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KULTUR/1056: Umweltschutz - Umkehr der Absichten ... (SB)



Ohne Frage, die Einsätze könnten nicht höher sein. Auf vielerlei Weise ist die COVID-19-Pandemie und die sich daran anschließende ökonomische Depression eine Generalprobe für die Zukunft. Von jetzt an wird jede Krise eindeutiger und schwerwiegender als die letzte sein. Die neue Normalität sind aufeinander aufbauende und multidimensionale Krisen, die alle zur gleichen Zeit hervortreten. Die Art und Weise, in der wir dieser Krise kollektiv entsprechen, wird dafür bestimmend sein, welche Antworten wir auf die anstehenden großdimensionierten Krisen der Zukunft haben werden, zu denen nicht zuletzt die des Klimawandels gehört. Bis jetzt jedenfalls versagen wir elendiglich.
Vincent Emanuele - The New Normal: Cascading and Multilayered Crises [1]

Klare Luft, die den Duft des Frühlings verströmt, ein blauer Himmel ohne Kondensstreifen, kaum Verkehrsstreß, ein Leben in menschenfreundlichem Tempo - für Staat und Kapital ein so bald wie möglich zu beseitigender Mißstand. Lieber heute als gestern soll die nurmehr im Spargang laufende Große Maschine industrieller Produktion und warenförmiger Zirkulation wieder hochgeschaltet und die Ruhe, die das Land befallen hat, in den Lärm alltäglicher Betriebsamkeit zurückversetzt werden. "Die Wirtschaft" erzwingt das Ende einer Pause, in der sich gut darüber nachdenken läßt, warum der Zustand gebremsten Wachstums nicht zur neuen Normalität werden kann. Natürlich - die Menschen müssen Geld verdienen, um ihre vielen Fixkosten zu bezahlen und sich zur Belohnung der dabei erlittenen Entbehrungen hin und wieder ein Auto oder ein Home Entertainment Center leisten, eine Flugreise oder Kreuzfahrt in den Süden antreten zu können. Sie sollen nicht danach gefragt werden, ob es überhaupt in ihrem Sinne ist, Lebenszeit und -kraft für einen Lohn zu verkaufen, der stets den Verlust dessen markiert, was ihnen mit einer nicht an Tauschwert und Konkurrenz gebundenen Existenz längst genommen wurde.

War da nicht etwas vor der Coronapandemie, was bereits wie ein Damoklesschwert über dem Planeten hing? Ach ja, die Klimakrise. Nie war sie so irrelevant wie heute, da die Coronapandemie das Leben im Griff unüberschaubarer Gefahren hält und soziales Miteinander auf den Urzustand kreatürlicher Feindseligkeit zurückwirft. Vergessen die Aufregung über SchülerInnen, die lieber auf die Demo als zum Unterricht gingen, verhallt die Warnungen der WissenschaftlerInnen vor unumkehrbare Katastrophen einleitenden Kippunkten, verdorrt die Scheinblüte grünkapitalistischer Reformversprechen beim Wahlvolk. Wie ein Endzeitängste bannender Wechselbalg wurden zwei Krisenszenarien von globaler Konsequenz miteinander ausgetauscht, um unter umgekehrtem Vorzeichen jenen Handlungsnotstand zu erzeugen, dessen Dringlichkeit im Fall der Naturzerstörung nicht einleuchten wollte.

Wenn vertraute Lebensgewohnheiten öffentlich in Frage gestellt, eherne Prinzipien über Bord geworfen und allgemein akzeptierte Prioritäten auf den Kopf gestellt werden, wenn selbstverständlich gewordene Freiheiten keine Gültigkeit mehr besitzen und überschießender Massenkonsum als Glücksversprechen ausfällt, dann muß etwas wie ein Naturereignis über die Menschen gekommen sein. Wo die Klimagerechtigkeitsbewegung vergeblich versucht hat, die Langzeitperspektive einer für die meisten Menschen hierzulande immer noch abstrakten Entwicklung so greifbar zu machen, das die Zukunft jetzt geschaffen werden kann, hat der Coronavirus Tatsachen geschaffen, denen Regierungen und Bevölkerungen mit hechelnder Zunge hinterherlaufen. Mehr als notdürftiges Reagieren nach Maßgabe auf ganz andere Gefahren ausgerichteter Notstandspläne ist nicht drin. Wie sehr auch immer die mit epidemischen Bedrohungen befaßten Wissenschaften seit Jahren vor einem Ereignis wie diesem gewarnt haben, ohne daß der Vorschein katastrophaler Entwicklungen ernst genommen wurde, es bedurfte eines infektiösen Agens, um die geltendes Recht außer Kraft setzende Formel "Not kennt kein Gebot" unantastbar zu machen.

