/375718.rotlicht-solidarität.html?sstr=Rotlicht

1. April 2020


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