Als benötige der machiavellistische Grundsatz, daß jäh eingetretene Krisen immer Chancen zur Ermächtigung hervorbringen, der aktiven Bestätigung, werden neue Vorwände der Staatenkonkurrenz erschlossen und qualifizierte Formen administrativer Verfügungsgewalt durchgesetzt. Der permanente Notstand spätkapitalistischer Verwertungsprobleme wird pandemisch legitimiert und herrschaftstechnisch auf eine Weise produktiv gemacht, wie sonst bestenfalls in Zeiten des Krieges möglich. Während die Coronakrise im Vorschein vernichtenderer Bedrohungen zur Generalprobe optimierten Katastrophenmanagements taugt und daher nicht ganz unwillkommen ist, unterbleibt die Übersetzung auf das zuvor bestimmende Paradigma der Klimakrise fast vollständig. Weil aus dem aktuellen Regierungshandeln wichtige und entlarvende Einsichten in Gefahren hervorgehen können, die den destruktiv bewirtschafteten gesellschaftlichen Naturverhältnissen entspringen, bleibt der Spiegel sozialökologischer Befindlichkeit dunkel.

Im affirmativen Schwall des alternativlosen Wir, das keine Klassen, sondern nur noch Corona kennt, wird ungerne darüber gesprochen, daß das Beschwören humanistischer Ideale niemals irreführender war als in einer Situation, in der sich die Alternativlosigkeit kapitalistischer Wettbewerbs- und Wachstumsideologie zum zentralen Handlungsnotstand auswächst. Wie die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und 2009 zu einer kleinen Delle im ansonsten ungebrochenen Zuwachs der Freisetzung von Treibhausgasen geführt hat, um dies 2010 mit einem drastischen Anstieg der CO2-Emissionen zu überkompensieren, so soll das kurze Innehalten der Großen Maschine in den Turbo eines Aufschwunges münden, zwecks dessen Mensch und Natur noch rücksichtsloser in die Brennkammern der Arbeitsgesellschaft eingespeist werden, gilt es doch einen nie gekannten Einbruch an sogenannter Wertschöpfung wettzumachen.

Anstatt die Frage aufzuwerfen, weshalb verbrauchsintensive Mobilitätsformen wie der motorisierte Individualverkehr und die zivile Passagierluftfahrt durch milliardenschwere Staatsinterventionen "gerettet" werden sollen, wird die alchemistische Verwandlung monopolistischer Überproduktion in deutscheuropäische Hegemonie wie ein Sakrament nationaler Rettung zelebriert. Anstatt dem Zusammenhang von ökologischer Zerstörung und pandemischer Bedrohung Aufmerksamkeit zu schenken, um die agroindustrielle Produktionsweise auf kleinteiligere Einheiten und biologisch weniger zerstörerische Anbaumethoden zurückzuführen, werden neue Exportoffensiven und Absatzschlachten geplant. Anstatt das Marktsubjekt aus dem Joch fremdbestimmter Lohnarbeit zu entlassen, wird die Verdichtung der Ausbeutungsrate mit dem Nachdruck einer unerklärten Notstandsverfügung beschlossen.

Wie tief der Schock pandemischer Erschütterung auch reichen mag, das angeblich so hochentwickelte zivilisatorische und technologische Vermögen menschlicher Entwicklung erweist sich als Fantasma einer im Feuer eigener Stoffwechselprozesse vergehenden Wunschvorstellung, die das Minus dem anderen aufgelasteter Bringschuld niemals verläßt. Die nun häufiger aufgeworfene Frage, wie "wir" eigentlich leben wollen, ernstzunehmen hieße, sich auf den Nullpunkt eines Neubeginns zu besinnen. Ohne die Grundlagen der kapitalistischen Eigentumsordnung in Frage zu stellen, anstatt die Not menschlicher Bedürftigkeit zum Zwang biologischer Unausweichlichkeit zu verabsolutieren, wird sich die Praxis kollektiver und solidarischer Bewältigung nicht wiederentdecken lassen. Darauf zu verzichten, weil es sich in der Komfortzone weltweiter Ressourcenextraktion doch so bequem leben ließ, heißt womöglich, den Becher von Krieg und Genozid bis zur Neige leeren zu müssen. Wenn das aus herrschaftsstrategischer Sicht stets zu eigenmächtige und eigensinnige Individuum, vom Innovationsdruck überrollt und zum Datensatz abstrahiert, zur Räson des vergesellschafteten Notstandes gebracht wird, dann verläuft sich der Blick auf eine lebens- und liebenswertere Zukunft schon im Vorwege ihrer Erwägung im zivilgesellschaftlichen Schleier vermeintlich notgeborener Unterwerfungsforderung.

Gestern Vermummungsverbot, heute Maskenpflicht, morgen das Innere unauslotbaren Widerstandes ins Äußere normativer Sozialkontrolle gewendet - an situativen Vorwänden herrscht kein Mangel, an Wertschätzung der Vielfalt und Unberechenbarkeit des Lebens allemal. Davon betroffen sind alle Belange der Interaktion zwischen Mensch und Natur, vor allem was die Verkennung betrifft, letztere sei als Objekt menschlicher Regulation auf eine Weise verwertbar, die die tierliche Verfaßtheit allen Menschseins systematisch ausblendet. Ohne die Aufkündigung der anthropozentrischen Konstante, die der Topographie des Innen und Außen, des Eigenen und Fremden erst Gewalt verleiht, bleiben fossiler Brand, agrarische Übernutzung und soziales Elend Katalysatoren einer Destruktivität, der die letzten Möglichkeiten ihrer Aufhebung auszugehen drohen.


Fußnote:

[1] https://www.counterpunch.org/2020/04/09/the-new-normal-cascading-and-multilayered-crises/

11. April 2020


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